„Die Ermittlung“ von Peter Weiss im Kontext oder: Frankfurt am Main 1963/65
Eine Rückblende
Von Jochen Vogt
Die Stadt Frankfurt hat im Leben von Peter Weiss sicher keine so wichtige Rolle gespielt wie Potsdam und Berlin, oder Prag und Paris, und schließlich Stockholm. Aber sie hat für sein Werk und seine Wirkung doch einen Impuls geliefert, den man mit dem Altfrankfurter Goethe das „Zündkraut zu einer Revolution“ zumindest des Denkens nennen könnte – dies vielleicht weniger beim Autor selbst als bei seinem Publikum. Und für diesen Funkenschlag spielt die Stadt am Main nun doch eine bemerkenswerte Rolle, die nachfolgend ein wenig beleuchtet werden soll, wobei ich mir auch die eine oder andere Jugenderinnerung gestatte. Man wird ja heutzutage schneller zum Zeitzeugen, als es einem lieb sein kann.
Es ist üblich, die Zeit vor der Studentenbewegung von 1967/68 und der sozialliberalen Regierungszeit in der alten Bundesrepublik – also die frühen sechziger Jahre – mehr oder weniger als Verlängerung der Fünfziger, der Wirtschaftswunder- und Wiederbewaffnungszeit zu verstehen, in der die Nazivergangenheit weitgehend „beschwiegen“ wurde und im öffentlichen Leben wie in Schulen und Familien eine repressive Atmosphäre herrschte, die bisweilen noch ans Kaiserreich erinnerte. Dieses nicht ganz falsche, aber doch stereotype Bild ist auch von der kritischen Literatur der Zeit, etwa von Heinrich Böll vor- oder nachgezeichnet worden, der das Gesellschaftsbild seiner Romane und Erzählungen zumeist aus „seiner“ Region, der ehemals katholisch-preußischen Rheinprovinz schöpfte, so dass sich das Bild eines von Kanzler, Kapital und katholischer Kirche regierten „CDU-Staats“ namens Bundesrepublik Deutschland wie von selbst ergab – und sich auch bei seinen Leserinnen und Lesern, sogar „drüben“ in der DDR, festsetzte, wo man seine einschlägigen Romane wohl auch deshalb gern druckte.
Es lohnt sich allerdings durchaus, dieses Bild durch einen Seitenblick auf das nach 1945 neu gebildete und dabei zugleich älteste Bundesland Hessen und seine wirtschaftliche und kulturelle Metropole ein wenig zu differenzieren. Beide waren durch spezifische Traditionen wie auch durch die konkrete Nachkriegssituation sehr eigenständig geprägt. Das Land Hessen wurde in den 1950er und 60er Jahren überwiegend von sozialdemokratischen Politikern regiert, die im Exil oder auch im KZ überlebt hatten und nun energischer als anderswo einen demokratischen Neubeginn suchten, sich aber auch weigerten, einen schnellen Schlussstrich unter die Verbrechen der Nazizeit zu ziehen. In Frankfurt, obgleich nicht Landeshauptstadt, war dies besonders deutlich zu sehen.
Der Philosoph Jürgen Habermas, der seit 1956 als Assistent an der dortigen Universität tätig war, hat vor wenigen Jahren, inzwischen mehr als achtzigjährig, in der Dankrede für eine seiner vielen Auszeichnungen jene frühen 1960er Jahre als „die wichtigste Periode der deutschen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet und dabei ausdrücklich das damalige „Klima verdichteter Zeitgenossenschaft“ in Frankfurt und Hessen betont.
Tatsächlich war man in Frankfurt, auch als Schüler oder Student, näher am Zeitgeist als etwa im beschaulichen Marburg mit seiner Traditionsuniversität, wohin es manche von uns Abiturienten im Sommer 1963 zog. Das hatte sich auch an den Prüfungsthemen gezeigt, die wir vorher noch zu bewältigen hatten. Im Englischen schrieben wir vier Stunden lang einen Essay über die Politik des Präsidenten John F. Kennedy in der Kuba-Krise, die die Angst vor einem Dritten Weltkrieg ausgelöst hatte und erst wenige Wochen zuvor von ihm und dem Kollegen Chrustschow in Moskau beendet worden war. Da waren wir also direkt am Puls der Zeit, was nicht nur an der Kompetenz unserer jungen Lehrerin lag, sondern auch daran, dass Frankfurt zweifellos the most American city in Germany war, informelle Hauptstadt der US-Besatzungszone, zeitweiliger Sitz des United States European Command und natürlich auch der CIA, pikanterweise alle in dem monumentalen Bau, der 1931 für den Chemiekonzern IG Farben errichtet worden war, damals das viertgrößte Unternehmen der Welt, das später auch eine Fabrik in Auschwitz betrieb und bei dem man das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon-B (chem. HCN) kaufen konnte. Heute ist das IG Farben-Haus Zentrum des geisteswissenschaftlichen Campus der Frankfurter Universität, die nach wie vor den Namen Goethes trägt.
Ähnlich anspruchsvoll wie unser Englischthema war der sechsstündige Deutsch-Aufsatz, auch wenn es da nur um sechs Gedichtzeilen ging: „Ich sitze am Straßenhang/ Der Fahrer wechselt das Rad./ Ich bin nicht gern, wo ich herkomme./ Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre/ Warum sehe ich den Radwechsel/ Mit Ungeduld?“
Bemerkenswerter als unsere Interpretationsversuche, die entweder technisch (es gab im Westen ja schon schlauchlose Reifen) oder existentialistisch orientiert waren (schließlich hatten wir Camus gelesen!), ja geradezu erstaunlich war das Thema selbst, zumal die späte Lyrik von Bertolt Brecht im Westen noch kaum greifbar war. Auch wurden in der Bundesrepublik seine Theaterstücke seit 1961 (wieder einmal) boykottiert, als Strafe dafür, dass jemand in Berlin eine Mauer gebaut hatte. Das Frankfurter Schauspielhaus, wo Brechts Freund Harry Buckwitz Intendant war (der ja schon 1949 die „Mutter Courage“ auf die Zürcher Bretter gebracht hatte), hat allerdings den Boykott selber boykottiert und so sahen wir in voller Klassenstärke Brechts Leben des Galilei mit dem großartigen Hanns Dieter Zeidler, wo das Verhältnis von Macht und Wissenschaft – und indirekt sogar die Frage der Atombewaffnung diskutiert wurde. Das hatte viele von uns freilich so erschöpft, dass sie am nächsten Morgen nicht zum Unterricht erscheinen konnten.
Der kulturelle Aufreger im Sommer ‘63 war jedoch ein anderes Theaterstück. Ein bis dahin unbekannter Mitarbeiter des Bertelsmann Leserings in Gütersloh namens Rolf Hochhuth hatte im Urlaub ein Theaterstück verfasst, in dem er – gestützt auf historische Akten – der römisch-katholischen Kirche, genauer dem verstorbenen Papst Pius XII., einem erfahrenen Deutschlandkenner, persönliche Mitwisserschaft und amtliches Schweigen, also letztlich eine Mitschuld an Hitlers Vernichtungspolitik gegen die europäischen Juden vorwarf; dies betraf besonders dessen Zeit als Kardinalstaatssekretär, quasi Außenminister des Vatikans nach 1933. Dass Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth ein schlechtes Theaterstück war und ist, hat den Streit um diesen Vorwurf nicht verhindert. Der amtierende Papst Paul VI. kanzelte ihn als „unverschämte Fabeleien“ ab, während die Historiker ihn im Kern bestätigten. Die Uraufführung hatte ein Veteran des politischen Theaters vor 1933, Erwin Piscator, heimlich vorbereitet und im Februar 1963 in Westberlin auf die Bretter gebracht. Ihr folgten heftigste Konflikte zwischen Kritikern und Verteidigern des Papstes bzw. der katholischen Kirche, es gab scharfe Debatten in der Presse wie in Parlamenten, Demonstrationen in und Krawalle vor den Theatern. In Frankfurt (so erinnere ich mich) schwankte das gesamte Publikum so wie wir zwischen Betroffenheit und Verlegenheit: Durfte man nun den üblichen Beifall klatschen oder – angesichts dieses Themas – lieber nicht? „Der Vorhang zu und alle Fragen offen“, hätte Brecht da wohl gesagt und wäre mit Freund Buckwitz zufrieden gewesen.
Zum ersten Mal seit den unmittelbaren Nachkriegsjahren ging es hier nun wieder um „die Schuldfrage“, die „Bewältigung der Vergangenheit“, wie man damals sagte, in heutiger Ausdrucksweise also um „Erinnerungs- oder Trauerarbeit“. Um die monströsen Verbrechen, die wir heute noch mit symbolischen Hilfsausdrücken wie „Holocaust“ oder „Shoah“ oder mit dem generalisierenden Ortsnamen „Auschwitz“ benennen, wenn wir nicht (was sehr viel prägnanter wäre) wie Hannah Arendt in ihrem ebenso berühmten wie umstrittenen Buch von 1964 über den Eichmann-Prozess in Israel vom „staatlich organisierten Verwaltungsmassenmord“ sprechen wollen.
Immerhin verstärkte Hochhuths Stellvertreter auf seine effekthascherische Weise auch die sehr viel differenzierteren Argumente, die der Philosoph Adorno seit den späten 1950er Jahren unter Titeln wie Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit oder Erziehung nach Auschwitz im Hessischen Rundfunk vorgetragen und die eben jetzt, also 1963, unter dem Titel Eingriffe in der bei jungen Leuten überaus populären edition suhrkamp publiziert hatte: Nach wie vor sind sie wichtig und gut zu lesen als Begründungsversuche einer nach- und nichtfaschistischen deutschen Identität.
Was gab es sonst noch? Ein junger Mann, Jurist von Hause aus und ebenfalls an der Universität – im weiteren Umkreis Adornos – tätig, hatte schon 1962 unter dem Titel Lebensläufe einige protokollartige Erzählungen publiziert, von denen eine, irritierender Weise „Ein Liebesversuch“ überschrieben, ins dunkelste Herz von Auschwitz führt. Die Literaturkritik ignorierte das Büchlein weithin – mit einer oder zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Aufs Höchste gelobt wurde es jetzt seltsamerweise von Friedrich Sieburg, dem Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ehemals nicht nur aus Opportunismus ein Sympathisant der Nationalsozialisten. (Ein zweiter Bewunderer Kluges, der sich freilich nur in privaten Briefen äußerte, war Sieburgs ehemaliger Kollege Siegfried Kracauer von der Frankfurter Zeitung, der sich nach 1933 als jüdischer und „linker“ Flüchtling notdürftig in Paris durchschlug, während Sieburg dort noch einige Zeit als Korrespondent des Blattes residierte.) Dass Alexander Kluge uns seither mit einer nicht enden wollenden Flut von erzählenden und theoretischen Büchern, Filmen und Fernsehproduktionen beglückt, ist bekannt; im Jahr 2012 – also nach genau 50 Jahren – nennt er einen stattlichen Prosaband anspielungsreich Neue Lebensläufe.
Zurück ins Jahr 1963. In Köln, um dies nicht zu vergessen, war ein neuer Roman von Heinrich Böll erschienen, Ansichten eines Clowns, seine „Generalabrechnung mit dem CDU-Staat“, in der auch die anhaltende Verdrängung und Abwehr der schuldhaften Vergangenheit angeprangert wurde. Er provozierte langanhaltende und kontroverse Diskussionen innerhalb der Literaturkritik, in der politischen Öffentlichkeit, aber auch in vielen Familien und nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen. Scheinbar unerschütterlich feste Positionen und Meinungen kamen allmählich in Bewegung. Während dessen war im Oktober im nahen Bonn Bundeskanzler Adenauer zurückgetreten, 86 Jahre alt und nun doch zermürbt von Machtkämpfen in seiner CDU und mit dem Koalitionspartner FDP, und den endlosen Quertreibereien aus der CSU. Vorher schon hatte die sogenannte SPIEGEL-Affäre von 1962 die Autorität der Regierung ramponiert, daran konnten auch Adenauers historische Verdienste, die Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen aus Russland, die Aussöhnung mit Frankreich und die dauerhafte Westbindung der Bundesrepublik, nichts mehr ändern. Eine tektonische Verschiebung der Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zeichnete sich ab.
Jetzt aber, am 20. Dezember 1963, begann in Frankfurt, und zwar im historischen Rathaus am Römerberg, auf dem einstmals deutsche Kaiser gekrönt wurden, das Strafverfahren „gegen Mulka und andere“: der erste Prozess, in dem die bundesdeutsche Justiz versuchte, die Massenmorde und sonstige Verbrechen in den Konzentrationslagern zumindest exemplarisch zu verhandeln. Angeklagt waren 22 SS-Männer, die in Auschwitz ganz verschiedene Funktionen innehatten; der Kommandant Rudolf Höß war bereits 1947 in Warschau von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und symbolträchtig im KZ Auschwitz selbst gehängt worden. Der Frankfurter Prozess nun wurde zu einem Markstein in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands – weniger durch die teilweise sehr milden Urteile, die im August 1965 verkündet wurden, als vielmehr durch die Öffentlichkeit der Verhandlung selbst, durch die Aussagen von Zeugen und Angeklagten sowie die intensive Berichterstattung der Presse, aber auch durch die begleitenden Gutachten deutscher und internationaler Historiker, die wichtige Impulse für das lieferten, was erst sehr viel später „Holocaustforschung“ genannt wurde.
Vorbereitet und gegen starke Widerstände in der Justiz wie in der Bonner Politik durchgesetzt wurde dieser sogenannte „Große Auschwitz-Prozess“ vom Hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer, einem „Gründervater“ der Bundesrepublik, der erst in den allerletzten Jahren durch Biographien, Dokumentationen und Spielfilme ins kulturelle Gedächtnis zurückgeholt und angemessen gewürdigt wird. Der Bürgersohn aus Stuttgart war ein linker Sozialdemokrat, der als junger Staatsanwalt ins skandinavische Exil fliehen musste, wo er auch mit Willy Brandt und Herbert Wehner zusammentraf. Nach seiner Rückkehr machte er es sich zur Aufgabe, die staatlich verordneten Verbrechen der Nazizeit strafrechtlich aufzudecken und zu sühnen.
Das öffentliche Interesse am Prozess selbst war beachtlich, die Reaktionen aber sehr unterschiedlich. Ich greife zwei interessante, aber sehr unterschiedliche Beispiele heraus. Die junge Schriftstellerin, die als Mitglied einer FDJ-Delegation im März 1964 aus Berlin angereist war, hatte im linksalternativen Club Voltaire vorgelesen, der zwei Jahre zuvor gegründet worden war (und wo in den kommenden Jahren Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit das große Wort führen würden). Sie hatte sich für die pazifistischen Ostermärsche interessiert und allerlei Eindrücke notiert: Deprimiert war sie, verständlicherweise, nach dem Besuch von Ingmar Bergmanns Film Das Schweigen – aber doch auch erleichtert, von derartigen westlichen Sinnkrisen nicht betroffen zu sein. Hochhuths Stellvertreter, immer noch auf dem Spielplan, formulierte mit der Mitschuld der Großindustrie am Komplex Auschwitz für sie nur eine Selbstverständlichkeit. Ähnlich beim Prozessbesuch im Gallus-Haus, wo Christa Wolf monierte, „das Gericht“ suche den „Sachverständigen Professor Kuczynski“ aus Ostberlin „der Befangenheit zu bezichtigen“, und wo sie die „Vorzüge der Sozialistischen Gesellschaft“ auch „darin sieht, dass wir als Bürger der DDR in diesem Auschwitzprozeß mit anderen Gefühlen sitzen konnten als unsere jungen Begleiter neben uns, Bürger der Bundesrepublik“, die sich offensichtlich nicht mit ihrem Staat identifizieren können oder wollen (oder müssen!). So verlängern all diese Eindrücke nur die alte These der Komintern, dass der Kapitalismus direkt zum Faschismus führe, ins Zeitalter des industriellen Massenmords. Diese kurzen Bemerkungen von Christa Wolf, immerhin schon Nationalpreisträgerin und Kandidatin des ZK, in ihrem Beitrag zur 2. Bitterfelder Konferenz vorgetragen, sind durchweg von Abgrenzung bestimmt und zeigen allenfalls Spuren von Ambivalenz. Erst zehn Jahre später, in ihrem Roman Kindheitsmuster vermochte sie die Zumutung einer Selbsterkundung, auch der „schauerlichen Geheimnisse“ in der Vergangenheit, die damals schon von Jugendlichen in Frankfurt ausging, auch für sich selbst und ihren Staat anzuerkennen.
Unter den Presseleuten im Gallus-Haus, einem Kulturzentrum, in das man wegen des großen Andrangs umgezogen war, war nun bekanntlich auch Peter Weiss, geboren 1916 in Nowawes bei Potsdam, Sohn eines jüdischen Vaters, 1934 emigriert, seit 1946 schwedischer Bürger. Nach zwei autobiographischen Romanen in deutscher Sprache feierte er 1964, also während des Prozesses, mit seinem ersten Drama, das einen ellenlangen Titel hatte, wahre Triumphe auf Bühnen im In- und Ausland. Und gleichzeitig bereitete er eine Provokation nicht nur des Theaters, sondern auch der politischen Öffentlichkeit vor, wie er in einem Interview erläutert: „Seit einem Jahr habe ich sowohl den Auschwitz-Prozeß in Frankfurt besucht als auch so ziemlich alles gelesen, was darüber geschrieben wurde. Ich habe das Lager besucht und studiert und dieses Material gesammelt, es zu ganz bestimmten Komplexen geordnet. Das Lager Auschwitz oder welches Lager auch immer auf der Bühne darzustellen, ist eine Unmöglichkeit. Ja eine Vermessenheit, es überhaupt nur zu versuchen […] In diesem Stück wird ständig nur von unserer Gegenwart aus der Blick geworfen auf diese Vergangenheit und diese Vorgänge. Die Maschinerie des Lagers, diese Todesfabrik wird ganz genau aufgezeichnet wie bei einer Planzeichnung.“
Der Dramatiker Weiss präsentiert sein Stück Die Ermittlung als Oratorium in 11 Gesängen, das heißt als ein rollenteilig vorgetragenes „dramatisches Gedicht“, das auf szenische Mittel und Effekte wie Bühnenbild, Kostüme, Bewegung fast völlig verzichtet und deshalb auch als szenische Lesung aufgeführt werden kann. Die elf dreigeteilten „Gesänge“ erinnern an die Gliederung von Dantes Göttlicher Komödie. Textgrundlage sind eigene Notizen von Weiss, die Prozessberichte von Bernd Naumann in der Frankfurter Allgemeinen sowie wissenschaftliche Quellen. Die Handlung folgt weder dem historischen Geschehen noch der Chronologie des Prozesses, es fehlt auch der tatsächliche Urteilsspruch. Vielmehr ergibt sich aus den Aussagen der Zeugen, das sind überlebende Häftlinge, und der Angeklagten vom Lagerpersonal der SS, der typische Leidensweg zahlloser Opfer: von der Ankunft und Selektion (1 Gesang von der Rampe) bis zur Verbrennung der zuvor Erschlagenen, Erschossenen oder durch Giftgas Ermordeten (11 Gesang von den Feueröfen).
Das Stück – bald Inbegriff des sogenannten „Dokumentartheaters“ – ist also, wie Weiss betont hat, keine „Rekonstruktion“ von Auschwitz, sondern ein „Konzentrat“. Neun namenlose Zeugen (die ja auch im Lager „ihre Namen verloren hatten“ und Nummern trugen) „referieren nur“, was Hunderte ausdrückten und Hunderttausende erlitten. Hingegen werden die 18 Angeklagten mit ihrem bürgerlichen Namen genannt. Dabei kontrastieren die Details des unmenschlichen Geschehens, die von den Zeugen berichtet werden, mit den stereotyp wiederholten Formeln der Abwehr und Verharmlosung bei den Angeklagten: „nichts gesehen“, „nichts gewusst“, „nur Befehle ausgeführt“). Mit diesem doppelten Hinweis auf das einstige Geschehen und auf seine systematische Verleugnung im Heute provoziert das Stück selbst einen Bewusstseins-Prozess bei den Zuschauern und wirft die Frage nach der allgemeinen oder auch der eigenen Mitschuld auf.
Die öffentliche Aufnahme der Ermittlung bestätigt dies: Am 19. Oktober 1965 wurde sie in einer „gemeinsamen Uraufführung“ gezeigt, und zwar auf vier Bühnen in der Bundesrepublik: in Köln, München und Berlin, auch in Essen, sowie an zehn Theatern in der DDR (Rostock, Potsdam, sowie acht szenische Lesungen), wenig später in London von dem großen Shakespeare-Regisseur Peter Brook. Besondere Aufmerksamkeit fand, wie beim Stellvertreter, Piscators Inszenierung an der Freien Volksbühne in West-Berlin sowie die szenische Lesung in der Akademie der Künste in Ost-Berlin mit prominenten Politikern und Künstlern, darunter Anna Seghers oder Brechts Witwe Helene Weigel. In Stockholm inszenierte es der weltberühmte Filmregisseur und Theaterleiter Ingmar Bergmann. Auch zwei verschiedene Hörspielfassungen wurden vom Deutschlandsender in Ost-Berlin und im Oktober 1965 von den zehn Rundfunkanstalten der ARD (unter Federführung des Hessischen Rundfunks) gesendet. Diese von Hermann Naber eingerichtete und von Peter Schulze-Rohr inszenierte Fassung, bei deren Produktion ich als Volontär bescheidene Handlangerdienste leisten durfte, ist übrigens heute noch als Hörbuch erhältlich.
Die kritische Resonanz auf Die Ermittlung war in der Bundesrepublik, wie zu erwarten, höchst kontrovers, teils polemisch gegen den Autor gerichtet, der auch die Mitschuld der deutschen Großindustrie am „System Auschwitz“ betont hatte. Zudem spielten lokalpolitische Rücksichten wiederum eine Rolle: In Essen wurde die Erwähnung der „Krupp-Werke“ aus dem Text gestrichen, in Köln die der benachbarten „Bayer“-Werke. Doch setzte sich mehr und mehr die Einschätzung durch, Peter Weiss habe das Theater als „moralische Anstalt“ erneuert, welche die „Lebensfrage der Nation“, das „Erlebnis der Generation 1933 bis 1945“ verarbeite (so urteilte der Emigrant und britische Theatertheoretiker Martin Esslin). Den Kern der Debatte hatte vorher schon der Hörspieldramaturg Hermann Naber in der Frankfurter Rundschau markiert, die Verschränkung von historischer „Ermittlung“ und gegenwärtiger Bewusstseinsbildung: „Die Ermittlung gilt den Lehrern, den Richtern, den Ärzten, den Wirtschaftsführern, den Bahnbeamten, den Herstellern der Verbrennungsöfen, der Lieferanten des Zyklon B – denjenigen, die damals dem Regime dienstbar waren und heute behaupten, nicht gewusst zu haben, dass sie Mördern dienten, und das für sich als Entschuldigung anführen. Nicht der Vergangenheit, die man gern vergessen möchte, sondern der sich verschließenden Gegenwart gilt die Ermittlung.“
Das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter dem Menetekel „Auschwitz“ ist auch das zentrale Thema beim einzig verbürgten Zusammentreffen von Fritz Bauer und Peter Weiss bei einer Podiumsdiskussion über Die Ermittlung im Oktober 1965 in Stuttgart. Während die breite Diskussion um Weiss’ Theaterstück sich immer wieder um die Fragen dreht, ob „Auschwitz“ auf dem Theater ‚statthaft‘ sei, oder ob Weiss diese Aufgabe angemessen gelöst habe, öffnet Bauer in seiner Erklärung einen weiteren Horizont.
Er würdigt zunächst die Wiedergabe des Prozesses auf der Bühne und begrüßt die Verbreitung durch eines der „großen Massenkommunikationsmittel“, vermisst jedoch eine über den Prozess hinausweisende, zukünftige, hoffnungsvolle, ja pädagogische Perspektive: „Es müsste eine Arbeitsteilung geben, lieber Peter Weiss, zwischen dem Auschwitz-Richter und dem Auschwitz-Dichter. Der Auschwitz-Richter züchtigt, der Auschwitz-Dichter sollte erziehen“, er sei besonders im Hinblick auf die „junge Generation“ dem „Prinzip Hoffnung“ verpflichtet.
Deutlich scheint mir, dass Bauer nicht nur dem im Bildungsbürgertum wie auch auf der Linken traditionell gepflegten Konzept einer Ästhetischen Erziehung im Sinne Schillers anhängt, sondern wohl auch nicht sehen kann, dass schon die durch „Massenkommunikationsmittel“ potenzierte Wirkung des Prozesses an sich seine strafrechtliche und rechtspolitische Relevanz und Auswirkung überformt und in gewisser Weise übertrifft. Und es scheint auch, als habe Bauer – wie ihm Weiss’ Verleger entgegnet – den spezifisch ästhetischen Wirkungsmechanismus der Ermittlung verkannt. Peter Weiss, sagt Siegfried Unseld, „hat uns Zuschauern es überlassen, unser eigenes Urteil zu fällen. Ich halte das nun indirekt für ein eminent erzieherisches Mittel.“
Von heute aus ist leicht zu sehen, dass Weiss’ Strategie eine Provokation durch Dokumentation bezweckt: Publikum und Öffentlichkeit sollten mit der nackten Faktizität konfrontiert werden; dem Informationsstand und der westdeutschen Mentalität der 1950er und 60er Jahre gegenüber war dies angemessen und hat hervorragend funktioniert, nicht zuletzt, indem es jene breite und erbitterte Diskussion stimuliert hat, die Christoph Weiß in seiner zweibändigen Studie Auschwitz in der geteilten Welt (2000) in aller Vielfalt und größter Genauigkeit dokumentiert und analysiert. Zeitgeschichtlich wie medienhistorisch singulär ist dieses Zusammenspiel von Strafprozess, Berichterstattung und zeithistorischer Forschung mit dem Theaterstück, das dann in vielen Aufführungen wie ein Verstärker oder Lautsprecher funktionierte und neue Debatten in der Presse auslöste, und schließlich noch mit den flächendeckenden Rundfunksendungen. Dies war ein Medienverbund von enormer politischer wie literarischer Wirkung, wie es ihn danach in Deutschland nicht mehr gegeben hat. Schillers vielzitierte „moralische Anstalt“ funktionierte jetzt multimedial.
Im Rückblick ist interessant, dass das Fernsehen dabei nur eine unwichtige Nebenrolle spielte, während 14 Jahre später, also 1979, die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Miniserie Holocaust von Marvyn J. Chomsky – mit der noch kaum bekannten Meryl Streep in einer Hauptrolle – in allen Dritten Programmen der ARD eine enorme Resonanz fand und damit auch die nächste, also die sogenannte „dritte“ Generation (heute selbst Eltern von Schulkindern!) erreichte. Dass Holocaust unter dramaturgischen und inszenatorischen Aspekten in scharfem Kontrast zur Ermittlung steht, und die dort weithin ausgeklammerte Dimension der persönlichen Schicksale, und damit auch des Mitgefühls und affektiven Nacherlebens auf Seiten der Rezipienten in den Blick rückte (wofür etwa Heinrich Böll Holocaust ausdrücklich lobte), macht den Vergleich besonders interessant.
Bisher unbekannt war hingegen Weiss‘ eigener Vergleich der beiden Werke und der sie tragenden dramaturgischen und rezeptionsästhetischen Konzepte in einem schwedischen Rundfunkinterview von 1979, das Gustav Landgren übersetzt und 2016 in dem Band Dem Unerreichbaren auf der Spur (Berlin: Verbrecher Verlag) publiziert hat: Auf die Frage, ob er Holocaust ablehne, antwortet Weiss: „Keineswegs. Ich glaube, dass der Film einen sehr großen Wert hat, aber es sind zwei gänzlich unterschiedlich Verfahrensweisen. Dieser Film arbeitet mit Emotionen mit dem Zweck, starke Gefühle sofort zu erwecken. Die Menschen sollen sich unmittelbar mit den Hauptfiguren identifizieren und darin besteht die Stärke des Films. Es ist möglich, dass es schwieriger für ein Publikum ist, sich mit den Personen meines Stücks zu identifizieren, weil sie ziemlich zurückgezogen und anonym sind, man bekommt keinen Hinweis auf ihren Hintergrund. Man weiß nicht, wie sie aussehen, aber sie erwecken Emotionen, da sie tatsächliche Ereignisse wiedergeben, die die Menschen bewegen; ich kenne Inszenierungen der Ermittlung, wo Menschen emotional völlig überwältigt wurden von dem Stoff, der ihre Vorstellungskraft überstieg.“
Alles in allem hat Die Ermittlung von Peter Weiss jedenfalls schon 1965 eine zeithistorische und mentalitätsgeschichtliche Zäsur von größter Bedeutung gesetzt. Der Vorhang des Schweigens, der noch so dicht über den 1950er Jahren gelegen hatte, war endgültig zerrissen. So gesehen bildeten der Auschwitz-Prozess und Ermittlung mit ihren unterschiedlichen, aber ineinandergreifenden Wirkungen in der Öffentlichkeit einen epochalen Akt der Aufklärung, der schmerzhaften Erinnerung und der kritischen Selbstbefragung – und damit einen Grundstein im demokratischen Fundament der Bundesrepublik Deutschland. Daran zu erinnern dürfte auch oder gerade im Jahr 2017 nicht ganz unnütz sein.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen