Der letzte Talissone

Zu Johannes Bobrowskis Prußen

Von Thomas TaterkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Taterka

In Bobrowskis sarmatischem Kosmos stellen die Prußen dar, was in der Chronistik der Frühen Neuzeit ein Stammvolk heißt. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht im Thematischen, wo sie wichtig genug sind. Sie erschöpft sich auch nicht darin, dass die Prußen als ein Faszinosum durch Bobrowskis Texte ziehen, als ein vielbestauntes Wundertier der deutschen Literatur. Sie reicht tief hinab in die verwinkelten Eigenzustände, die man Identität nennt. Auszüge Bobrowskis zur Genealogie seiner Familie verraten gesteigerte Aufmerksamkeit für alles, was auf Prußisches verweist oder sich dorthin ziehen läßt. Auch die seiner Frau Johanna zugeschriebene Abstammung aus „alter pruzzischer Familie […] bedeutete ihm viel“, stellte Eberhard Haufe fest. Die Prußen sind ein Volk, dem Bobrowski die eigene Person annähern möchte. Sie sind identitätskonkret.

Das ist um so auffälliger, als Bobrowski seine „lieben Pruzzen“ nie allein auftreten läßt. Stets werden sie auf einem Bild mit dem zusammen gesehen, was für Bobrowski ihr genaues Gegenstück ist: mit dem Deutschen Orden. Mit dem in den Ordnungen der sarmatischen Welt unbedingt Bösen also, und mit dem unbedingt Deutschen. Die Prußen sind der eine Pol eines Verhältnisses, das alle Merkzeichen eines Sündenfalls an sich trägt und an dessen anderem Pol der Deutsche Orden angesiedelt ist. Sie bestimmen einander. Sie sind solidarische Größen. Sehr früh schon will Bobrowski dies so gesehen haben: „Die Aversion gegen den Orden mag überzogen sein, sie stammt noch aus meiner Schülerzeit und geht, wenn ich es jetzt überlege, auf den Einfluß Walther Harichs und noch mehr Alfred Brusts zurück, den ich damals kannte. Die Pruzzen waren mir damals so etwas wie der älteren Generation die Buren oder die Indianer. Und dann hat auch die Glorifizierung des Ordens durch die Nazis negativ gewirkt, denk ich.“ Hinter dieser Verteilung von Licht und Schatten, von Zuneigung und Abscheu verbirgt sich der Wunsch nach einer Gegen-Identität oder einer Neben-Identität. Der genaue Nachfahre der Ordensritter, als den der frühere Wehrmachtssoldat Bobrowski sich sah und sich auch zeichnete, verortet sich im selben Moment auch an dem anderen Pol dieses Verhältnisses, indem er die eigene Person von den Anderen herschreibt. Die forcierte Identifikation mit den Prußen ist zugleich eine Möglichkeit zur De-Identifikation. Sie sind eine Möglichkeit, als Deutscher selbst ein Anderer und anders in der Welt zu sein.

Freilich meldet sich dieser Wunsch in den veröffentlichten Gedichten nur gedämpft. Stets ist er begleitet von der Gewissheit, dass jener andere Zustand ein erträumter ist. Die Annäherung der eigenen Person an die Prußen gelingt nur im Modus der Nostalgie oder des Schlafes. Die Pruzzische Elegie setzt diese Gewissheit in Szene als eine Verzeitlichung des Raumes. Kindheit und Jugend des Ich sind festgeschrieben als Orte des „einst, als die Tage alle/ vollhingen noch von erhellten/ Kinderspielen, traumweiten –// damals in Wäldern der Heimat“. Dieser Ort des „einst“ und „damals“ ist vom Ich nicht mehr zu betreten. Der Heimatzustand ist unheilbar nostalgisch. In jeder Hinsicht unzugänglich ist die „Heimat“, von der in diesem Gedicht noch einmal überlaut die Rede ist, bevor Bobrowski sich das Wort für seine gültigen Texte verbieten und es nur mehr apokryph gebrauchen wird. Mit gutem Grund, wie Jürgen Joachimsthaler festhält: „Wie soll und von wo aus ein deutsches lyrisches Ich denn noch in eine verlorene Heimat blicken können, in die deutsche Schuld sich unauflösbar eingeschrieben hat?“ Unwiederbringlich verloren ist auch die „einst“, „damals“ dort mögliche naive Erinnerung. Sie haftete an einer ostpreußischen Landschaft, die das junge Ich prußisch deutete, „damals in Wäldern der Heimat“:

[…]
über des grünen Meeres
schaumigem Anprall, wo uns
rauchender Opferhaine
Schauer befiel, vor Steinen,
bei lange eingesunknen
Gräberhügeln, verwachsnen
Burgwällen, unter der Linde,
nieder vor Alter
[…]

Der Gegenwart des Sprechers ist diese prußisch gesehene Kindheitslandschaft verstellt. Begehbar ist sie allein in Traum und Schlaf, als eine Erinnerung zweiter Ordnung, als Erinnerung an eine Erinnerung. Die Erinnerung an die Prußen ist nicht zu lösen von der Erinnerung des Sprechers an das eigene Ich vor dieser Landschaft. Es wird zu einer prußischen Spur, die der Lektüre und Deutung bedarf. Die in den Notaten der 3 Gesichtspunkte festgehaltene Aufgabe, das „noch einmal gültig darstellen, ehe es ganz vergangen ist“, gilt hier weniger den Prußen selbst als einer Kindheitswelt, die dem Ich von der Erinnerung an die Prußen grundiert ist. Das eine wird im anderen erinnert und hervorgerufen, kann vielleicht auch nur im anderen erinnert und hervorgerufen werden. Beide, die prußisch imaginierte „Heimat“ als Landschaft des „einst“ und „damals“ und das Volk der Prußen, das diese Heimat einst bevölkerte und der Landschaft ihre Physiognomie verlieh, teilen ein Schicksal. Beide leben in der gleichen Erinnerung, in der gleichen Vergegenwärtigung, in dem gleichen „Gesang, vor Klage/ arm“, wie es in der vorletzten Strophe der Pruzzischen Elegie heißt.

Freilich steht die prußisch-preußische Erinnerung in Bobrowskis Gedichten unter dem Gewicht der vergehenden Zeit. Sie ist plastisch. In den Ordnungen der sarmatischen Welt wird sie Gegenstand einer gravierenden Verschiebung. Für den ostpreußischen Schüler mögen die Prußen die Stelle der Buren oder der Indianer eingenommen haben. Mit der Etablierung der sarmatischen Welt in den 1950er-Jahren hingegen fiel die Rolle, die zuvor den Prußen zukam, mehr und mehr den Juden zu. Man gewinnt den Eindruck, als würden Prußen und Juden in Konkurrenz um ein und denselben symbolischen Ort versetzt, in Konkurrenz um ein und dieselbe Systemstelle im Gefüge des sarmatischen Kosmos. Die auf die Prußen bezogene und deutlich kontrastiv zu lesende Zuschreibung „Volk […] wie keines, keines! des Todes“ in der Pruzzischen Elegie von 1952 nimmt sich aus wie eine Abwehrgeste. Bald darauf werden die Prußen im Gedicht den Juden angenähert, in Ausläufern seiner „Heimatdichtung“, die von Bobrowski selbst unbeirrbar durch Nichtveröffentlichung gekappt wird. Ablesen lässt sich die Nähe am langandauernden Nachzittern – oder, mit Osip Mandelstam zu sprechen, am Nachzirpen – eines Celan-Zitats aus der Todesfuge. Dieses Nachzirpen ist keineswegs nur in ‚jüdischen‘ Gedichten vernehmbar. Es findet sich auch und vor allem in den prußisch-preußischen, in Bobrowskis Heimatgedichten. Eine frühe Fassung von Heimat stellt es unverhüllt aus: „Dir ward ein Grab in den Lüften“. Eine jüngere Handschrift des Gedichts stimmt den Zitatcharakter herab zu „Dir ward eine Statt in den Lüften“. Zarteste Spur ist ein Nachklang in der Schwundstufe, als zeitweise allgegenwärtiges „in den Lüften“ oder auch einfach „in Lüften“ in Gedichten aus der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, die man mit vollem Recht Heimatgedichte nennen kann und die Bobrowski, der streng unterschied zwischen Schreiben und Veröffentlichen, allesamt nicht in Druck geben mochte. In Christburg schließlich, einem Gedicht über eine der Urszenen der deutschen Landnahme im Prußenland, ist zu sehen, wie Jüdisches und Prußisches verbal miteinander in Kontakt gebracht werden. Das auf die Schwundstufe reduzierte Sprachbild aus der Todesfuge und Bobrowskis insistierende Rede von den untergegangenen Prußen als „Volk“ aus der Pruzzischen Elegie füllen ein und dieselbe Strophe:

Und,
in Lüften,
ihr Name:
windlos, ein weißes Lied
vom Sterben des alten Volks,
des Volks im Dunkel,
des Wäldervolks.

Das allmähliche Verblassen des prußischen Fadens in der sarmatischen Textur mag in innerer Verbindung stehen mit der Verschiebung des Begriffs „Heimat“, die sich in Bobrowskis Gedichten vollzieht, mit dem Ausgreifen aus der eng umzirkelten preußischen Herkunftslandschaft in die Menschheitsweite der sarmatischen Raumzeit, die Bobrowski bis zum Scheitern seines sarmatischen Projekts eine Ausweichheimat zu bieten schien. Mit dieser Ausweitung mögen die Prußen weniger bedeutsam geworden sein. Ganz gewiss wurden sie weniger sichtbar. Veränderungen in Selbstauskünften können dies unterstreichen. In Bobrowskis vielzitierter Notiz für Hans Benders Anthologie Widerspiel – Deutsche Lyrik seit 1945 heißt es: „Zu schreiben begonnen habe ich am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht.“ Diese Notiz stammt vom Juli 1961. Sie löst eine im April 1959 entstandene Auskunft ab: „Geboren am 9.4.1917 in Tilsit, aus einer Familie, der unter anderem auch Joseph Conrad angehörte, aufgewachsen in Dorf und Kleinstadt im ehemals nordöstlichsten Winkel Deutschlands, wo Polen, Litauer, Letten, Reste des untergegangenen Pruzzenvolkes, Russen und Deutsche miteinander und durcheinander lebten – die Zigeuner dazu und mit ihnen allen die Judenheit.“ Kaum zwei Jahre darauf sind, wie oben zu sehen, aus der Selbstauskunft nicht nur die „Zigeuner“ und auch die „Letten“ verschwunden, die 1959 noch den Einbruch einer ganz anderen Erinnerung bezeichnen durften, eine Reminiszenz nicht an eine Kindheitslandschaft „um die Memel herum“, sondern an die unter Bann stehende „Zeit aus Schweigen“ als Wehrmachtssoldat im Baltikum, im Livland und Kurland der Jahre 1944/45. Auch die Prußen, denen Bobrowski sich hatte annähern wollen wie vielleicht keinem anderen Volk sonst, verschwinden 1961 von der Bildfläche, wo von der eigenen Person die Rede ist.

Aber nicht nur seine personale Identität, auch seine Identität als Schriftsteller, seine Autorschaft also, hatte Bobrowski einst prußisch begründen wollen – und zwar in zweifacher Hinsicht: sowohl als Dichter wie auch als Erzähler. Die Pruzzische Elegie sei „mein ältestes [Gedicht] überhaupt“, schreibt Bobrowski, während die um eine Figur prußischer Herkunft zentrierende Erzählung Von nachgelassenen Poesien Eberhard Haufe zufolge „den eigentlichen Anfang seiner Prosa“ darstellen sollte. Beides ist kontrafaktisch, wie wir wissen, von entscheidender Wichtigkeit also. Dabei stehen Wunschherkunft und Wunschautorschaft in einem prekären Verhältnis zueinander. Gelegentlich bestätigen sie einander, gelegentlich geraten sie in Opposition. In eben den Monat Juli des Jahres 1961, in dem die Selbstvorstellung von den „Resten des untergegangenen Pruzzenvolks“ bereinigt wird, fällt die Entstehung der Erzählung Von nachgelassenen Poesien, die Bobrowskis Autorschaft als Prosaschreiber begründet und in der mit der Figur des Ratssekretärs M. ebenjene „Reste des untergegangenen Pruzzenvolks“ im Zentrum der Erzählung stehen, die zu gleicher Zeit aus der Selbstvorstellung getilgt werden.

Die Prußen sollten aber nicht nur Ursprünge bezeichnen. Sie sollten auch ein Zentrum bilden, eine Mitte, die tragende Achse der sarmatischen Welt. Der langersehnte erste Gedichtband setzt diesen Wunsch Bobrowskis ins Bild. Der schmale Band ist organisiert als ikonisches Zeichen. Als im November 1961 die DDR-Ausgabe von Sarmatische Zeit im Union Verlag erscheint, ist sie in drei Teile gegliedert: I, II und III. Den zentralen zweiten Teil besetzt dabei die Pruzzische Elegie allein. In splendid isolation bildet sie das organisierende Zentrum der Sarmatischen Zeit, genau wie ihr Gegenüber, Celans Todesfuge, im 1952 – dem Jahr der Entstehung der Pruzzischen Elegie – erschienenen Gedichtband Mohn und Gedächtnis. Solcherart in Szene gesetzt wird der Anruf des untergegangenen prußischen Volks durch ein sich seiner ‚pruzzisch‘ gesehenen preußischen Heimat im Modus des einst und damals erinnerndes (versicherndes?) deutsches Ich. Dieses Anrufen, vorgetragen durch die in immer neuen Anläufen wiederholte und zunächst stets einen ganzen Vers füllende Apostrophe „Volk“, bildet das Zentrum des Bandes, eines Zyklus, der mit dem Gedicht Anruf einsetzt und mit dem Gedicht Absage endet. Die Pruzzische Elegie spiegelt in sich der Anlage des gesamtes Bandes. Hält man sich diesen Anspruch vor Augen – die Zentrierung einer poetischen Weltordnung, der die Kraft eignen sollte, Celan zu antworten, in der Pruzzischen Elegie –, so versteht man den Zorn und die Wut, mit denen Bobrowski die sieben Monate zuvor erschienene Westausgabe der Stuttgarter Verlags-Anstalt überzog. Dass sein westdeutscher Verlag ein Gedicht mit dem in unendlichen Wiederholungen ausgestellten Vokativ „Volk“ einem deutschen Publikum nicht zumuten zu können meinte, brachte Bobrowski dazu, die DDR brieflich als den besseren deutschen Staat auszurufen, wenige Monate nach dem Bau der Mauer, die ihm das Dasein zerschnitt. Um zu retten, was sich thematisch retten ließ, schob Bobrowski für die westdeutsche Ausgabe eilig Gestorbene Sprache nach, „weil sonst meine lieben Pruzzen fehlen würden“. Nicht zu retten freilich war damit die Architektur des Bandes mit der Pruzzischen Elegie als dem sinnfällig in die Mitte gerückten Dreh- und Angelpunkt der gesamten sarmatischen Welt.

Den beiden genannten wie einigen weiteren ‚prußischen‘ Gedichten wurde reichlich Aufmerksamkeit zuteil. Weniger Erfolg hatten zwei Gedichte, die Bobrowski selbst nicht veröffentlichen mochte – Lieder der Talissonen (Preußen 1240) (entstanden am 1.1.1954) und das bereits erwähnte Christburg (erste Niederschrift vermutlich am 30.11.1956). Beiden Gedichten werde ich mich im Folgenden kurz zuwenden.

Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei den Titeln: Lieder der Talissonen und Christburg. Beide markieren nicht nur Anfang und Ende eines historischen Geschehens, wie sich später zeigen wird. Sie gehen auch beide hervor aus demselben Ursprung, aus ein und derselben mittellateinischen Urkunde nämlich. Beides erkennt freilich nur, wer Altpreußisch ein wenig beschlagen ist. Ein ‚durchschnittlicher Leser‘ mag eher ratlos vor dem Wort „Talissonen“ stehen. Bobrowskis Musterleser, der gleichwohl nicht irre wird „an der Art der Zubereitung bei mir, an der Verschlüsselung oder an einer heimlichen Neigung zum Hermetismus“, ihm kann geholfen werden: „Gegen solche Besorgnisse stehen nun wieder viele Briefe, die ich bekomme. Die Briefschreiber haben durchaus verstanden, was ich vorhabe. Sie verlangen meistens weitere Aufschlüsse über Namen und Fakten. Die Anmerkungen genügen ihnen nicht. Und die Lexika auch nicht. Das ist nicht viel an Wirkung, zugegeben, aber es ist, glaube ich, gerade das, was man erwarten kann.“

Man kann diese Situation nachvollziehen, indem man sich bei Lieder der Talissonen (Preußen 1240) selbst zu einem solchen Musterleser macht und sich auf die Suche begibt, die Aufschluss geben soll, was die Namen und Fakten bedeuten. Da kein gescheites Nachschlagewerk bei der Hand ist in unserer kleinen mecklenburgischen Hansestadt, tun wir dies im Netz, in der Universalenzyklopädie, zu der Wikipedia heranwuchert. Hier erlebt man sogleich eine Enttäuschung: Ein Eintrag zu „Talissonen“ fehlt. Auch ein Verweis auf eine Stelle, wo sich allenfalls weitersuchen ließe, findet sich nicht – wenn man es nicht versuchen möchte mit dem als „ähnlicher Begriff“ angebotenen „Talismanen“.

Unterstützung kommt von einer Anmerkung Bobrowskis. Unter der Reinschrift notiert er eine Erklärung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: „Talissonen, Priester, führten die Volksaufstände der Pruzzen (Prußen) gegen den Deutschen Ritterorden, wie vorher gegen die Übergriffe der christianisierten Nachbarn“. So überzeugend ist Bobrowskis Anmerkung, dass sein Herausgeber Eberhard Haufe im Kommentar ohne Weiteres auf sie verweist, Bobrowski also zirkulär mit Bobrowski erklärt. Von eigener Hand setzt Haufe nur eine knappe Ergänzung hinzu: „Lieder der Talissonen sind nicht überliefert“.

Dies aufgesucht und nachgeschlagen: Weiß man nun, was es mit den „Talissonen“ des Gedichttitels auf sich hat? Ja. Hilft das beim Verstehen des Gedichtes? Wahrscheinlich. Nur, warum findet sich eine Erklärung zu den „Talissonen“ in der Anmerkung Bobrowskis, fehlt aber bei Wikipedia? Und warum dreht man sich im Internet im Kreis, wenn man beides – „Talissonen + Prußen“ – bei der Suche verbindet? Warum wird man mit allen brauchbaren Ergebnissen immer wieder auf Bobrowskis Gedicht und auf seine eigene Anmerkung dazu zurückverwiesen?

Wer weiterkommen will, der muss diesen Zirkel öffnen. Man muss selbst an die Quellen. Auch dafür ist Haufes Kommentar hilfreich. Er nennt vieles, was Bobrowski an Preußenliteratur besaß, was er gekannt haben mag und was ihn beeinflusst haben könnte. Dazu zählt die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts von Ludwig von Baczko und Johannes Voigt bis Heinrich von Treitschke, die schöne Literatur von Tielo und Alfred Brust bis Agnes Miegel und nicht zuletzt ein religionskundlicher Traktat von August Brosow. Liest man sich hier ein wenig ein, erkennt man das Problem rasch. Die prußischen Priester tauchen in nahezu allen Texten auf, die Haufe nennt. Nur heißen sie nirgendwo „Talissonen“, sondern stets und immer „Tulissonen“. Warum der Kommentar dies nicht vermerkt, wissen wir nicht. Ebenso wenig wird mitgeteilt, wie Bobrowski zu seiner Schreibweise gelangt ist. Ein Versehen wäre zwar denkbar, ist aber wenig wahrscheinlich. Denn dasselbe Wort begegnet – worauf der Kommentar ebenfalls nicht hinweist – in genau derselben Schriftgestalt ein halbes Jahrzehnt später im Prosastück Von nachgelassenen Poesien, wo dem Protagonisten die Frage gestellt wird, „ob im Nadrauischen wieder die Talissonen umgehn, die Regenmacher“. Die Form des Wortes bleibt dieselbe, während die Erklärungen miteinander streiten. Handelt es sich bei den Talissonen nun um Priester, die Volksaufstände anführten, wie unter Lieder der Talissonen (Preußen 1240) zu lesen ist? Oder um Regenmacher, die im Nadrauischen umgingen? Oder sind sie 1240 das eine und 400 Jahre darauf das andere?

Auch bei dieser Frage helfen die Kommentarbände der Werkausgabe nicht weiter. Der Kommentar zur Prosa spricht es dem Kommentar zur Lyrik nach, der es Bobrowskis Anmerkung nachspricht: „Talissonen“ seien „[h]eidnische Priester, welche die Aufstände gegen den Orden anführten“. Dies wiederholt zwar treu Bobrowskis Erklärung zu seinem Gedicht, geht aber hoffnungslos vorbei an allem, wovon in der Erzählung die Rede ist.

Weiter kommt man mit den von Eberhard Haufe erwähnten Quellen. Freilich melden auch sie unter „Tulissonen“ sehr Verschiedenes. Überhaupt kann die historische Forschung sich hier nicht einig werden, wie Hans Bertuleit festhält: „Über die Bedeutung der Namen Tulissones und Ligaschones sowie über die Stellung und Bedeutung der Träger derselben ist viel herumgeraten worden“. Die Deutungen schießen ins Kraut. Das ist umso erstaunlicher, als der Name selbst in der mittelalterlichen Überlieferung nur an einer einzigen Stelle begegnet, in einem Friedensschluss zwischen dem Deutschen Orden und den aufständischen Prußen Pomesaniens, des Ermlandes und Natangens aus dem Jahr 1249. Dieses Privileg für die reumütigen Prußen, mit dem der erste große Prußenaufstand endet, bestimmt die Tulissonen sehr genau:

Sie [die wiederbekehrten Prußen] haben auch versprochen, daß sie künftig keine Tulissonen und Ligaschonen [Tulissones vel Ligaschones] unter sich dulden würden, diese gänzlich lügnerischen Großsprecher, die gleichsam als Priester der Heiden bei den Leichenfeiern der Verstorbenen sich das Wehe der höllischen Qualen verdienen, indem sie das Schlechte gut nennen und die Toten für Hinterlist und Raub, Unreinigkeiten, Räubereien und andere Laster und Sünden loben, die sie zu Lebzeiten begangen haben; und mit zum Himmel gerichteten Augen ausrufend, versichern sie lügnerisch, daß sie den Verstorbenen gegenwärtig sähen, wie er durch die Mitte des Himmels auf einem Pferde fliege, geschmückt mit schimmernden Waffen, einen Sperber auf der Hand tragend und mit großem Gefolge in ein anderes zeitliches Leben einginge. Mit solchen und ähnlichen Lügen verführen sie das Volk und rufen es zu den Gebräuchen der Heiden zurück. Diese also haben sie versprochen, künftig nie mehr bei sich zu dulden.

Das ist es, was die einzige zeitgenössische Quelle zu den Tulissonen vermerkt. Es ist nicht wenig und es ist ungemein plastisch. Was Bobrowski in seiner Anmerkung zu Liedern der Talissonen notiert, das steht davon sehr ab. Zur Erinnerung: „Talissonen, Priester, führten die Volksaufstände der Pruzzen (Prußen) gegen den Deutschen Ritterorden, wie vorher gegen die Übergriffe der christianisierten Nachbarn.“ Doch wird Bobrowski die Quelle gekannt haben. Gerade seine Schreibung des Priesternamens spricht dafür. Diese Schreibung ist weder fehlerhaft noch idiosynkratisch. Der Chronist des 17. Jahrhunderts, mit dem die preußische Geschichtsschreibung quellenkritisch zu verfahren beginnt, Christoph Hartknoch, weist eigens auf sie hin: „Tulissones (in anderen Exemplaren wird geschrieben Talissones) & Liguschones“. In anderen Worten: Bobrowski schreibt den Namen nach einer Quelle, die die Nebenform Talissonen aufwies und damit vermutlich um einiges älter war als jene möglichen Vorlagen, die Eberhard Haufe nannte und die zu „Tulissonen“ ausgeglichen haben.

Dafür, dass Bobrowski die eine Urkunde kannte, in der allein der Name begegnet, spricht auch der Titel des anderen Gedichts, Christburg. Die Entstehungsdaten beider Gedichte liegen fast drei Jahre auseinander. Die Texte aber gehören zusammen. Stellt man sie nebeneinander, erzählen sie eine Geschichte. Schon die Namen in den Titeln deuten darauf hin, dass sie dies tun. Zwar fällt der Name der Talissonen in Christburg nicht, wie umgekehrt in Lieder der Talissonen der Name Christburg nicht erscheint. Erwähnungen übers Kreuz sind aber auch gar nicht notwendig, denn sie wären redundant. Beide Namen gehören zu ein und derselben Quelle: der erwähnten Urkunde, dem Friedensschluss im Jahr 1249. Die Geschichtsschreibung kennt ihn unter dem Ort seines Abschlusses, als Christburger Vertrag. Mit anderen Worten: Die titelstiftenden Namen der beiden Gedichte, Talissonen und Christburg, gehen auseinander hervor. Sie bestimmen einander wie Prußen und Deutscher Orden. Sie sind solidarische Größen.

Der Kommentar zu Bobrowskis Christburg freilich weiß, erstaunlich genug, vom Christburger Vertrag nichts. Damit wird der innere Zusammenhang zwischen beiden Gedichten nicht erkannt. Dies führt zu gravierenden Fehldeutungen. Nur ein Beispiel: Der Anfang der Versgruppe II, der Mitte des Gedichts, lautet wie folgt:

Sie kamen,
traten unter des Tors
Bogen, das Haus der Ritter
war geöffnet, die eisernen
Herren lehnten an kahler
Wand, sie hoben den Blick.

Denn von Gewässern und Hügeln
kamen die Männer, lungernden
Krieg zu enden. Der war
alt wie ihrer Väter
Steingräber
draußen.

Zu dieser in das Gedicht gleichsam eingelegten Kurzerzählung meldet der Kommentar: „Sie kamen – Nach L. v. Baczkos Darstellung eroberte der Deutsche Orden unter Heinrich von Weida 1247 (nach anderer Darstellung schon 1234) in der Christnacht eine in Pomesanien gelegene altpreußische Festung, die den Namen Christburg erhielt. 1248 eroberte der pommersche Herzog Schwantepol ‚mit einem großen Heere von eigenen Untertanen und abgefallenen Christen‘ diese Festung und machte die eingeschlossene Besatzung nieder. Darauf gründete der Orden nördlich davon die Festung Neu-Christburg. Den Untergang der Festung Alt-Christburg meint der II. Teil des Gedichts.“ Dies alles ist im Historischen ganz richtig. In Bezug auf Bobrowskis Gedicht jedoch ist es eine gravierende Fehlzuschreibung, die gänzlich in die Irre führt. Ein Geheimnis des Kommentars bleibt es, wie er zusammenzubringen wäre mit den Versen: „Sie kamen,/ traten unter des Tors/ Bogen, das Haus der Ritter/ war geöffnet“ oder auch mit „von Gewässern und Hügeln/ kamen die Männer, lungernden/ Krieg zu enden.“ Das kann sich unmöglich beziehen auf die Eroberung der Deutschordensfestung Alt-Christburg im Jahre 1248. Es bezieht sich auf den Frieden von Christburg, der 1249 eben den „lungernden Krieg“ beendete, dessen Herbeisingen und Befeuern Lieder der Talissonen so wortgewaltig vor Augen stellt. Zwischen Lieder der Talissonen (Preußen 1240) und Christburg verläuft eine Linie. Christburg markiert das Ende des Geschichtsgeschehens, das in Lieder der Talissonen (Preußen 1240) seinen Anfang nimmt. Es führt an das Ende der, wie in Bobrowskis Anmerkung zu lesen steht, von Talissonen angeführten „Volksaufstände der Pruzzen (Prußen) gegen den Deutschen Ritterorden“. Beide Gedichte sind aufeinander bezogen wie zwei Tafeln eines Gemäldes. Sie bilden ein Diptychon, das als solches auch gesehen und gedeutet werden muss: gleichsam „Preußen 1240“ und „Preußen 1249“.

Doppelgesichtig ist auch der Christburger Vertrag selbst. Er bezeichnet nicht nur das Ende eines „lungernden Krieges“. Er bezeichnet auch die dauerhafte Unterwerfung der prußischen Landschaften unter den Deutschen Orden. Von den reumütigen Wiederbekehrten fordert er ein Opfer. Er fordert das Opfer ihrer alten Religion und ihrer angestammten kultischen Praktiken: Die Tulissonen/Talissonen seien von den Prußen zu verstoßen. Auch in dieser Beziehung sind die beiden Gedichte miteinander verklammert: Die Talissonen, die den Aufstand anführten, wie in Bobrowskis Anmerkung zu lesen steht, werden zum Opfer des Friedensschlusses. Wenn man es darauf anlegt, die Linie zu verfolgen, die Bobrowski zwischen Liedern der Talissonen (Preußen 1240), Christburg und Von nachgelassenen Poesien absteckt: Prußische Priester, die Volksaufstände gegen den Orden anführten, werden durch den Vertrag von Christburg zu Leuten, die ein halbes Jahrtausend darauf als „Regenmacher im Nadrauischen“ begegnen können, ein gesunkener Priesterstand wie die Waidelotten oder Signoten oder Kriwaiten und wie die zahllosen Klassen der Zauberer alle heißen, die seit den Tagen der Humanisten und der allüberall Aberglauben und Götzendienst witternden preußischen Reformatoren die Darstellungen des altpreußischen Religions- und Glaubenswesens urplötzlich zu bevölkern beginnen und von hier in die historische Literatur wie in die kollektive Memoria der baltischen Völker eingegangen sind.

Aber sind die prußischen Talissonen/Tulissonen wirklich das, wofür Bobrowskis Anmerkung sie ausgibt? Anders gefragt: Deckt sich Bobrowskis Anmerkung mit dem Bild, das die Urkunde von 1249 liefert? Die beiden Bestimmungen des Namens decken sich in einem einzigen Punkt: in der Ansprache als Priester. Bereits das ist jedoch eine Zuweisung, die in der Urkunde selbst gründlich relativiert wird durch ein vorgelagertes „gleichsam“ („quasi gentiulium sacerdotes“). Weiter noch abgerückt vom Priestertum werden die „Tulissones vel Ligaschones“ durch eine zeitgenössische Glossierung, auf die der Berliner Mediävist Michael Brauer verweist. Die Namen werden glossiert durch „histriones“, „was im klassischen Latein soviel wie Schauspieler, Marktschreier und Scharlatan, im Mittellatein noch zusätzlich Jongleur und Hofnarr bedeutet“. Daraus sollte eine viele Jahrhunderte später einsetzende gelehrte Kombinatorik aus der Kraft der Analogie, der Etymologie und des Interesses ganz Anderes hervortreiben. Die oben herangezogene ältere Darstellung von Hans Bertuleit bringt den Stand der Dinge auf den Punkt, um die Fülle der auseinanderstrebenden Deutungen sogleich um eine weitere zu vermehren:

Über die Bedeutung der Namen Tulissones und Ligaschones sowie über die Stellung und Bedeutung der Träger derselben ist viel herumgeraten worden – von den „Kranken- und Leichenpriestern“ […] bis zu den „Priestern mit richterlichen Abzeichen“ […]. Wenn der Name Ligaschones etwas mit liga (lit[auisch]. = Krankheit) zu tun hat, gehörte zu den Funktionen dieser Priesterart vielleicht die Besprechung von Krankheiten. Ihre Haupttätigkeit entfalteten sie beide bei Leichenbegängnissen. Wenn der Orden bzw. der Verfasser der Ordensurkunde von 1249 diese Seite ihrer Wirksamkeit hervorhebt, muss sie ihnen besonders als eigenartig und sträflich aufgefallen sein. Wozu die schwungvolle Schilderung des Überganges der Abgeschiedenen in die andere Welt und die Verherrlichung ihrer Taten durch Rede und Gesang? […] Der letzte Zweck all dessen ist wohl die Beruhigung und Tröstung der Hinterbliebenen.

„Rede und Gesang“ – das führt zu Lieder der Talissonen, dem Titel von Bobrowskis Gedicht. Eine Doppelheit von „Rede und Gesang“ anzunehmen ist an sich überzeugend. Nur bleibt leider ganz unerfindlich, woher man von dieser Doppelheit wissen könnte. Die „Rede“ ist bestens beglaubigt durch die Urkunde von 1249. Wie Bertuleit hingegen auf „Gesang“ gekommen ist, bleibt sein Geheimnis. In der Urkunde steht davon nichts, und eine andere auch nur in etwa zeitgenössische Erwähnung der Tulissonen kennen wir nicht. Der Gesang ist, wird man sagen müssen, stille Zutat des Interpreten. Ähnliche Wege geht die Darstellung Christian Krollmanns, des hochgelehrten Direktors der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs im Königsberg der Zwischenkriegszeit, der die Tulissonen wenige Jahre später rundweg für prußische Skalden ausrufen sollte. Sehr erleichtert wurde Krollmann dies dadurch, dass er festhielt an der gelehrten Fabel von einer gotisch-kimbrischen Herkunft der Prußen. In die Welt getreten war diese Erzählung im Jahre 1518 mit den De Borvssiae Antiqvitatibvs des Zwickauer Bürgermeisters Erasmus Stella. Dies ist der sächsische Gelehrte, der die Gründung seiner Stadt auf einen Sohn des Herkules namens Cygnus zurückzuführen wusste und der Dante Aligheri eine Grabschrift auf den Markgrafen Dietrich von Meißen zuschrieb, die ein anderer sächsicher Gelehrter, Gotthold Ephraim Lessing, als Stellas selbsteigenes Machwerk entlarvte.

Man sieht: Mit der Umdeutung der Quasi-Priester der Urkunde von 1249 zu Sängern steht Bobrowski – der seinen Talissonen mit der Harfe und der (finnischen) Kantele auch gleich die richtigen Attribute an die Hand gibt – keineswegs allein. Überdehnung, Verschiebung, gelehrte Kombination, stille Zutat und freischwebende Spekulation sind auf dem Feld der frühen preußischen Geschichte lange Zeit eher die Regel als die Ausnahme, in den akademischen Darstellungen nicht weniger als in den belletristischen. Von dem, was die Quellen tatsächlich sagen, lassen sie oft genug nur ihrer Bestimmung entkleidete Namen übrig, um diese selbst nach Belieben neu einkleiden und für eigene Interessen in Dienst nehmen zu können. Bobrowskis pseudo-historische Anmerkung zu den „Talissonen“, mit der diese – das heißt, ihr Name – für sein Interesse verfügbar werden, liefert geradezu ein Lehrstück für diese Praxis.

Vielleicht am weitesten vorgearbeitet hat Bobrowskis Umdeutung der anonyme Verfasser einer im Kommentar der Werkausgabe leider nicht erwähnten Studie von 1870, Gottesidee und Cultus bei den alten Preußen. Ein Beitrag zur vergleichenden Sprachforschung. Hier werden die „Tulissonen“ der Urkunde von 1249 ohne Umschweife zu fahrenden Sängern und „dichtende[n] Rhapsode[n] der alten Preußen“ erklärt und zu „Seher[n]“ erhoben. Der alten Urkunde sei nicht zu trauen. Das Christburger Privileg habe die wahre Gestalt der Tulissonen durch ein Zerrbild ersetzt, mit Vorsatz:

Wahrlich, eine prächtige und piquante Charakteristik dieser Komödianten und Lügner! So ist es recht, ihr tugendsamen Ordenspriester! Aber eins hättet ihr ihnen noch an den Hals werfen sollen, um sie so recht zu discreditiren; ihr hättet sie „Romantiker und Volksdichter“ schelten sollen! Ihr musstet den Waenemoinen einsperren und alle Dainos confisciren, wenn ihr Ruhe haben wolltet vor jenen Landstreichern, an denen das Volk so fest hing, nachdem ihr es mit Feuer und Schwert gezwungen hattet, von seinen Göttern zu lassen.
Die mönchischen Ritter müssen diese Tulissones vel Lygassones, wie sie in den Urkunden benannt werden, für sehr gefährlich und einflussreich erachtet haben, sonst würden sie nicht 17 Jahre nach dem ersten Angriff auf die Selbstständigkeit der Pruzen gerade ihre Abschaffung und Entfernung stipulirt haben.

 Oder, kurz darauf:

Fort mit ihnen! fort mit aller Volkspoesie, die doch nur eitel Lüge und Aufschneiderei ist!
Durch diesen crassen Gegensatz mönchischer Aufklärung und naiver Gemüthsrichtung ist uns von den Chronisten unbewusst jene so überaus characteristische Schilderung des in dem Pruzenvolk lebendig gewesenen romantisch poetischen Sinnes aufbehalten worden, eine Überlieferung, die werthvoller ist, als man sie seither zu schätzen geneigt gewesen, denn sie stimmt vortrefflich zu dem Bilde dieser echten Naturkinder, wie es uns aus anderen Erscheinungen und aus den ihrer entstellenden Überzüge entkleideten und gereinigten Darstellungen des Mittelalters entgegentritt; sie stimmt vollständig zu den Überbleibseln der schönen Volkspoesie, welche uns in den litthauischen Dainos, in den randas [richtig: raudas, „Klagelieder“] und singes der Letten, in den Märchen und Liedern der Esten, in dem Epos der Finnen glücklicherweise aufbehalten ist, ein langsam dahin schwindender harmonischer Nachhall, der uns eigenthümlich berührt und seine eigene Sprache zu uns redet.

In dieser Wahrnehmung geraten Eroberung, Unterwerfung und Missonierung durch den Orden zu einem Anschlag auf den prußischen Volksgeist, nämlich auf den vorbildlich ausgeprägten „romantisch poetischen Sinn“ des prußischen Volkes:

Die fahrenden Sänger, die Volksdichter stempeln sie zu Heidenpriestern und die Volksanschauung, die Sitte, den alten Gebrauch, die naturwüchsige Volkspoesie und Romantik degradiren sie zum abscheulichen Götzendienst, jene Mönchsritter, welche von der modernen Auffassung in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts mit allem Zauber der Romantik bekleidet worden sind.

Das ist eine der Linien, auf denen Bobrowski seine Lieder der Talissonen (Preußen 1240) ansiedelt. Das Gedicht ließe sich zwanglos anschließen, bis hin zum Konzept des ‚Nachhalls‘, das Pruzzische Elegie und Lieder der Talissonen ebenso beredt wie bilderreich entfalten, indem sie es im „Gesang“ in Szene setzen. Selbst das Wort findet sich hier wie dort. Von „langsam dahin schwindende[m] harmonische[n] Nachhall“ spricht der Anonymus; „wie vernahmen wir da/ modernden, trüb verfärbten/ Nachhalls Rest!“, wird es 80 Jahre später in der Pruzzischen Elegie heißen.

Wie immer es um den „romantisch poetischen Sinn“ der alten Prußen bestellt gewesen sein mag: Dies ist nun selbst eine ausgesprochen ‚romantisch-poetische‘ Linie im Gefolge der Torso-Rhetorik des 18. Jahrhunderts, wird man sagen dürfen. Des „Nachhalls Rest“ ist keineswegs dort zu vernehmen, wo der Sprecher der Pruzzischen Elegie ihn vernehmen will, in peinlich strenger Befolgung der Spielregeln des romantischen Paradigmas. Medien dieses „Nachhalls“ sind nicht „der Greisinnen Lieder“, sind nicht „Berghänge“, nicht „Flüsse“, nicht „Steine und Wege“, nicht „Lieder abends und Sagen“, ist nicht „das Rascheln der Eidechsen“, ist nicht „das Wasser im Moor“ und sind leider, wie man sieht, auch nicht unbedingt die authentischen „Namen“. Wer sich Bobrowskis Lieder der Talissonen halblaut vorspricht auf der Suche nach den wahren Quellen und den wahren Stiftern dieses „Nachhalls“, der hätte sich wohl eher an den (Pseudo-)Ossian des James McPherson und das frühe Revival des altkeltischen mythologischen Wesens zu wenden, an Johann Gottfried Herder und die Gebrüder Grimm, an das finnische Kalevala, an den Psalter und an Rainer Maria Rilkes Cornet, um nur einiges zu nennen, dessen „Nachhall“ mir bei der Lektüre von Lieder der Talissonen im Ohr ist. Im Hintergrund fänden sich hier, wie in der Pruzzischen Elegie auch, keineswegs die als einzig würdig berufenen Akteure ‚Volk‘ und ‚Natur‘ – zwei Größen, die in der Rede Herders und der Romantiker wie der Brüder Grimm von der „Volksdichtung“ als „Naturpoesie“ auf das Innigste zusammenfinden –, fände sich auch nicht „der Greisinnen Gesang“ – eine genaue Übersetzung Bobrowskis für das Goetheʼsche/Herderʼsche „aus denen Kehlen der ältsten Müttergens“ –, fänden sich nicht Lied und Sage und auch nicht Name und Stein und Fluss und Baum und Tier und Landschaft, was alles von Bobrowski zu den wahren Residuen des Prußischen erhoben und ausgerufen wird.

Womit Bobrowski tatsächlich umgeht in Gedichten wie Pruzzische Elegie oder Lieder der Talissonen und was hier wirklich Nachhall stiftet, das ist mitnichten „Anruf der Vorzeit“, wie in der Pruzzischen Elegie zu lesen steht, sondern das sind ganz entschieden Schriftgeburten – Geschöpfe nämlich der elitären Schriftkultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die von ‚Volk‘ und ‚Natur‘ gleich weit entfernt ist. Wer deren Schöpfungen verstehen will, muss deren Verfertigung untersuchen. Oft genug vollzieht sie sich in abenteuerlichen Brückenschlägen im Rahmen einer Textkultur von atemberaubender Referenzfreiheit. Die Entstehung der dem Unendlichen zustrebenden und von jeder Zeit beliebig erweiterbaren ‚prußischen‘ Götterlisten etwa – aus denen im 19. Jahrhundert das Pantheon litauischer und lettischer National-Gottheiten hervorgehen sollte, als willkommene protonationale Ressource (Miroslav Hroch) im ‚nationalen Erwachen‘ der baltischen Völkerschaften, die nicht wie die Prußen bereits in anderen Völkern aufgegangen waren – auf den Gelehrtenschreibtischen des 15. bis 21. Jahrhunderts darf man sich getrost nach einem Muster vorstellen, dass der Sprachwissenschaftler Alexander Brückner mit abgründiger Ironie ausmalt: „[S]ie wollten den römischen Olymp bei sich wiedersehen und ihr guter Wille fand bald auch die Mittel hierzu. Sie hatten es sogar zugleich leichter als Długosz, denn während im Polen des XV. Jhdt. längst kein einziger Göttername bekannt war, war in Preußen der eine und andere, namentlich Perkuns, urkundlich festgelegt. Den Rest besorgten die Tolken [Dolmetscher] oder irgend ein des Preußischen halbwegs Kundiger. So entstand der Götterkanon der Agende von 1530 und des Melitius von 1545“. Einen einsamen Gipfel erreicht diese freischwebende Praxis der Verfertigung des prußischen Volkes und seines Kultus im Völkergemälde der preußischen Chronik des „Simon Grunau, dessen phantasiereiche Erzählung von dem Götterdienst der alten Preussen noch immer die unverdiente Ehre geniesst, in jeder Dorfschule der Jugend eingeprägt zu werden“ (Wilhelm Mannhardt). Grunaus „tendenziös entstellte Erzählung“ (Max Perlbach) mit der auch in der Pruzzischen Elegie wie selbstverständlich beschworenen Göttertrias im Zentrum, eine „wunderliche Mosaikarbeit“, für die „Grunau nicht allein Dusburg, Stella und Adam von Bremen, sondern auch Hieronymus von Prag bei Aeneas Sylvius, Długosz, die Friedensurkunde von 1249, die Collatio episcopi Warmiensis von 1418 und Wigand von Marburg sowie das Alte Testament [ausbeutete]“ (Mannhardt), hat „durch spätere treuherzige Benutzer […] die Tradition der preußischen Geschichte vergiftet“ (Perlbach).

In einem Satz: Was in Bobrowskis ‚prußischen‘ Gedichten in Wahrheit „Nachhall“ stiftet, oder auch „Nachhalls Rest“, das ist mitnichten das in der Pruzzischen Elegie so inständig berufene „Volk“, weder das prußische noch irgendein anderes. Der „Anruf der Vorzeit“ enstammt nicht der langen Kette der im romantischen Paradigma legitimen Spuren, die in der Pruzzischen Elegie in epischer Breite aufgereiht und vorgewiesen werden. Er verdankt sich der von Bobrowski als illegitim verbannten Spur der Schrift, der Schrift der exemplarisch Anderen zudem, der „Fremden“, wie die Deutschen bei Bobrowski häufig genannt werden. Die schönen wie die weniger schönen prußischen Volkszustände vor wie nach der Kolonialisierung, wie sie aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen hervorgehen, sind gewiss nicht nur, ganz gewiss aber auch der Traum schriftkundiger Anderer – ein Alptraum oder auch ein Wunschtraum, der sich im Raum der Schrift selbst zur Erfüllung bringt. Bobrowskis Lieder der Talissonen hat mit Gesängen prußischer Priester etwa so viel zu tun wie Garlieb Merkels Wannem Ymanta. Eine lettische Sage mit lettischen Traditionen einer eigenen Frühzeit vor der „Aufsegelung“ des Baltikums durch Deutsche oder wie Friedrich Robert Faehlmanns Estnische Sagen mit einer uralten Überlieferung, die im Munde des estnischen Volkes mehr als ein halbes Jahrtausend deutscher Kolonialherrschaft überdauert hätte. Bobrowskis Talissonen geben ein aus sehr verschiedenen Quellen gefügtes Bild, das durch einen dem Christburger Vertrag entnommenen Namen zusammengehalten und durch ihn prußisch/pruzzisch gerahmt wird. Ein genaues Vorbild mag Bobrowski am Umgang späterer Zeiten mit dem keltischen Priesterwesen zur Hand gewesen sein. Und tatsächlich mutet es an, als sei Bobrowski zu den Talissonen seines Gedichtes und zu seiner Anmerkung gelangt, indem er die von den römischen Autoren für die Kelten überlieferten drei Ordnungen der Priester, der Barden und der Druiden in eins gezogen und auf seine „lieben Pruzzen“ übertragen hat. Von hier ist es ein kleiner Schritt zu der schon an sich nicht fernliegenden Vermutung, dass auch an dieser Stelle tatsächlich Bobrowskis „Zuchtmeister“ Friedrich Gottlob Klopstock Pate gestanden haben mag, der ihm hier besonders zupass gekommen sein mag mit seinen Dichter-Sehern und Priester-Dichtern und Dichter-Führern, mit der Hügel-und-Hain-Rhetorik, vor allem aber mit dem Kult des „antreibenden Barden“ in seinen Bardieten. So oder so haben Bobrowskis Talissonen von Klopstock und den Seinen sehr viel mehr an sich als von der mittelalterlichen preußischen Überlieferung, mit der sie wenig mehr zu verbinden scheint als ein seiner historischen Bestimmung entkleideter und so zur Verfügungsmasse gemachter Name.

Am Schnittpunkt solcher Dispositionen und als Nachhall solchen Nachhalls ist die berühmte Pruzzische Elegie, ist aber auch ein geringeres Gedicht wie Lieder der Talissonen (Preußen 1240) entstanden. Dieses Gedicht ist nicht allein ein Text. Es ist auch eine Geste und ein Vorgang. Es ist beredter Ausdruck der Geste des In-den-Mund-Legens, die aus den Prußen das „pruzzische Palimpsest“ und aus diesem eine bequem verfügbare Projektionsfläche deutscher Kultur machte, wie Jürgen Joachimsthaler gezeigt hat. An diesen Projektionen wirkte Bobrowski für geraume Zeit mit, ungeachtet seiner älteren Einsicht, „daß Menschen keine Rechenexempel sind und Völker nicht lange selbst für den hartsinnigsten Betrachter das Gesicht einer Konstruktion beizubehalten vermögen“. Dann ist das Talissonen-Gedicht ein Vorgang. Es ist der Vorgang, in dem Bobrowski historische Gerechtigkeit herstellt, indem er eine in den baltischen Kulturen bis heute als traumatisch empfundene Lücke schließt: die Lücke zwischen der eigenen Geschichte und der Schrift der anderen. Die Postkolonialen Studien besitzen einen prägnanten Terminus für das, was in dieser Lücke verschwunden sein soll: stolen history. Die im Medium der Schrift gestohlene Geschichte muss im Medium der Schrift restituiert werden. Das ist es, was Bobrowski tut, als er am Neujahrstag des Jahres 1954 nach dem Muster der von Herder gerühmten „neuern Barden“ in seinen Liedern der Talissonen in eigener Person eine Talissonenstimme erzeugt – etwa so, wie McPherson sich zur Stimme des Ossian macht, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg sich zur Stimme eines Skalden, Klopstock sich zur Stimme der Barden, Garlieb Merkel sich zur Stimme lettischer Waidelotten, Wilhelm Grimm sich zur Stimme einer hessischen Märchenfrau, Elias Lönnrot sich zur finnischen Stimme eines Sängers der Sänger, Friedrich Robert Faehlmann sich zur Stimme einer estnischen Mythologie, Andrejs Pumpurs sich zum Mund des lettischen Volkes oder Wilhelm Jordan sich zur Stimme des deutschen Rheins, der im ‚Nachhall‘ seines Wellenschlags das uralt-echte germanische Nibelungenepos treu bewahrt habe in den schlimmen Jahrhunderten geistiger Überfremdung durch Rom und den Endreim. Alle miteinander machen sie sich zu Stimmen eines Volkes, für das und an dessen Stelle zu sprechen sie sich für unbedingt berechtigt und selbst verpflichtet halten, wenn sie mit den elaborierten Mitteln einer hochgezüchteten Schriftkultur im Namen von Wort und Klang ‚historische Gerechtigkeit‘ aus „des Nachhalls Rest“ herzustellen suchen, als eine vollgültige „restitutio ad integrum“, wie der Terminus des Codex Iustinianus lautet.

Wie das Herstellen dieser Gerechtigkeit zu geschehen habe, das sagt Bobrowski selbst in einem anderen Zusammenhang ironisch genug: „Wir/ häufen hier eine historische/ Unwahrheit auf die andere,/ um ein zutreffendes Bild zu bekommen.“ Das Schließen der bösen Lücke in der Überlieferung, das Heilen dieser von den Deutschen geschlagenen Wunde, das Singen und Sagen auf dem Papier anstelle eines „zertretenen Volkes“, das voreinst bedeutend gesprochen und gesungen haben muss – das alles sind denkbar wichtige, aber auch denkbar würdige Aufgaben. Bobrowski kannte die von dieser schönen Rolle ausgehenden Verlockungen ebenso gut, wie er die Gefahr der aus ihr fließenden und sich der historischen Phänomene mit verbaler Gewalt bemächtigenden Stilgeste – Sprechen „through a greater mouth“ nennt sie der große finnische Folklorist Lauri Honko – fürchten lernte. Bobrowski war Romantiker genug, dieser Versuchung für eine Weile nachzugeben und diese Stilgeste mit Nachdruck ins Werk zu setzen. Zugleich war er klarsichtig und auch ehrlich genug, die damit einhergehende Gefahr der Konstruktion, der Projektion, der Unterschiebung und selbst der Vergewaltigung wahrzunehmen, die im Vorgang verbaler Bemächtigung notwendig zur Verzerrung der Phänomene und schließlich zur Trennung von ihnen führten. Dies brachte ihn dazu, die Frage nach der eigenen Legitimation härter und härter zu stellen und sie schließlich ganz anders zu beantworten, auch und gerade in seinen späteren und so ganz anders ‚pruzzischen‘ Gedichten wie etwa Gestorbene Sprache oder Namen des Verfolgten. Vor allem aber war Bobrowski Dichter genug, dies alles im eigenen Gedicht zu reflektieren und im eigenen Dichten der Geste des Sich-Ermächtigens in fremdem Namen und des Sich-Bemächtigens anderer im Augenblick des Erfolges ein für alle Mal abzusagen.