Snorri oder Die Doppeldeutigkeiten

Birgit Sawyers Neulesung der altisländischen Heimskringla

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2006/07 traf ich Birgit Sawyer, damals gerade an Norges teknisk-naturvetenskapliga universitet in Trondheim emeritiert, regelmäßig in Uppsala. Als Teilnehmer der vom dortigen Nordischen Institut veranstalteten Kolloquien kamen wir auch über Snorri Sturluson (1179–1241) ins Gespräch: Sawyer stellte mir seinerzeit ihre These der „two horses“ vor (veröffentlicht dann 2008 in Kristinn Jóhannessons Festschrift Vi ska alla vara välkomna!). Damit zielte sie auf den (letztlich vergeblichen) Versuch des isländischen Magnaten Snorri, seiner zunehmend riskanten Stellung zwischen dem norwegischen König Hákon Hákonarson, dessen mächtigem Onkel Skúli Bárðarson und den Verpflichtungen seiner isländischen Heimat Herr zu werden. Die Snorri regelmäßig zugeschriebene Geschichte der norwegischen Könige, Heimskringla (ca. 1230), wird heute allgemein als literarische Reflexion auf dieses riskante Spiel der Politik gesehen. Eine Herrschergeschichte indes, die sich keinesfalls im linearen Ablauf preisender Porträts erschöpft, sondern vielmehr scharfe, wenn auch subtile Kritik an vielen Potentaten übt.

In dieser Debatte, die in den letzten Jahrzehnten vor allem von Historikern, selten von Literaturwissenschaftlern, betrieben worden ist, hat sich Birgit Sawyer seit den späten 1970er Jahren wiederholt zu Wort gemeldet. Die vorliegende Studie, über deren Ausarbeitung ich noch im Herbst 2015 mit ihr in gelegentlichem schriftlichem Kontakt stand, versteht sich gleichsam als Quintessenz dieser langjährigen Bemühungen Sawyers, mit der sie gegen einige populäre Thesen dezidiert Stellung bezieht: „If one does not agree with earlier interpretations and is convinced that they are deficient – even misleading – new analyses are needed.“ Ihre Kritik richtet sich vor allem, aber nirgends ausschließlich, gegen Sverre Bagges Monographie Society and Politics in Snorri Sturluson’s Heimskringla von 1991, die sich in der Altskandinavistik zu einem Standardwerk entwickelt hat, das erst in den letzten Jahren zunehmend Kritik erfahren hat. Bagges Versuch einer Rekonstruktion von Gesellschaft und Politik im Skandinavien des 13. Jahrhunderts sei, so Sawyer, regelmäßig widersprüchlich bis irreführend.

Ihre eigene Interpretation zielt darauf, in den Königsgeschichten der Heimskringla die Rolle der Könige gegenüber rangniedrigeren Magnaten zu relativieren. Es ginge in diesen Sagas weniger um das Verhältnis zwischen Island und Norwegen (ein Topos bis in heutige Forschung), sondern um das Verhältnis zwischen der Zentralmacht König und diversen Potentaten in Norwegen und Island; gerade die Könige kämen dabei regelmäßig schlecht weg: „Explicitly and implicitly, Snorri expresses his dislike of the way in which most of them exercise their power.“ Darin, so Sawyer, läge eine Analogie zu Snorris eigenem Machtkampf, in dem er schließlich (fatalerweise) auf Jarl Skúli setzte – nach dessen Exekution auf Anweisung Hákons im Jahre 1240 fiel bekanntermaßen wenig später auch Snorri einem Anschlag zum Opfer. Der Sagachronologie folgend, entwickelt Sawyer dieses Argument in acht Kapiteln, von denen zwei (Kapitel 4 und 5) sich dezidiert mit den Protagonisten der Sagas auseinandersetzen, während die umgebenden Kapitel unter anderem narratologische und kulturhistorische Aspekte beleuchten. Quellenzitaten und pointierten Zusammenfassungen folgen jeweils konzentrierte Kommentare im oben skizzierten Sinne.

Diese Argumentation im Einzelnen zu bewerten, fällt indes etwas schwer. Als die vorliegende Studie – seit Jahren die erste Monographie dezidiert zur Heimskringla – Ende 2015 erschien, lebte Birgit Sawyer noch. Als ich das Buch schließlich zur Besprechung in Händen hielt, lebte sie nicht mehr († 7. Mai 2016). So bin ich, wie gesagt, etwas zögerlich, ein Urteil zu fällen. Die Zielsetzung der vorliegenden Studie ist deutlich herausgestellt, die Argumentation stringent, das Resultat vielfach überzeugend. Doch merkt man an vielen Stellen, dass Sawyer nach vier Jahrzehnten Forschung noch mehr hätte sagen wollen, dass diese Interpretation der Heimskringla ein weiterhin nicht abschließend gefülltes Gerüst ist. So sei hier auch nur am Rande erwähnt, dass eine gewisse formale Stringenz fehlt, wenn etwa mal von Sverri, mal von Sverre, mal von Hákon, mal von Håkon die Rede ist, et cetera. In diesem Sinne wird man aber auch Sawyers einleitende Bemerkung verstehen müssen, sie würde sich in ihrer Studie nur am Rande mit der (aktuellen) Forschungsliteratur auseinandersetzen; faktisch liegt ihr Schwerpunkt auf klassischen Arbeiten wie Bagges Monographie. Von ihrem Bestreben, der dominanten Arbeit Bagges eine Neuinterpretation entgegenzustellen, hatte Sawyer mir im Vorfeld berichtet, und sie zeigte sich dabei in ihrer offenen Art stark interessiert an jüngsten Tendenzen der Forschung über den englischsprachigen Raum hinaus. Die Zeit, diese akribische Sondierung umfassend in die schriftliche Fassung einzuarbeiten, war ihr nicht mehr vergönnt.

Zumindest in zwei Aspekten sollte ihre Studie aber auf die künftige Erforschung der Königssagas (und darüber hinaus) wirken. Erstens zählt sie zu den wenigen altskandinavistischen Arbeiten, die dem Konzept mittelalterlicher Ambiguität in jüngerer Zeit nennenswerte Aufmerksamkeit widmen. Snorri Sturluson erscheint Sawyer als regelrechter Meister narrativer Doppeldeutigkeit: „Snorri walked a difficult tight-rope, and it is exactly his mastery of this art that has opened the way to so many different interpretations of his history.“ Das klingt durchaus anders als Bagges seinerzeitige Maxime, als Historiker diene die Heimskringla ihm „as a description of society and as evidence of social and political attitudes“, doch sei er nicht „in literary or aesthetic aspects“ interessiert. Ein Konzept von Ambiguität wurde aber dann 2017 auch von William Ian Miller in seiner Interpretation der Hrafnkels saga zur Interpretationsgrundlage gewählt, sodass Sawyers Studie gleichsam am Beginn einer intensivierten Debatte zu stehen scheint (vgl. auch Oliver Auge/ Christiane Witthöft (Hg.): Ambiguität im Mittelalter, 2016). Zweitens rückt Sawyer, wenn auch nur im Ausblick, den Fokus weg vom vermutlichen Zeitraum der Komposition der Heimskringla (und damit auch anderer Sammlungen von Königssagas wie Morkinskinna und Fagrskinna) hin zum Datierungszeitraum der erhaltenen Manuskripte: „The question of why the work was copied c. 1260 remains.“ Damit weist auch Sawyer nun in eine Richtung, die 2011 von Shami Ghosh in seiner Monographie Kings‘ sagas and Norwegian history formuliert wurde: „Future analyses would need to pay more attention to the texts within their manuscript contexts, and be open to the potential consequences of differences between the situation around 1220 (when the kings‘ sagas were supposedly composed) and the later thirteenth century and beyond (when these sagas were actually written).“

So ist Birgit Sawyers letzte Monographie im Gesamtblick eine gleichermaßen ernstzunehmende wie erfrischende Studie zu einem der zentralen Werke altnordischer Geschichtsschreibung, die selbstsicher und elegant traditionelle Positionen mit aktuellen Forschungspotenzialen verwebt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Birgit Sawyer: Heimskringla. An Interpretation.
Medieval and Renaissance Texts and Studies, Tempe, AZ, USA 2015.
172 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9780866985383

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