Bobrowskis Häutungen

Wie ein Dichter sich aus seiner Dichtung befreit

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

1. Johannes Bobrowski

Vergleichsweise schmal ist das Werk, das er hinterlassen hat, und doch hat Johannes Bobrowski in den wenigen Jahren seines öffentlichen Wirkens (1959–1965) andere Schriftsteller mit seinem ihm eigenen Tonfall inspiriert und geradezu infiziert wie ansonsten nur Großautoren (zu denen er nie gerechnet wurde) im Range eines Gottfried Benn oder Bertolt Brecht. Für Breitenwirkung, wie sie diesen gegönnt war, war er jedoch nicht geeignet. Die zwei Gedichtbände, die paar Erzählungen und die zwei Romane, die er zu Lebzeiten veröffentlichte, zählen mit zum Schwierigsten und Faszinierendsten, was die deutsche Literatur zu bieten hat. Er bekannte sich offensiv (und durchaus provozierend unter den Bedingungen der damaligen Literaturpolitik der DDR) zu jener „Dunkelheit“, die bereits Friedrich Gottlieb Klopstock, sein wichtigster Inspirator in formalen Fragen, propagiert hatte: „Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von Wenigen gesehenen Götter.“ Bobrowskis suggestiver Sound fesselte von Anfang an sprachlich sensible Leser und hinterließ deutliche Spuren bei so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Kathrin Schmidt, Sarah Kirsch, Günter Grass (durch dessen Hundejahre ein Räuber Bobrowski geistert), Christa Wolf, Michael Hamburger, Manfred Peter Hein, Volker Braun, Ursula Krechel, Uwe Kolbe, Wulf Kirsten, Christoph Meckel, Günter Bruno Fuchs, Kito Lorenc, Judith Kuckart, Hubert Fichte, Peter Jokostra, Bernd Jentzsch, Günter de Bruyn, Ingo Schulze, Manfred Bieler, Heinz Czechowski, Reiner Kunze und vielen anderen. Paul Celan und ihn, die beiden von gegenläufiger Erfahrung geprägten Generationsgenossen, verband eine von wechselseitiger Skepsis getragene intensive kritische Auseinandersetzung miteinander, die sich tief in beider literarische Entwicklung einverschrieben hat. Ohne ihn wäre die deutsche Literatur seit Ende der 1950er-Jahre eine andere geworden – auch wenn seinem intensiven Einfluss auf Literatur und Autoren kein extensiver Erfolg auf dem Markt der verkauften Bücher entsprach.

Der binnen nur weniger Jahre veröffentlichte, geringe Umfang seines publizierten Werkes verbirgt, dass dieses nie jene fertige Gestalt hatte, mit der sich Bobrowki ins Bewusstsein seiner Leser einprägte. Was in den beiden Gedichtbänden Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme in scheinbarer Abgeschlossenheit vor den Leser tritt, ist nur Ausschnitt einer langen lyrischen Entwicklung voller Abbrüche und Neuanfänge, welche zudem mit diesen beiden Bänden keineswegs abgeschlossen war. Noch vor seinem Tod stellte Bobrowski die dort entworfene lyrische Welt selbst wieder in Frage – er war ein stets sich Wandelnder.

2. Im „Dritten Reich“

Ursache hierfür ist eine mehrfache ästhetische wie moralische Unwucht, die den Beginn seines Schreibens im „Dritten Reich“ belastete. Moderne Literatur war kaum bis überhaupt nicht zugänglich. Anregung konnten ihm neben klassischer Literatur von Platon bis zu den Königsbergern Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder und dem zu Unrecht vergessenen Alfred Brust nur Autoren wie Agnes Miegel, Paul Alverdes, Friedrich Georg Jünger, dessen Bruder Ernst, Josef Weinheber, Ina Seidel oder Ernst Wiechert bieten. Mehr und literarisch Gewichtigeres war kaum zugänglich. Immerhin: 1940 wurde ihm eine Ausgabe von Jugendgedichten Georg Trakls geschenkt. Das war sein literarisches Rüstzeug, mehr gewährten ihm die Umstände nicht. (In einem Brief bereits aus der Zeit nach Kriegsende steht dann ohne weitere Erläuterung der Name Rimbaud wie der einer überwältigenden Offenbarung.) Zu dieser ästhetischen Beengung kam, zugleich Last und vor dem nationalsozialistischen Zeitgeist schützendes Refugium, der moralische Anspruch seines der Bekennenden Kirche verbundenen baptistischen Elternhauses. Der damit einhergehende Zwang zu steter Selbstprüfung musste den unfreiwilligen Teilnehmer an einem verbrecherisch geführten Krieg immer wieder in Krisen und Selbstzweifel stürzen. Dass dieser Krieg nicht nur unermessliches Leid über Millionen von Menschen brachte, sondern auch die Zerstörung von Bobrowkis multikultureller Kindheitswelt im an polnischen und jiddischen Einflüssen reichen deutsch-litauischen Grenzgebiet zur Folge hatte, erleichterte es ihm, die Perspektive der Opfer einzunehmen, ohne sich selbst diesen zurechnen zu wollen. Eigenes Leid wie Kriegsgefangenschaft und Verlust der Heimat verblassten vor der deutschen Schuld − und wollten doch irgendwie auch zum Ausdruck gebracht werden, ohne Verantwortung zu leugnen. Wie war das alles miteinander zu vereinbaren?

Seine literarischen Anfänge sind geprägt von protestantischer Innerlichkeit, die dem nationalsozialistischen Zeitgeist gegenüber auf Abstand ging, indem sie sich ganz auf sich selbst und ihre Abgeschlossenheit von einer als böse definierten Welt konzentrierte, aus welcher denn auch nichts zu ihr durchdrang an Ereignissen, die sie in ihrer moralischen Selbstgewissheit hätten erschüttern können. In seiner noch völlig epigonalen frühesten Dichtung – aber aus welch anderem Sprachmaterial hätte er sich eine lyrische Welt schaffen können? − verdichtet diese Haltung des kunsthistorisch interessierten Christen sich zum Bild des unangreifbar in sich ruhenden Kirchenbaus, hier nur ein Beispiel von mehreren ähnlichen:

Ordenskirche / Tilsit

Der altersgraue Bau am breiten Fluß
weiß gut, wie man dem Herren dienen muß
in Ruh und Sicherheit und treuem Sinn
und tat’s schon lang und tuts noch fürderhin.

Traditionelle Form, Jambus und Paarreim, vereinen sich mit der „Ruh und Si­cherheit“ eines stark ummauerten Sinns zu einer verstechnischen Panzerung, die die unübersehbaren Gräuel der NS-Zeit an der Gewissheit abprallen lassen, in einer ethisch gesicherten Innenwelt einen moralisch unangreifbaren Rückzugsort gefunden zu haben. Dieser schützt das lyrische Ich davor, sich in eine Bezie­hung zu dem begeben zu müssen, was um es herum vorgeht. Und doch kann es nicht leugnen, dass diese Haltung das Ergebnis einer Betroffenheit ist, die es eigentlich nicht spüren möchte. Es tritt damit in Widerspruch zu sich selbst, denn Unverletzlichkeit und Betroffenheit schließen einander aus. Das lyrische Ich verwandelt sich so vor sich selbst in das Bedürfnis nach seinem eigenen Verlust:

Ich werde beten, daß kein Gedanke mehr
in mir sich rege […].

Ist so ein Paradoxon einmal formuliert, gibt es aus der damit einhergehenden krisenhaften Einsicht in die eigentlich nicht gewollte eigene Verstrickung keinen Ausweg mehr. Von diesem Punkt aus sollte Bobrowski noch während des Krieges sein Schreiben radikal ändern und seine Texte öffnen für das, was sie anfangs auszuschließen trachteten. Sein bisheriges Schreiben erscheint ihm bald „wie Wanderer, die zuviel/ bedrängt, daß sich ihnen verschloß Aug und Ohr“. Die Versprechungen einer unverletzbaren Innerlichkeit werden nun in Frage gestellt: „Die Spur des Krieges aber ist eingebrannt/ den Herzen“. Bald werden mit einer nüchternen Sprache die Zerstörungen der äußeren Welt benannt und damit zugleich die der inneren konstatiert und, weit wichtiger noch, als die eigenen anerkannt. Die Sprache verliert ihren heilsgewissen Kontext, sie wurzelt nicht mehr im Ordo eines von ihr repräsentierbaren harmonischen Ganzen, sondern wird nun zum Mittel, jeden Eindruck solcher Verwurzelung zu zerstören. Sich selbst richtet sie, wo nicht gegen sich selbst, so doch gegen ihre bisherige Verwendungsweise und die ihr von Bobrowski einverschriebene Art der Bedeutungskonstitution. Bobrowski arbeitet sich weiterhin am Motiv des Kirchenbaus ab, konzentriert sich aber mehr und mehr auf die von den Deutschen zerstörten Kirchen in den besetzten Gebieten und gelangt, nun in der freier wirkenden Form antiker (vorrangig alkäischer) Oden, zu Landschaftsgedichten, die zugleich Beschreibung unmittelbar sichtbarer Zerstörung und Reflexion des Verlustes jener moralischen Selbstgewissheit sind, die seine Anfänge getragen hatte. Drei beispielhafte Strophen aus drei verschiedenen Gedichten:

Der Berg trägt widerwillig und müde nur
Die mächt’ge Krone, die sich zur Höhe zwingt,
daß endlich sich die Kuppel ründe
über der Türme verlor’ner Mühe.

***

Noch stehen Türme, die ihrer Kuppeln Last,
zerbrochnen Kronen gleich, aus der Trümmer Leid
aufheben, doch es fügt der Himmel
nur das zertretene Bild zusammen.

***

Leer sehn die Fensterhöhlen, leer bleibt die Tür,
geborsten ist das Dach, und es neigt der Turm
sich schon herüber, und es wäscht der
Regen zerbrochnes Gerät des Frommseins.

Bleibt in der ersten Strophe die „Kuppel“ als architektonische Vollendung des Sakralbaus eine zwar irreale, im Konjunktiv aber noch immer formulierbare Möglichkeit, so erweist sich in der zweiten alle Anstrengung der Türme als aus­gerichtet auf „das zertretene Bild“, also als letztlich vergebliche (weil auch vom „Himmel“ nicht mehr gerettete) Mühe, während in der dritten die Bilder der Zerstörung bereits übergreifen auf jenen religiös-ethischen Bildkern, den die ar­chitektonischen Motive doch in sich als ihr quasi unzerstörbares innerstes Arka­num hatten bewahren sollen. Der Kirchenbau ist deutlich in Auflösung begrif­fen – und mit ihm die ethische Haltung, für die er stand. Damit freilich verliert er seine grundsätzliche Funktion als Kontrastmotiv zur vom Krieg zerstörten Umwelt und wird Bestandteil derselben, ja mehr noch: Indem er durch seine Zerstörung Bestandteil jener Umgebung wird, vor der er doch hatte innere Si­cherheit gewähren sollen, ist er schon wieder mehr als nur ihr Bestandteil, son­dern, deshalb bleibt er als Motiv zentral, Chiffre für die Zerstörung der Hoff­nungen, die er einst hatte verkörpern sollen. In gewisser Weise bleibt er damit der Landschaft noch immer als semantisch stark markierter Bedeutungsträger entgegengesetzt, nur eben jetzt nicht mehr als Hoffnungsträger, sondern als Ausdruck von Verzweiflung.

Eingebettet in die Beschreibungen einer vom Krieg zerstörten Landschaft entstehen kühne Wendungen, deren Wortschatz sich ganz aus den für die naturalistische Beschreibung nötigen Wörtern zusammensetzt und doch mehr als nur Konkretes bedeutet, wie zum Beispiel „ertrinkend/ Kreuze“. Die „Kreuze“, diese symbolischen Träger aller Bedeutungen des Christentums schlechthin, sind nicht mehr unverbrüchliche Garanten einer besseren Ordnung, sondern Objekte und Exempel einer Zerstörung, die zugleich die Zerstörung dessen ist, was sie bedeuten. Das Partizip „ertrinkend“ intensiviert den Zerstörungsvorgang, ist er doch ebenso unabgeschlossen wie unaufhaltbar und bedeutet aufgrund seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit nicht nur den Tod mittlerweile abgestorbener Wertvorstellungen, sondern deren noch immer schmerzlich andauerndes Absterben. Das Bild des Ertrinkens betont das Ausgeliefertsein an ein fremdes und feindliches Element, welches in die Körper der Ertrinkenden eindringt und sie im innersten Kern ihrer selbst, dem einzigen der Innerlichkeit möglichen Ort der Integrität und Identität, durchdringt und so zutiefst korrumpiert. Für Bobrowskis Sprache hat dies die Konsequenz, dass sie nun in sich selbst und ihrer Zerstörtheit gefangen bleibt, realistisch und immanent und bestenfalls noch in der Lage, ihre eigene Unfähigkeit trauernd zu beklagen.

Sonst aber ist umher im Gefilde nichts,
nur der Wind geht hohlen Rufes die Felder ab.
Dem tönten Haßgesänge nach, wenn
Münder noch wären umher und Stimmen.

Sprache kann nur noch ausdrücken, dass sie nicht mehr auszudrücken vermag, was sie doch auszudrücken hätte. In sich selbst gefangen, spiegelt sie die Trostlosigkeit einer in ihrer Immanenz eingekerkerten Welt. Dem war Bobrowski 1944/45, wohl auch unter dem Druck der Kriegserfahrung, nicht gewachsen. Und so ist eines der letzten Gedichte aus dieser Zeit ein (vorübergehender) Abschied vom Schreiben und Dichten überhaupt:

Ihr Freunde, […]
vergebt, daß mir des glättenden Verses Maß
befremdlich wird, wie gläsern, so als
bräche es nun in den Händen, klirrend.

Auch wenn diese größtenteils erst aus dem Nachlass bekannt gewordenen frühen Gedichte nur wenig von der späteren Qualität Bobrowskis verraten, werden sie doch von manchen als in ihrer Zeit einmalige lyrische Verarbeitung des Krieges gelesen: Für Hans Dieter Schäfer sind sie ein „Höhepunkt innerhalb der binnendeutschen Lyrik jener Jahre. […] Man muß diese Gedichte im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Odendichtung sehen, um ihren Wert würdigen zu können.“

3. Nach dem Krieg

In der Kriegsgefangenschaft, Bernd Leistner hat dies in einem schönen Aufsatz in „Convivium“ 1998 gezeigt, beginnt Bobrowski neu und zwar zunächst mit Blick auf seine damalige Situation, Gedichte zu schreiben, in denen er der fernen Heimat gedenkt. Diese Texte haben Surrogatfunktion und sind nicht mehr zu rechtfertigen, sobald er Klarheit über das Ausmaß deutscher Schuld gewinnt – das Ende der Kriegsgefangenschaft geht einher mit dem Bekenntnis, Kommunist geworden zu sein und das Schreiben ganz aufgegeben zu haben.

Doch auch dabei bleibt es nicht. Das Bewusstsein der moralischen Korrumpiertheit der eigenen, der Tätersprache −

meine Sprache, nah
und rostig von Blut

− steht in ständigem Widerstreit mit dem Versuch, dieser Sprache doch gültige Aussagen abzugewinnen, gültig im doppelten, im ästhetischen wie im moralisch-politischen Sinne. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft beginnt er zunächst tastend, dann systematisch, eine lyrische Landschaft – und eine ganz eigene Sprache für diese – zu entwickeln, die alle Widersprüche in einer großen Synthese auflösen soll. Die verlorene Heimat soll erinnert werden als ein multikulturelles, von Litauern und Polen, Juden und (vor ihrer Auslöschung durch den Deutschen Orden) Pruzzen bewohntes Paradies, das durch die Ankunft der Deutschen – also nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg, sondern bereits mit der Aufsegelung Livlands, der Gründung des Ordensstaates und der Expansion Preußens nach Polen – zerstört wurde; der Nationalsozialismus erscheint da nur als Höhepunkt einer jahrhundertelangen schuldhaften Unterdrückung „des Ostens“ durch die Deutschen. „Eine lange Geschichte“, erklärt er, „aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. Zu Hilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock.“ Heißen soll der geplante Gedichtband „Sarmatischer Divan“, die für ihn entwickelte Sprache bezauberte die Leser sogleich und lockte sie in eine fremdartig magisch wirkende Welt, deren düstere Dimension – bis hin zur doch so zentralen Schuldreflexion – vielen Rezipienten zunächst entging. Das Eingangsgedicht geht so:

Anruf

Wilna, Eiche
du –
meine Birke,
Nowgorod –
einst in Wäldern aufflog
meiner Frühlinge Schrei, meiner Tage
Schritt erscholl überm Fluß.

Ach, es ist der helle
Glanz, das Sommergestirn,
fortgeschenkt, am Feuer
hockt der Märchenerzähler,
die nachtlang ihm lauschten, die Jungen
zogen davon.

Einsam wird er singen: Über die Steppe
fahren Wölfe, der Jäger
fand ein gelbes Gestein,
aufbranntʼ es im Mondlicht, −

Heiliges schwimmt,
ein Fisch,
durch die alten Täler, die waldigen
Täler noch, der Väter
Rede tönt noch herauf:
Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremder sein. Bald.

4. Abschied von Sarmatien

Ein gewisses Unbehagen scheint Bobrowsi schon vor der Publikation des Bandes ereilt zu haben, denn er betitelte ihn nun Sarmatische Zeit – an die Stelle des traditionsgesättigten ästhetischen Ewigkeitsanspruchs, der im Wort „Divan“ mitschwingt, tritt das Bewusstsein der Zeitlichkeit und verweist auf das Vergangen-Sein, ja das von den Deutschen verschuldete Zerstört-Sein dieser sarmatischen Welt. Nicht umsonst endet der Band programmatisch mit einer „Absage“, der der Verzicht auf die verlorene Heimat einverschrieben ist. Der Erfolg dieser Gedichte – bis in die westdeutschen Vertriebenenverbände hinein – machte Bobrowski skeptisch gegenüber seiner eigenen lyrischen Verfahrensweise. Er intensivierte im Folgenden die Schuldreflexion, machte sie deutlicher und bezog sich selbst explizit mit ein. Das sollte den Leser dazu auffordern, auch mit sich selbst so zu verfahren: „Da finden wir Schuldige über Schuldige und halten uns über sie auf und nehmen uns unterdessen vielleicht stillschweigend aus.“ In die als vom Krieg zerstört dargestellte Landschaft ordnet sein lyrisches Ich sich selbst als Verkörperung der zerstörenden Macht ein:

[…] zerstürzt
Stein, Gemäuer, der Bogen,
geborsten die Wand,

wo das Dorf stand
[…]

der auf den Höhen umher
geht, finster, der eigene
Schatten, er ruft, rauhstimmig
[…].

Das lyrische Ich in seiner dunklen Schuldhaftigkeit verunsichert und durchbricht die nostalgisch idyllisierte Welt Sarmatiens. Diese erscheint in zunehmendem Maße als eine bloße Konstruktion, die Darstellungsmodi und tief eingeprägte Formulierungsweisen wiederholt, welche seit jeher vom deutschen Herrenblick von oben herab auf „den Osten“ geworfen worden waren und die einstige deutsche Dominanz in der Region hatten rechtfertigen sollen. Die Einsicht in die Korrumpiertheit der eigenen Sprache führt zwangsläufig zu der Frage, inwieweit nicht auch die selbsterschaffene lyrische Welt noch von jener deutschen Überheblichkeit kontaminiert ist, von der sie doch befreien soll. Seine lyrische Welt zerfällt dem lyrischen Ich in seine Bestandteile und legt offen, nach welchen Prinzipien es diese kombiniert:

Immer zu benennen:
Den Baum, den Vogel im Flug,
den rötlichen Fels, wo der Strom
zieht, grün, und den Fisch
im weißen Rauch, wenn es dunkelt
über die Wälder herab.

Zeichen, Farben, es ist
ein Spiel, ich bin bedenklich,
es möchte nicht enden
gerecht.

Hatte er bisher womöglich nur Darstellungsmodi wiederholt, in die bereits Gewalt gegenüber der dargestellten Welt einverschrieben war? Mit welchem Recht behandelt überhaupt ein Deutscher den Osten noch einmal als eine letztlich von ihm mit Bedeutung beladene Landschaft und projiziert seine Geschichtsdeutung auf sie? Zumal, genau besehen, Bobrowskis Geschichtsmodell strukturell durchaus noch der nationalistischen Geschichtsschreibung mit ihrer historisch nicht unproblematischen Legitimation einer national deutsch gedeuteten Ausbreitung aus dem Westen Europas kommender Zivilisationstechniken als „deutsche Kulturarbeit im Osten“ verpflichtet war und nur deren Wertungen ins Gegenteil verkehrte, sodass die Deutschen nicht mehr als Heilsbringer erscheinen, sondern – von Beginn der Geschichte an – als Verderber. Alle Zweifel, die diesem Modell gegenüber anzubringen sind, äußerte Bobrowski selbst:

[D]as Thema Osten gehört mir ja im Grunde gar nicht, ich bin weder Pole noch Russe und schon gar nicht Jude. Das einzige, was mich berechtigen könnte, ist: Wenn ichs nicht sage, ist wieder einer weniger, der es den Deutschen, also meinen Leuten, vor Augen stellt. Aber da taucht die Frage nach dem Wahrheitsgehalt auf. Es könnte ja auch alles Schmuh sein bei mir, reizvoll vielleicht, weil gelind exotisch und eben nicht häufig. Aber – legitimieren müßte mich wohl erst einmal die Zustimmung der Betroffenen.

Heute zeigt uns die Bobrowski-Rezeption in diesen Ländern (vor allem in Litauen), dass er diese Zustimmung wohl hat. Aber das war damals kaum zu überprüfen und ändert nichts an der Gefahr, „den Osten“ nur einmal mehr für eigene ästhetische wie moralische Zwecke zu instrumentalisieren. Ein weiteres Mal musste Bobrowski sich häuten und befreien aus dem selbstgesponnenen Gespinst einer lyrischen Welt. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass das lyrische Ich sich selbst und seine Worte und Gestalten als gewalttätige Eindringlinge in der von ihm seiner Darstellung unterworfenen Welt begreifen und von sich selbst verlangen musste, sich selbst aus dieser Welt wieder zurückzunehmen, welche sich zudem bereits im Text selbst als eine bloße Projektion des lyrischen Ich offenzulegen hatte, bestehend nur aus Bestandteilen seiner selbst:

Begegnung

Vom überhängenden Baum
mit Namen
rief ich den wütenden Fisch.
Ich schrieb um den weißen Mond
eine Figur, geflügelt.
Aufträumt ich des Jägers Traum,
er beschlafe ein Wild.

Gewölk zieht über den Strom,
das ist meine Stimme.
Schneelicht über den Wäldern,
das ist mein Haar.
Über den finsteren Himmel
kam ich des Wegs,
Gras im Mund, mein Schatten
lehnte am Holzzaun, er sagte:
Nimm mich zurück.

Das lyrische Ich kommt nun wie sonst in Bobrowskis Lyrik nur die Ordensritter und deutschen Besatzungssoldaten fremd „[ü]ber den finsteren Himmel“ und verändert die Landschaft. Was immer das lyrische Ich in diesem Gedicht benennt, ist keine „Natur“ mehr, sondern von ihm erst hineingetragenes Produkt seiner selbst, Projektion. Diese Landschaft erlaubt keine Verschmelzung mehr, sondern erweist sich als Manipulation – bis hin zum Vergewaltigungstraum eines „Jägers […], er beschlafe ein Wild.“ Zuvor noch die Lyrik Bobrowskis durchziehende naturmystische Verschmelzungsträume, die einer nostalgisch erinnerten Landschaft gegolten hatten, schlagen um in ihr Gegenteil und diskreditieren sich selbst als Akte der Gewalt des Jägers, des Mächtigeren, gegenüber seinem „Wild“. Logische Folge ist die Bitte des Schattens, des Alter Ego des in die Landschaft hineingedichteten lyrischen Ich, es möge ihn, also sich selbst, aus ihr zurücknehmen.

Das Motiv der „Absage“ wird im Werk fortan immer stärker, im Gedicht Die Sokaiter Fähre vom 23.12.1964, einem der letzten Gedichte Bobrowskis und zugleich dem letzten mit sarmatisch-„östlicher“ Thematik, steht das lyrische Ich, als, wie es an anderer Stelle heißt, „ein Reisender, […] Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöriger, als einer, der kommt und weggeht“, auf einer Fähre, also nicht auf festem Boden und damit, betrachtet man die „Fähre“ als poetologische Metapher für das Gedicht und das Schreiben schlechthin, ohne physisch realen Bezug zu jener Welt, die es mit der Nennung des litauischen Ortsnamens gleichwohl aufruft. Das lyrische Ich versucht zwar, zu beobachten und in Kontakt zu treten mit seiner naturhaften Umgebung (Fischen und Vögeln), doch besteht diese für es nur aus „stummen Spuren“, die teils Naturzeichen, teils menschliche Zeichen sind, jedoch, wie es ausdrücklich heißt, „nicht für dich“, nicht für das lyrische Ich gedacht sind. Es hat in dieser Welt nichts mehr zu suchen.

Schon davor hatte Bobrowski von der Lyrik zur Prosa als Hauptausdrucksform gewechselt, „Levins Mühle“ wurde ein Roman in die eigene Familiengeschichte projizierter Schuldreflexion, die Erzählungen sollten seine Botschaft leichter greifbar machen als seine „dunkle“ Lyrik. Sein letzter Text, der Roman Litauische Claviere beruht auf einer systematischen Synthese und Demontage aller traditionellen Elemente des deutschen Litauerbildes, dessen Dekonstruktion bis in die komplexe Erzählanlage hineinreicht. Der Roman endet mit einer scheinbaren Offenheit, die tatsächlich keine ist – bereits in der erzählten Welt (das deutsch-litauische Grenzgebiet im Jahr 1936) treiben Nationalsozialisten ihr Unwesen. Ihre brutale, die erzählte Welt zerstörende Herrschaft aber beginnt erst nach dem Ende des Romans − Autor und Leser wissen das. Es gibt kein Zurück in diese nicht mehr existierende Welt. Wie Bobrowski nach seinem Krankenhausaufenthalt, hätte er denn überlebt, weitergeschrieben hätte, ist unabsehbar. Mit den Litauischen Clavieren hatte er eine Schreibweise und eine mit ihr verknüpfte literarische Welt nur geschaffen, um sie aufzugeben, diesmal aber ganz bewusst als bereits in die Textur selbst eingesenkten Gestus. Seine letzten Werke dienten der Begründung eines literarischen Verzichts, den sie zugleich vollführten – als Zentrum seines Werks erweist sich so der immer wieder wiederholte Akt der Verabschiedung eben dieses Werks.