Ein zwiespältiger Zauber
Ein neuer Sammelband zeigt Thomas Manns Faszination für romantisches Denken in zahlreichen Nuancen
Von Jonas Reinartz
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Und seine Zweige rauschten,/ Als riefen sie mir zu:/ Komm her zu mir, Geselle,/ Hier findst Du Deine Ruh’!“ Sympathie mit dem Tod, Rausch, Irrationalität: Das ist Thomas Mann und Romantik, so könnte man zunächst meinen. Doch weit gefehlt – trotz des für diesen Autor so typischen Antithesen-Denkens verhält es sich, wie so oft, ein wenig komplexer.
Dass das Lindenbaum-Lied sein Recht erhält, ist freilich unvermeidlich, worauf der Titel des von Regine Zeller, Tim Lörke und Jens Ewen herausgegebenen Sammelbands Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik auch vielsagend anspielt. Unter besagtem Schatten tummeln sich wiederum zahlreiche illustre Gestalten, darunter naheliegende wie Novalis, Adelbert von Chamisso und natürlich Richard Wagner, aber ebenso Gustav Freytag und der Außenseiter Peter Viereck.
Nach einem differenzierten Einstieg der Herausgeber über Manns Verhältnis zur Romantik und der diffizilen Bewertung dieser Epoche als solcher folgt direkt ein Paukenschlag. Man muss es wirklich so konstatieren: Nicht nur dem Umfang nach, sondern ebenso in puncto Klarheit, Verve und Esprit legt Matthias Löwe mit der Analyse der Romantik bei Thomas Mann als „Leitbegriff, Rezeptionsobjekt, Strukturphänomen“ die Messlatte derart hoch, dass sie von keinem der übrigen Beiträge mehr erreicht werden kann.
Löwe bewegt sich sowohl innerhalb der Mann- als auch der Novalis-Forschung absolut auf der Höhe. Unter anderem kann er sehr überzeugend darlegen, wie Mann aus Novalisʼ Glauben und Liebe (1798) einen „hochspeziellen Demokratie- und Republikbegriff übernimmt und ihn der Weimarer Republik überstülpt“, nämlich eine Demokratie ohne Konflikte und im Zeichen der Verbrüderung. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass an Löwes Aufsatz für die weitere Forschung zur Republikrede in Zukunft kein Weg vorbei führen wird.
Eines von zahlreichen Bonmots sei hier hervorgehoben, nämlich jenes von der „,Abbautätigkeit‘ im ,Zitatensteinbruch‘, als das Hardenbergs Werk bei Mann fungiert“. Das ist so treffend wie humorvoll formuliert: Hardenberg war bekanntlich als Salienassessor tätig und seine zweite Verlobte die Tochter eines Berghauptmanns.
Der Kontrast zu Markus Lorenzʼ Gedanken über die „poetologische[n] Entwicklungen der Romantik-Rezeption Thomas Manns“ könnte kaum größer sein. Ihm gelingen zwar Bemerkungen zu Variationen des Lindenbaummotivs, die per se vorzüglich ausfallen, allerdings werden diese in ihrer Effektivität von einer Anhäufung allzu gekünstelter Formulierungen (etwa „göttlich-licht[]“, „pathetisch-narzisstische Selbst-Zärtlichkeiten“) deutlich geschmälert.
So könnte man auch fragen, ob es sinnvoll ist, von einem „in den Hades hinabgestiegene[n] Lindenbaum“ zu sprechen. Wie dem auch sei, hier schwingt natürlich der persönliche Geschmack des Rezensenten mit. Vielleicht lässt sich dennoch festhalten, dass – Floskel hin oder her – weniger mehr gewesen wäre. Die interpretatorische Versiertheit und Belesenheit von Lorenz dürften auch ohne derlei Einlagen nicht in Zweifel zu ziehen sein.
In Ihrem Beitrag „Romantisierungsstrategien in Thomas Manns Buddenbrooks und Gustav Freytags Soll und Haben“ knüpft Irmtraud Hnilica nahtlos an ihre Dissertation Im Zauberkreis der großen Waage (2012) an. Im Grunde könnte man ihre Ausführungen als eine Art Fortsetzung beziehungsweise Spin-off betrachten. Wer also Hnilicas Monografie mit Gewinn gelesen hat, dem dürfte es mit ihrem Aufsatz in diesem Sammelband ähnlich gehen.
Obwohl sie selbst einräumt, dass dieser Thematik „wohl immer ein Moment der Spekulation anhafte[t]“, kann sie überzeugend darlegen, wie das Schweigen Manns über den übermächtigen – heute freilich aus bekannten Gründen zu recht in die Schmuddelecke verbannten – Vorgänger als eine eigenwillige „Einflussangst“ (Harold Boom) gedeutet werden kann: geprägt durch eine Verunsicherung hinsichtlich der literarischen Qualität desselben. Auch Hnilicas durch kontrastierende Lektüre gewonnenes Fazit, dass bei beiden Autoren eine Romantisierung des Alltags zu konstatieren ist, bei Mann im Sinne der Früh- und bei Freytag der Spätromantik, vermag zu überzeugen.
Als ideale Ergänzung erweist sich Nikolas Immers These vom „Schatten Chamissos“ bei Thomas Mann. Er legt präzise dar, wie auch in Köngliche Hoheit (1909) romantische Verzauberung waltet, nur eben nicht jene in Hoffmannʼscher Prägung, sondern in der des gebürtigen Franzosen und Schlemihl-Verfassers. Das zeigt auch, wenngleich nicht beabsichtigt, dass dieser zweite Roman Thomas Manns keinesfalls so aus der Art geschlagen ist, wie das gerne behauptet wird.
Zur Erhellung des Romans tragen auch die Ausführungen Anna Kinders „vor dem Hintergrund romantischer Geldtheorien“ bei. Im Zuge ihrer Dissertation Geldströme. Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns (2013) skizziert, führt ihre Interpretation mitunter Heureka-Momente herbei. Durch das zunächst etwas dröge anmutende Thema sollte man sich keinesfalls abschrecken lassen. Nach der Lektüre erscheint Manns unpopulärer Versuch, an seinen epochemachenden Kaufmannsroman anzuknüpfen, in einem anderen Licht. Ein ähnlicher Effekt stellt sich auch bei Christian Beiers präzisem Auffinden von „Spuren der romantische[n] Poetik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder“ ein.
Mitherausgeber Tim Lörke widmet sich in seinem Beitrag den „[a]mbitiösen Zweideutigkeiten“, das heißt den politischen Implikationen der widersprüchlichen Beschaffenheit von Adrian Leverkühns Musik im Doktor Faustus (1947). Allerdings derart voraussetzungsreich, musiktheoretisches Fachvokabular inklusive, dass ihm vermutlich nur ausgewiesene Kenner des Romans bis in alle Winkel seiner Argumentation folgen können. Hier wäre etwas mehr Erklärung wünschenswert, wenn auch wohl in diesem begrenzten Rahmen kaum zu leisten gewesen. Und wenn Lörke sich auf dieser Ebene bewegt, warum sollte er sich auch beschränken?
Voraussetzungsreich sind auch Walter Windisch-Laubes Ausführungen zur „musikalischen Kunst im Lichte des Lindenbaums“ geraten. Ohne vorherige Lektüre einschlägiger Forschung, etwa von Hans Rudolf Vagets Seelenzauber (2006), das an dieser Stelle wärmstens empfohlen sei, ist seinem Aufsatz nur schwer zu folgen. Wer jedoch hinsichtlich der Musikthematik im Œuvre Manns über solide Grundkenntnisse verfügt, kommt auf seine Kosten. Wie Windisch-Laube vor allem den scheinbar hinlänglich ausgeforschten Musikkapiteln aus dem Zauberberg (1924) noch faszinierende neue Details zu entlocken vermag, das interlässt bleibenden Eindruck.
Den politischen Implikationen der Romantik widmen sich noch drei weitere Beiträge: Während Ann-Cathrin Oelkers die „Teilhabe und Überwindung“ der romantischen Todessehnsucht analysiert und Bastian Schlüter Thomas Manns Position „unter den Historikern des Romantischen“ in den Blick nimmt, stellt Stefan Matuschek mit Peter Viereck einen kaum beachteten Autor vor, der dennoch für Mann nicht unwichtig war. Viereck (1916–2006), Sohn eines deutschen Faschisten, kritisierte den Vorzeige-Exilanten in seiner den Nationalsozialismus aus dem deutschen 19. Jahrhundert herleitenden Dissertation Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler (1941) deutlich, da dieser ausdrücklich Wagner als Denker schätze. Auch hinsichtlich der Analyse von Vierecks Monografie und deren Auswirkungen auf Manns Romantikverständnis sowie als Außenseitergeschichte innerhalb der amerikanischen Universitätslandschaft gib es hier einiges zu entdecken.
Sieht man einmal von kleinen Schönheitsfehlern, wie einigen Formatierungsnachlässigkeiten, einer fehlenden Auflistung mit genaueren Angaben zu den Autoren und dem Umstand, dass Titel in den Fußnoten nicht kursiviert werden, ab, so ist Im Schatten des Lindenbaums sehr zu empfehlen. Der Band zeichnet ein vielschichtiges Bild eines Autors, der beileibe nicht so durchschaubar ist, wie das zum Teil sogar in Teilen der Germanistik dargestellt wird.
Statt eines spießigen „Bordürenschwadroneurs“ („Titanic“), der einem zunehmend veralteten Literaturverständnis hinterherrennt, zeigen sich aufs Neue zahlreiche Spannungen unter einer nur scheinbar harmonischen Oberfläche – und das angesichts eines Themas, zu dem doch scheinbar alles gesagt schien. Über die Zukunft der Thomas-Mann-Forschung braucht man sich keine Sorgen zu machen.
|
||