Die späte Genugtuung des Kaufmanns Hermann Schwan

Eine Fallgeschichte aus dem 16. Jahrhundert

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Die Wirklichkeit liebt die Symmetrien
und die leichten Anachronismen.
(Jorge Luis Borges: Der Süden)

Die Lebenslinien des Hermann Schwan und Philipps I. von Hessen scheinen gerade in ihren schicksalhaften Umschwüngen auf geheimnisvolle Weise aufeinander bezogen zu sein. Auch wenn sich die beiden vielleicht niemals persönlich begegneten, so haben sie ihr Leben lang voneinander gewusst, wobei ein Landgraf wie Philipp von Hessen in grundsätzlich verschiedener Weise um einen seiner Untertanen weiß, wie der um seinen Landesherrn.  

Schwan mag der reichste Marburger Kaufmann gewesen sein und 1528 in der Nicolaigasse das erste steinerne Haus der Stadt erbaut haben. Er mag in Hessen eine wirtschaftliche Macht dargestellt haben, durchaus vergleichbar mit seinem Nürnberger Schwager, Stefan Kemlin, immerhin einer der Gläubiger des Pfalzgrafen Ottheinrich. Er mag, um ihn ins Verhältnis zu den Finanzgrößen seiner Zeit zu setzen, für den hessischen Landgrafen eine Bedeutung gehabt haben, wie sie die Augsburger Patrizierfamilien der Fugger und Welser auf europäischem Parkett für Kaiser Karl V. hatten.

Doch war es nicht auf Geldgeschäfte zurückzuführen, dass Hermann Schwan 1547 im Schuldturm der Freien Reichsstadt Nürnberg saß. Welche Schuld hatte der erfolgreiche Kaufmann auf sich geladen? Was erregte den lang andauernden Zorn seines Landgrafen? Denn dass Hermann Schwans Gefangennahme auf Betreiben Philipps I. erfolgte, ist kaum zu bezweifeln, wenn man den Quellen Glauben schenken will, die der Gymnasialprofessor Dr. Eberhard Wintzer in seinem 1909 erschienenen Buch Hermann Schwan von Marburg minutiös zusammengetragenen hat.

Man muss davon ausgehen, dass zwischen dem Landgrafen und dem Kaufmann ein Antagonismus bestand. Die beiden als persönliche Gegner, Feinde oder Widersacher zu bezeichnen, verbietet sich angesichts des unüberbrückbaren Abstands zwischen zwei so ungleichen Männern. Widersacher des hessischen Landgrafen, Gegner in einem Rechtshandel und im geistigen Meinungsstreit, Feind im politischen Machtkampf – kurz ein Gegenspieler auf Augenhöhe war kein anderer als der Kaiser selbst.

Der Kaiser, der Landgraf, der Kaufmann: Wohl nur ein einziges Mal hielten sich die drei ungleichen Protagonisten zur selben Zeit am selben Ort auf, sogar in Rufweite, wobei sie kein Wort miteinander gesprochen haben dürften, vermutlich aber umso heftiger einander verflucht. Ein Dreieck gegeneinander gerichteter Wirkungen, das für einen historischen Augenblick eine so unmögliche Gefühlskoalition ermöglichte wie die zwischen Karl V. und Hermann Schwan. Denn sowohl für den Kaiser, in dessen Reich die Sonne niemals unterging, als auch für den Kaufmann, der Jahre im finsteren Lochgefängnis gesessen hatte, muss es ein Moment der größten Genugtuung gewesen sein, den verhassten hessischen Landgrafen gefangen genommen zu wissen.

Mit eigenen Augen gesehen haben wird nur der Kaiser, wie Philipp von Hessen und Johann Friedrich von Sachsen als Gefangene durch Nürnberg geführt wurden. Schwan kann an jenem 16. Juli 1547 allenfalls den Jubel und die Häme gehört haben, die zu ihm ins vierte Geschoss des Schuldturms emporstiegen, als die Häupter des zerschlagenen Schmalkaldischen Bundes wie erbeutete Tiere am Rathaus vorbeigeführt wurden.

Wie leicht ihm auf einmal die Gefangenschaft war, als die Frau des Stadtknechts, der den Schuldturm unter sich hatte, die Treppe hochgerannt kam und ihrem Mann atemlos mitteilte, dass der Sachse und der Hesse wie Ochsen in Ketten gebunden durch die Straßen geführt wurden.

Wie ein Ochs in Ketten, wiederholte Hermann Schwan, denn was ging ihn der sächsische Herzog an. Wie ein angeketteter Ochs schrie er außer Rand und Band, als müsste er die Worte laut hören, um nicht zu bezweifeln, dass endlich eingetreten war, was er sich seit seiner Gefangennahme am 25. Januar 1543 inniglich gewünscht hatte.

Wie ein angeketteter Ochs schrie er ohne Unterlass, so dass die Frau des Stadtknechts erst die Klappe öffnete, durch die sie sonst das Essen reichte, und nach einem kurzen Blickwechsel mit ihrem Mann die ganze Tür, denn sie befürchtete, dass er noch Schaden nehmen könnte an Leib und Seele in seinem Triumph, den sie ihm von Herzen gönnte, ihrem Gefangenen, der letzten Dezember zu ihnen in den Schuldturm verlegt worden war.

Was für eine Erleichterung, nach den vielen Jahren im Lochgefängnis tief unter der Erde. Natürlich als Reaktion auf einen politischen Umschwung, was sonst, denn die militärische Niederlage der Schmalkaldener war für neutrale Beobachter wie die Nürnberger Stadtväter längst absehbar. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass die Schmalkaldener sich nicht mehr lange würden halten könnten, und wie um zu bezeugen, dass man mit dem Herzen schon immer auf der richtigen Seite gestanden hatte, nicht auf der protestantisch-hessischen, sondern auf der katholisch-kaiserlichen, hatte man dem Gefangenen Schwan, der auf Geheiß des Hessen schon so lange in Nürnberg einsaß, nicht nur Bett, Tisch und Schreibzeug zugebilligt, sondern auch für gute Verköstigung und einen Arzt gesorgt, der ihn vor drei Monaten, direkt nach dem kaiserlichen Triumph über die Protestanten bei Mühlberg, einer Schröpfkur unterziehen durfte.

Förmlich aufgeblüht war er, wie die fürsorgliche Frau des Stadtknechts mit großer Freude beobachtet hatte, denn auch als er völlig entkräftet war, kein Wunder bei den Torturen, die er hatte erleiden müssen, war ihr nicht unbemerkt geblieben, was für ein stattliches Mannsbild dieser Hermann Schwan auch noch mit fünfzig Jahren war.

Da er gar nicht aufhören wollte zu schreien – wie ein Ochs, wie ein angeketteter Ochs – schrie sie zurück, um ihn zu übertönen, schrie ihn an, dass die Ketten gescheppert hätten bei jedem Schritt. Da horchte er auf, erwachte wie aus einem Traum und hing an ihren Lippen, um ja kein Wort zu verpassen von ihrer Schilderung: Arme und Beine in Ketten, den Kopf gesenkt, den Hochmut ausgetrieben.

Sein Blick bettelte nach weiteren Einzelheiten, die leibhaftig werden ließen, was er sich wer weiß wie oft ausgemalt hatte: Dass er gefangen genommen würde, dieser Landgraf, landgravio, sagte Schwan, landgravio, landgravio, so dass sie schon befürchtete, es ginge wieder los mit dem blöden Wiederholen, und weitererzählte, wie die Soldaten ihn durch die Straßen getrieben hätten, wie einen geprügelten Hund, und die Leute hätten ihm wer weiß was nachgerufen.

Was sie gerufen hätten? Sie wusste es nicht, mein Gott, was hatten sie schon gerufen, irgendwelche Schimpfworte, die man ruft, wenn ein hoher Herr am Boden ist, aber das war es nicht, was Schwan hören wollte, er erwartete etwas Anderes. Nur was, was konnte sie ihm erzählen, dass die Leute gerufen hätten, etwas Gemeines, etwas Schändliches, etwas Böses, und auf einmal kam ihr ein Wort in den Sinn. Kaiserchen, sagte sie, auch wenn es nicht stimmte, Kaiserchen, hätten die Leute gerufen, Kaiserchen, Kaiserchen, Kaiserchen, woraufhin Hermann Schwan lächelte und über das ganze Gesicht strahlte.

Wie anders dagegen der Stadtknecht, der die ganze Zeit mit unbewegter Mine dagestanden hatte und nun seine Frau fassungslos ansah, wie vom Schlag getroffen, so dass sie zusammenzuckte und da erst begriff, was sie gesagt hatte, so ungeheuerlich, was sie gesagt hatte, dass sie sich unwillkürlich umdrehte, ob nicht jemand mitgehört hätte, was sie gesagt hatte. Wände hatten Ohren, nie und nimmer durfte man so etwas sagen oder gar rufen, nicht einmal denken, man stelle sich vor, der Kaiser…

Sie bemerkte kaum, dass ihr Mann sie bei den Schultern nahm und aus der Zelle schubste und schleunigst abschloss, zack, den Riegel vor, weg von diesem Schwan, der doch wohl nichts mitbekommen hatte, nein, wie er dastand und verzückt lächelte, hatte er bestimmt nichts mitbekommen, hoffentlich.

Und Schwan? Der dachte: caesareus, caesareus. Und hatte die Marburger Kugelherren vor Augen, die Lateinschule im Kugelhaus, wo er vor vierzig Jahren Schüler gewesen war, bei den Fratresherren, von denen man nur das Gesichtsoval sah, so eng lagen ihre Kapuzen an, ihre Kugeln, von lateinisch cuculla, fiel ihm ein, gleich in der ersten Lateinstunde hatten sie das gelernt. Wie Landgraf, als er Unterricht gehabt hatte bei den Kugelherren, vielleicht sechs, sieben Jahre später, weil er jünger war, dieser Landgraf, landgravio, landgravio, caesareus.

Caesareus, eigentlich das Adjektiv zu Caesar, hatte er gelernt, aber in dem Pasquill vom 12. Oktober 1542 war es als Anrede gebraucht für den Landgrafen, komisch, dass er noch das genaue Datum wusste von dem Pasquill. Er musste an den Kupferstich denken, der mit dem Pasquino, den er gekauft hatte, in Frankfurt auf der Herbstmesse, von einem Händler aus Antwerpen, 1535 musste das gewesen sein, im Jahr seiner ersten Festnahme, als ihm Katharina unter ihren Kleidern versteckt, eine Axt und anderes Ausbruchswerkzeug in die Zelle geschmuggelt hatte.

Wie kam er nur auf seine Frau, richtig, der Stich mit der Pasquino-Statue: eine Hausecke in Rom, zwei antike Figuren, die eine ohne Arme und mit halben Beinen, von der anderen nur der Rumpf, und ringsherum Zettel an den Wänden, anonyme Flugschriften, um den hohen Herren mal ordentlich die Meinung zu sagen, wie dem Landgrafen. Alle kannten das Pasquill, in dem er beglückwünscht wurde zu seinem Sieg über den katholischen Herzog von Braunschweig. Was nicht weiter verwunderlich gewesen wäre, wenn der Anonymus den Hauptmann der Protestanten nicht ausgerechnet als caesareus angesprochen hätte, als Kaiserlichen, woraufhin man ihn Kaiserchen genannt hatte, auch wenn das grammatisch falsch war.

Drei Monate später war Hermann Schwan in Nürnberg festgenommen worden, gleich am Stadttor, bei seiner Anreise zum Reichstag, der für den 31. Januar 1543 einberufen worden war. Nie und nimmer hätte er dort hinfahren dürfen. Eine kolossale Fehleinschätzung der politischen Lage, die einem Kaufmann wie ihm, der im ganzen Reich agierte, nicht hätte unterlaufen dürfen. In Gedanken herunterbeten konnte er, was er hätte wissen müssen:

Dass es für den Kaiser politisch geboten war, sich Philipps Unterstützung auf dem Nürnberger Reichstag zu versichern. Dass sich die Kräfteverhältnisse seit den Reichstagen von Regensburg und Speyer verschoben hatten und Zweifel angebracht waren, ob sich der hessische Landgraf an das Stillhalteabkommen mit dem Kaiser halten würde. Dass die Protestanten unverhohlene Sympathien hegten für den französischen König, der dem Kaiser gerade wieder einmal den Krieg erklärt hatte. Dass der Kaiser mehr denn je auf die militärische und finanzielle Unterstützung des hessischen Landgrafen und der anderen Reichsfürsten angewiesen war, um die Bedrohung der Ostgrenzen durch Süleyman den Prächtigen abzuwehren. Dass Herzog Wilhelm von Kleve-Jülich-Berg, mit dem der Kaiser im Erbfolgestreit stand, ein Glaubensbruder und Verwandter des hessischen Landgrafen war.

Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte Schwan nicht wählen können, um vor den Reichstag zu treten und sich mit seiner Purgationsschrift von der Mordanklage zu reinigen, unter der er seit fast zehn Jahren stand, davon acht auf der Flucht. Auch das zugesicherte freie Geleit hatte ihn nicht schützen können, denn eines einzigen Kaufmanns wegen sich sowohl den Kaiser als auch die hervorstechendste Persönlichkeit unter den deutschen Fürsten zum Feinde zu machen, musste den Interessen einer Freien Reichsstadt widersprechen. So hatte der Nürnberger Rat getan, was der hessische Landgraf wünschte, wohl wissend, dass der Kaiser nichts dagegen hatte.

Als die Frau des Stadtknechts abends die Klappe öffnete, um das Nachtessen zu bringen, winkte Schwan sie zu sich herein. Sie zögerte kurz, gab sich einen Ruck, entriegelte die Tür und trat zu ihm an den Tisch. Ohne sich um die Suppe zu kümmern, begann er zu zeichnen: ein, zwei, drei, vier Punkte, die Ecken eines Quadrats. Dann schrieb er ein P an den Punkt oben links, sagte laut Philipp, und ein H an den Punkt unten links. Hermann, ergänzte die Frau des Stadtknechts eifrig. Schwan lächelte und sprach ihr die beiden Zahlen nicht vor, die er nun hinschrieb, 1543 unter die Punkte links, 1547 unter die rechts. Sie nickte. Dann malte er zwei Pfeile, erst einen von oben links, wo P stand,  nach unten rechts und dann mit triumphaler Geste einen von unten links, wo H stand, nach oben rechts.

Sie starrte auf das schräge Kreuz und fuhr mit dem Blick die Balken immer wieder nach, bis sie die richtigen Worte gefunden hatte für den Sinn der Zeichnung: Was dem Philipp sein Scheitelpunkt, war dem Hermann sein Tiefpunkt. Und dem Philipp sein Tiefpunkt – ab hier stimmte Schwan mit ein – ist dem Hermann sein Scheitelpunkt.  

So gelöst hatte sie den Gefangenen noch nie gesehen, der anfing zu erzählen, vom 20. März 1543, das Datum hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt, als er zum ersten Mal in die hell erleuchtete Folterkammer, die Kapelle, geführt wurde, im weißen Hemd und mit Socken an den Füßen. Er erzählte, wie er sich immerfort das Dum-spiro-spero – solange ich atme, hoffe ich – aufgesagt hatte, als ihm der Richter die Anklage mit dem Fragenkatalog vorlegte, erst im gütlichen, dann im peinlichen Verhör. Erzählte, wie er sich eingehämmert hatte, dass sich die Glücksumstände doch einmal umkehren müssten, als der Peiniger und sein Knecht, der Löwe, ihn um der Wahrheit willen hart anfassten. Erzählte, wie er auf das Andreaskreuz gekommen hatte, als Zeichen für den Umschwung vom Glück zum Unglück und umgekehrt, als sie ihn aufzogen, erst mit dem kleinen, dann mit dem großen Stein. Erzählte, wie ihm das Schrägkreuz Halt und Hoffnung auf ein gutes Ende gegeben hatten, als sie ihn auf die Leiter spannten und dann mit dem Feuer zum Geständnis zwingen wollten, zuletzt mit brennenden Schwefelfäden unter den Achselhöhlen.

Vier Jahre, dachte die Frau des Stadtknechts, sah noch einmal auf die Zeichnung und nickte Schwan respektvoll zu, bevor sie die Zelle verließ. Vier lange Jahre, bis der Wind sich gedreht hatte, bis der Landgraf tief unten war und Schwan obenauf.

Sein Schuldbekenntnis hätten sich die Ankläger etwa wie folgt vorgestellt: Er, Hermann Schwan, habe seinem Frankfurter Geschäftsfreund und Nachbarn Ludwig Heidolff schon in der zweiten Augusthälfte des Jahres 1534 auf der Rückreise von einem gemeinsamen Geschäftsbesuch in Antwerpen nach dem Leben getrachtet und im hessischen Herborn absichtlich vom Hochufer in die Dill zu stoßen versucht, was dieser aber nicht als Mordversuch aufgefasst habe.

Zurück in Frankfurt, habe er nach Ende der Herbstmesse den gemeinsam mit Heidolffs Frau Agnes ausgeheckten Mordplan in die Tat umgesetzt. An dem dazu bestimmten Tag habe sie einen heftigen Streit mit ihrem Mann angefangen, um sich daraufhin unverfänglich in den Schutz seiner, Hermanns, Ehefrau Katharina begeben zu können. Was ihm, zur fraglichen Zeit offiziell geschäftlich in Speyer und Aachen unterwegs, Gelegenheit verschafft habe, des Nachts unbemerkt in das Heidolffsche Haus einzudringen, Ludwig im Bett zu erdrosseln und den Leichnam in seinen eigenen Keller zu schaffen.

Nach dem angeblich mysteriösen Verschwinden ihres Ehemanns sei Agnes, wie verabredet, zu ihrem Vater nach Marburg gereist, um dort auf ihn, Hermann, zu warten, der sich selbst bis zu seiner offiziellen Rückkehr von der Geschäftsreise in Frankfurt versteckt gehalten habe.

Mit Agnes Breitruck, der späteren Heidolff, habe er schon in Marburg in einem unerlaubten Verhältnis gestanden. Er sei es auch gewesen, der Agnes dazu angehalten habe, sich mit Ludwig Heidolff zu verloben, zu dem einzigen Zweck, sich umso leichter mit ihr treffen zu können.

Um Martini 1534 habe Schwan schließlich den bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten Leichnam des Ermordeten in einem Fass verstaut, sei damit Richtung Marburg gefahren und habe es in der Kuhmark, einem Wald bei Hachborn, abgeladen. Dazugelegt habe er zwei gelbe Hosen und zwei schwarzseidene Hosenbänder des Ermordeten sowie die eine Hälfte eines gelben schwäbischen Schleiers.

Spätestens an dieser Stelle wäre Schwan mit seinem Geständnis ins Stocken geraten, denn was sollte er damit bezweckt haben, den Leichnam des Ermordeten erst unkenntlich zu machen, um dann Spuren zu seiner sicheren Identifizierung zu legen? Und was, in drei Kuckucks Namen, konnte die Beigabe des halben Schleiers bedeuten?  

Agnes wollte den Schleier wiedererkannt haben. So stand es in der Urgicht, ihrem Geständnis als Mitangeklagte. Sie und Katharina hätten sich den Schleier auf der Herbstmesse gekauft und geteilt. Nur warum geteilt? Etwa als Zeichen ihrer Freundschaft? Das hätte er sie gern selber gefragt. Aber zu einer Gegenüberstellung konnte es nicht mehr kommen, denn Agnes war nach acht Jahren Haft im Marburger Gefängnis gestorben, wie der Landgraf dem Nürnberger Rat am 19. März 1543 mitgeteilt hatte, einen Tag, bevor der Gefangene Schwan in die Folterkammer…   

Wie man es auch drehte und wendete, ganz egal, wer den Schleier neben Heidolffs Leiche gelegt hatte oder auch nur behauptet hatte, er hätte dort gelegen, es gab nur eine vernünftige Erklärung, die theologische. Das Bild des geteilten Schleiers deutete auf zwei Bräute hin, auf den Bruch des Einehegebots der Bibel und damit, für jedermann unmissverständlich, auf das politisch höchst brisante Thema der Doppelehe des hessischen Landgrafen.

Landgravio, landgravio, sagte Schwan laut vor sich hin, und drehte sich auf seiner Pritsche um, weil er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, das von der Tür kam. Verwundert hätte es ihn nicht, wenn die Frau des Stadtknechts draußen horchte. Er machte sich nicht einmal die Mühe nachzuschauen und hing lieber weiter seinen Gedanken nach, die immer wieder auf dasselbe Muster zuliefen, Übereinstimmung und Abweichung zwischen den Lebensläufen, seinem und dem des Landgrafen, Konvergenz und Divergenz.

Philipp hatte 1540 mit der 17-jährigen Margarete von der Saale die Ehe geschlossen, obwohl er seit 1523 mit Christine von Sachsen verheiratet war. Auch Hermann hatte 1522 eine Sächsin zur Frau genommen, die Kaufmannstochter Katharina Hesseler, auch in zu jungen Jahren, auch ein Schritt, den er später bereute.

Während aber Philipp mit Luther und Melanchthon zwei führende protestantische Theologen aufbieten konnte, die ihm vor Gott eine zweite Ehefrau zubilligten, um ihn vor der noch größeren Sünde des Ehebruchs zu bewahren, lag Hermann gleich mit drei biblischen Geboten in Konflikt – nicht ehebrechen, nicht töten, nicht begehren seines Nächsten Weib.  

Nun saßen beide in Haft, an diesem 16. Juli 1547 sogar in ein und derselben Stadt. Während aber Philipp in puncto Freilassung allein auf die Gnade des Kaisers angewiesen war, konnte Hermann zumindest mitentscheiden, wann er die Freiheit zurückbekäme. Er musste nur die geforderte Kaution akzeptieren und dem Landgrafen die Urfehde schwören.

Allerdings wäre Hermann ein schlechter Kaufmann gewesen, wenn er bei der Höhe der Kaution gleich die erste Forderung der Gegenpartei akzeptiert hätte. Dank seiner Beharrlichkeit war es ihm inzwischen gelungen, Philipp von anfänglich geforderten 6.000 Gulden zuerst auf 4.000 und dann auf 2.000 herunterzuhandeln.

Die zweite Bedingung, die Urfehde, war nicht verhandelbar und somit der eigentliche Grund, warum er immer noch im Schuldturm saß. Für alle Zukunft auf Rache und Vergeltung sowie jegliche Rechtsmittel zu verzichten, auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Anklage frei erfunden war – einen derart unvorteilhaften Vertrag abzuschließen, empfand der Kaufmann nach wie vor als eine Zumutung.

An Schwans äußeren Lebensumständen änderte sich wenig in den Wochen und Monaten nach seinem großen Triumph. Nur, dass er etwas Abwechslung bekam, denn kaum ein Tag verging, dass die Frau des Stadtknechts nicht auf einen Sprung bei ihm vorbeikam. Ihr Hauptgesprächsthema war der hessische Landgraf, der von Nürnberg in die spanischen Niederlande gebracht worden war, um dort auf unbestimmte Zeit in Festungshaft zu sitzen.

Schwan erzählte von einem Vorfall anno 1541 in Marburg, als der Landgraf gerade von Kassel gekommen war. Am Haus des Rentmeisters Philipp Hamer war eines Morgens eine Schmähschrift zu lesen. Der abwesende Hausherr, hieß es, würde das Land durch Herumhuren verderben. Um herauszufinden, wer es gewagt hatte, einen Philipp mit Hurerei in Verbindung zu bringen, ließ der Landgraf von allen 335 schreibkundigen Professoren, Magistern, Studenten und Schülern Handschriftproben nehmen. Den Autor ausfindig zu machen, gelang ihm trotzdem nicht.

Ob Schwan das Spottlied des Herzogs von Braunschweig kennen würde, fragte ihn die Frau des Stadtknechts einmal. Das über die schöne Gefangene, die Philipp seit Jahren auf dem Marburger Schloss festhielt und die schwanger –. Sie hielt erschrocken inne, doch Schwan zuckte nur mit den Achseln und sagte, sie solle ruhig weitersprechen. Alle würden wissen, dass mit der schönen Gefangenen Agnes Heidolff gemeint war, die zu Weihnachten 1535 Zwillinge bekam – von wem wohl? Jetzt war es Schwan, der erschrak: Merkwürdiger Zufall, dass er Weihnachten 1535 mit Katharinas Hilfe aus dem Frankfurter Gefängnis entfliehen konnte.

Auch Philipps Zeugungskraft kam aufs Tapet: neun Kinder mit der Erstfrau, sechs mit der Zweitfrau und wer weiß wie viele sonst noch. Bei der bildhübschen Anna von Mecklenburg als Mutter – Beiname Frau Venus, meinte die Frau des Stadtknechts nur – war es kein Wunder, dass der Vater Philipp erst als Sohn anerkannte, als er sich von der vererbten Triorchie überzeugt hatte. Ohne die drei Hoden, meinte Schwan, hätten Luther und Melanchthon ihm kaum eine Zweitfrau zugestanden.

Und die Urfehde? Die zögerte Schwan so lange hinaus, dass die Frau des Stadtknechts ihn wiederholt fragte, ob es wirklich von Vorteil wäre, weiter abzuwarten. Mit jedem Tag im Schuldturm verzichtete er auf gewinnbringende Geschäfte, verlor Geld. Recht hatte sie. Seine Besitzungen in Marburg, Frankfurt und im Sächsischen mochten zwar gut und gern 10.000 bis 12.000 Gulden wert sein, in seiner derzeitigen Lage brachten sie aber null Erträge.  

Hermann Schwan leistete schließlich die Urfehde und konnte das Gefängnis nach mehr als fünfjähriger Haft am 9. Oktober 1548 als freier Mann verlassen. Er ging zuerst nach Mainz und dann nach Hohensolms, unweit der hessischen Grenze, wo er zwischen Februar und Dezember 1552 verstarb. Am 2. September 1552 wurde Philipp von Hessen aus seiner ebenfalls mehr als fünfjährigen Festungshaft entlassen, womit der Schlusspunkt unter die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Lebensläufe gesetzt war.

Dass Schwan gern nach Marburg zurückgekehrt wäre, zeigen seine vergeblichen Versuche, freies Geleit zu bekommen, um nicht belästigt, angegriffen oder verhaftet zu werden. In Marburg lebte sein Bruder, dort waren seine Häuser, dort hatte er Außenstände und Zinsen einzutreiben und dort war auch die Urszene passiert, die Anlass gegeben haben könnte für den lebenslangen Widerstreit zwischen ihm und den Landgrafen.

Es geschah in der Nacht des 5. April 1522 im Marburger Haus des Rentschreibers Johann Eschwege. Seine Frau, gemeinhin Eschwegin genannt, die in dem Ruf stand, bei Abwesenheit ihres Mannes junge Lebemänner zu empfangen, verweigerte Hermann Schwan seit Wochen ihre Gunst, wohl weil sie ihm einen neuen Liebhaber vorzog, wie er vermutete. Um seine untreue Geliebte bloßzustellen, versuchte Schwan in besagter Nacht in Begleitung von Freunden mit einer Leiter in ihre Stube zu klettern.

Man stelle sich Hermann Schwan vor, oben auf der Leiter stehend, wie er versucht mit Gewalt das Fenster aufzudrücken, das von innen mit Kissen zugehalten wird. Seine Freunde spornen ihn an, denn sie möchten wissen, wer da oben partout nicht erkannt werden will. Dass bei dem Gerangel eine Scheibe zu Bruch geht und der Blick in die Stube frei wird, bleibt nicht aus. Vielleicht kommt es zu einer kurzen Unterredung, vielleicht genügt allein der Anblick des Nebenbuhlers, um Schwan dazu zu bewegen, von der Leiter zu steigen und seinen Freunden lapidar mitzuteilen, dass es sich um eine hochstehende Persönlichkeit handele, einen gewissen Johann von Waldmeßhausen. Ein Name, der in Hessen völlig unbekannt ist, so dass sich allen sofort der Verdacht aufdrängt, Hermann hätte ihn erfunden, weil er den wirklichen nicht nennen darf.

Als der Rentschreiber tags darauf nach Hause zurückkehrte und einen Waldmeßhausen bei seiner Frau fand, beschuldigte er sie des Ehebruchs. Die Eschwegin wies den Verdacht empört zurück und behauptete, Hermann Schwan sei es gewesen, der sie in der letzten Nacht habe überwältigen wollen. Zum Beweis zeigte sie ihm das zerschlagene Fenster, was den Rentmeister zwar nicht von ihrer Schuldlosigkeit überzeugt haben dürfte, zumindest aber soweit beruhigte, dass er die Gelegenheit zu ihrer formellen Entlastung ergriff. Er ging zum Landgrafen, der sich gerade in Marburg aufhielt, und erwirkte einen Haftbefehl gegen Schwan, ohne dass dieser und Waldmeßhausen in der Sache gehört worden wären.

Das Schlimmste befürchtend, floh Schwan nach Sachsen. Dass er ausgerechnet dort Exil suchte, mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. Bestand doch seit dem 14. Jahrhundert eine Erbverbrüderung zwischen dem hessischen und sächsischen Fürstenhaus, die erst wenige Jahre zuvor durch die Verheiratung von Philipps Schwester Elisabeth mit Herzog Georgs Sohn Johann bekräftigt worden war. Genauer betrachtet, handelte Schwan wie ein Kaufmann, der da investiert, wo die größten Erträge zu erwarten sind. Sein Wissen über den Lebenswandel des hessischen Landgrafen war bei dessen Verbündeten besser aufgehoben als bei den Gegnern.

Kurz vor Philipps Hochzeit mit Christine von Sachsen im Dezember 1523 veröffentlichte Schwan, gewiss mit Zustimmung des sächsischen Kurfürsten, eine Verteidigungsschrift in eigener Sache, in der er erklärte, aus Rücksicht nicht alle beteiligten Personen mit Namen genannt zu haben, sich aber vorbehielt, das zu tun. Die Rechnung ging auf. Der Landgraf schlug die Anklage gegen Hermann Schwan nieder, der im Jahr darauf wieder von Marburg aus seine Geschäfte führen konnte.

Ungeachtet des damit verbundenen Risikos, hatte Schwan auch während des Exils nicht darauf verzichtet, die Frankfurter Herbstmesse zu besuchen. Zwar reiste er, soweit möglich, über das durch Hessen zerstreut liegende mainzische Gebiet, doch hätte er große Umwege in Kauf nehmen müssen, um hessisches Territorium gänzlich zu meiden. Eine Unvorsichtigkeit, die ihm am 6. August 1522 beinahe zum Verhängnis geworden wäre, als er abends zwischen 10 und 11 Uhr bei Fritzlar von vier Reitern mit Armbrust und Harnisch überfallen wurde. Schwan konnte entkommen, doch sein Reisegefährte, der Mainzer Domherr Ruprecht von Biedenfeld, wurde von den Wegelagerern gefangen genommen und zwei Wochen auf der Burg ihres Anführers Johann von Wildungen festgehalten.

Statt dass der Straßenräuber vom Landgrafen, der sich ansonsten stark machte für die Sicherheit auf seinen Handelsstraßen, für den Überfall zur Verantwortung gezogen worden wäre, verdiente er sich einen Hofdank. Für die Behauptung, Wildungen habe mit Philipps Wissen oder sogar in dessen Auftrag gehandelt, fehlen jegliche Beweise. Rein hypothetisch ist auch der Verdacht, der in zeitgenössischen Druckschriften geäußert wird, Philipp sei selbst bei dem Überfall beteiligt gewesen, und zwar als Heinrich von Wildungen, ein Name, der weder in Lehnsurkunden noch in Ritterschaftsaufgeboten verzeichnet ist.

Sollte Hermann Schwan den hessischen Landgrafen, alias Johann von Waldmeßhausen, nachts bei der Eschwegin ertappt haben, dann steckte als treibende Kraft hinter ihrem lebenslangen Antagonismus die Rivalität um eine Frau. Das Verlangen des jüngeren, den älteren Rivalen auszustechen, hätte sich gut zehn Jahre später bei Agnes Heidolff wiederholt. Philipp von Hessen hätte in Hermann Schwan ein ideales Feindbild gefunden, um die eigenen moralischen Verfehlungen stellvertretend zu ahnden. Dass in seiner Unnachgiebigkeit gegenüber dem Verfolgten auch ein Begehren stecken könnte, mag als Spekulation verführerisch sein, ginge aber endgültig über das Feld der storia, der verbürgten Geschichte, hinaus und führte in das Reich der story, die sich nach eigenen Gesetzlichkeiten der Fakten bedient, um Fiktionen zu erschaffen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg