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In ihrem zweiten Roman „Fürsorge“ lässt Anke Stelling eine Cartesianerin und eine Phänomenologin gegeneinander antreten

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schwer zu sagen, was mich bewegt, das alles zu erzählen.“ So lautet der erste Satz in Anke Stellings Fürsorge, und er gibt den weiteren Verlauf des Romans vor. In diesem Buch geht es nicht darum, Sicherheiten zu präsentieren oder gar ein bestimmte Handlungen auf markige Werturteile zu reduzieren. Alle Suche nach Bedeutung wird zu einer bis ins Ewige fortsetzbaren Bewegung, die das Nicht-Feststehende ausdrücklich mit einschließt. Das Resultat ist ein Text, der auf der Oberfläche unbewegt und beinahe statisch ist, in den tieferen Schichten jedoch eine Abgründigkeit offenbart.

Der Ich-Erzählerin Gesche, die am Anfang dieses Romans auftritt und sich immer wieder als scheinbar neutrale Chronistin in die Handlung einbringt, fällt es schwer, zu sagen, was sie dazu bewegt, über die Geschehnisse rund um die schöne Tänzerin Nadja und ihren bei der Großmutter Hanne lebenden Sohn Mario zu berichten. Im Prolog denkt sie über ihre eigene Position in dieser Geschichte nach. Ihre zentrale Frage lautet: „Doch was kann man tun, um seine Erscheinung zu beeinflussen?“ Sofort orientiert sich Gesche an dem, was „Stylisten und Persönlichkeitstrainer“ sagen, nämlich „viel“; für ihren eigenen Fall stellt sie lakonisch fest, dass ihr Vorname aus dem Friesischen stammt und ihre Eltern ihn ihr vermutlich deshalb gaben, weil sie ihn schön fanden. Diese Lakonie grundiert den ganzen Roman, aber für Nadja,  neben Mario die Hauptfigur, ist sie kein humoristisches Hintergrundgeräusch, sondern Ernst. Denn wenn Nadja zwei Dinge nicht versteht, dann sind das Spaß und Ablenkung.

Sie ist eine Person, die aus einer anderen, kälteren Welt als der diesseitigen zu stammen scheint. „Alles, was leicht aussieht, ist in Wirklichkeit das Ergebnis harter Arbeit.“ Das ist das Credo, dem Nadja all ihr Handeln unterordnet. Die Anerkennung von außen lässt sie ihre inneren Qualen beim Training vergessen. Gemäß dieser Logik begreift sie das Vergessen als „gnädigen Mechanismus im menschlichen Gehirn“; und wenn sie in die Apotheke geht, um ihre gewöhnliche Ration Abführmittel zu kaufen, führt sie und führt mit ihrer Apothekerfreundin Andrea ein Gespräch, das Folgendes nahelegt: Mit der Zeit wird der Körper schwach und krank; aber es gibt Abhilfe, denn die einzelnen Teile und Organe lassen sich austauschen wie bei einer Maschine. „,Sei vorsichtig‘, sagt Andrea, ‚sei vorsichtig mit dem Darm.‘“ Die Konsequenz dieses vermeintlich harmlosen Ratschlags offenbart sich erst im nächsten Absatz, wenn der Blick der Erzählerin auf die Pappaufsteller in der Apotheke fällt, über die es unter anderem heißt: „Es gibt einen Aufsteller, auf dem eine Frau die hubbelige Haut ihrer Oberschenkel abstreift wie eine Hose. Es gibt einen Aufsteller, auf dem der nackte Körper einer Frau aus verschiedenen Puzzleteilen besteht, von denen das eine oder andere herausfällt.“ Auch Nadjas Körper ist ein solches Objekt, das sie, den Vorstellungen ihrer Außenwelt folgend, in ein enges Korsett von Tanzbewegungen drängt. Im Lauf der Jahre hat sich Nadja damit in eine Verwertungslogik hineindrängen lassen, die alles andere überlagert, auch ihre Persönlichkeit. Die ist am Druck von außen zugrunde gegangen. Nadja ist eine Person ohne Interesse – im doppelten Wortsinn. Und dann trifft sie Mario wieder.

Damit sie in aller Ruhe trainieren und auf den Bühnen der Welt auftreten konnte, hat sie ihren Sohn kurz nach seiner Geburt vor 16 Jahren bei ihrer Mutter Hanne in Leipzig gelassen. Als Hanne 60 wird, fährt Nadja wieder nach Hause, denn in ihrem Leben gab es einen Umbruch: Sie tanzt nicht mehr, unterrichtet jetzt den Nachwuchs in Berlin, schließlich wird eine Tänzerin „nicht alt, irgendwann ist Schluss, macht der Körper nicht mehr mit, hat sich sein Kapital erschöpft“. Das Wiedersehen mit Mario und ihrer Mutter ist ein weiterer Schicksalspunkt in ihrem Leben, der mit einer ironischen Wendung einhergeht: Zum ersten Mal seit vielen Jahren ist Nadja „körperlich“ in Leipzig anwesend. Sie findet ihren Körper wieder, den der starre Regelapparat ihres Sportlerinnenalltags sie lange Zeit vergessen ließ. War diese Verdrängung ein gnädiger Mechanismus? Eher nicht.

Mario ist es, der sie aus ihrer Selbstvergessenheit reißt. Die beiden finden überhaupt nur deshalb zueinander, weil Mario die gleichen Schwächen hat wie seine Mutter. Seine „Träume handeln von Maschinen, von Griffen, kunstlederbezogenen Bänken, Schweiß. Mario wird eingezwängt, in Schräglage zwischen den Gewichten, doch er befreit sich aus eigener Kraft“. Den Impuls für alles Folgende gibt Marios Bodybuilder-Darbietung in einer der „übersanierten Villen“ Leipzigs. Dort bemerkt Nadja, dass ihr Sohn nicht nur das Resultat einer Vereinigung zwischen ihr und irgendeinem Mann ist, sondern auch ein Geistesverwandter: „Er zeigt nicht nur einfach eine Nummer, sondern das Ergebnis jahrelangen Trainings und absoluter Selbstbeherrschung, die sich in Leichtigkeit und Genuss auflösen. Zumindest für den Augenblick und in den Augen des Zuschauers.“ Im Gegensatz zu Nadja ist Mario impulsiv, er bewegt sich mal hierhin, mal dorthin. Das imponiert Nadja. Er beweist ihr, dass Selbstdisziplin auch einem flatterhaften Menschen möglich ist, der seinen Körper gerne ausprobiert. So entspinnt sich eine verstörende Liebesbeziehung, die Nadja wieder zurück zu sich selbst führt – und zu ihrem Körper.

Doch der Verlust ist diesem Verhältnis schon von Anfang an eingeschrieben. Mario lebt in seiner Welt, Nadja in ihrer. Mario versucht, obwohl er noch zur Schule geht, Fuß in einem Fitnessstudio zu fassen, doch er merkt nicht, dass sein Chef ihn ausnutzt. Nadja lebt in Berlin mit dem erfolglosen Komponisten Daniel zusammen, der noch dazu heroinabhängig und kaufsüchtig ist. So wartet Nadja jeden Tag auf ihren Liebhabersohn, aber es ist offensichtlich, dass sie sich früher oder später ­zumindest zeitweilig ­nicht mehr sehen werden.

Verloren hat Nadja ihren Körper auch, weil ihre Außenwelt ihr die ganze Zeit über zu verstehen gab, ihr exzessives Training sei ausschließlich positiv. Marios Selbstbeherrschung hat hingegen etwas Proteisches, ein Umstand, der Nadja ohne Weiteres verwirren muss. Wie ist es möglich, den Körper gleichzeitig durch harte Arbeit zu trainieren und ihm dennoch alle Freiheiten zu lassen? Durch die Beziehung zu Mario muss sich Nadja ihrer ewigen Selbstverweigerung stellen; weil sie ihren Körper durch den Tanz zur Vollkommenheit trieb, vergaß sie alle ihre Bedürfnisse, oder konnte sie erst dadurch vergessen. Sie weiß nicht, wie sich Liebe anfühlt. Mario teilt ihr perfektionistisches Körperbild, aber alle daraus folgenden zerstörerischen Kräfte kann er auf eine spielerische Art mit seinen Impulsen bannen; so ist es ihm möglich, mit seinen Schulkameraden (von Freunden kann keine Rede sein) an den See zu gehen. Er kann sich der Welt öffnen, während seine Mutter sich ihr mehr und mehr verschließt. Nadjas Beziehung zu Mario läuft damit auf ein Ziel hinaus: Seine Unbekümmertheit lässt sie erkennen, dass sie auf ihre eigenen Bedürfnisse hören muss. Der zum Lifestyle-Zitat degradierte Orakelspruch Nosce te ipsum hatte niemals einen grausameren Unterton als in diesem Roman. Um ihrer selbst gewahr zu werden, muss Nadja ihr altes Selbst abstreifen und sich auf eine Beziehung einlassen, die so niemals geplant war und auch nicht geplant sein darf.

Und was tut Gesche? Sie versucht, ihr eigenes Verhalten an dem Nadjas zu messen. Ein Vorhaben, das auf den ersten Blick natürlich monströs erscheint. Denn Gesche missbraucht ihre Kinder nicht. Aber auch sie hat sich in einer ihr aufgezwungenen Rolle verheddert. Das wird am Anfang des Romans deutlich, wenn sie schildert, wie sie zum ersten Mal  Nadja begegnete. Gesches Mann Volker ist mit Daniel befreundet; bei einem gemeinsamen Abendessen trifft Gesche dann auch auf Nadja. „Ich bin in meine hellblaue Umstandsbluse gewickelt und wünsche mich weit weg“, schreibt sie, „aber Volker hat den Babysitter bestellt, Volker will wieder mehr mit mir zusammen ausgehen, kinderlose Freunde haben, Künstlerfreunde, Freunde mit Ostbiographie.“ Während im Verlauf des Romans immer klarer wird, dass Nadja eine Gefangene ihres eigenen Körperbildes ist, verhält es sich bei Gesche ganz anders. Sie versucht, den Anforderungen gerecht zu werden, die die Gesellschaft an sie als Mutter stellt: Sie hat drei Kinder, die ihr „ausgeliefert“ sind; sie kümmert sich um sie, wenn sie krank sind und ordnet sich ihren Bedürfnissen unter; aber niemals würde sie behaupten, dass dies nicht auch ihr Bedürfnis sei. Doch ist sie sich im Klaren darüber, dass schlussendlich alles „selbstsüchtige Motive“ hat, und dazu zählen auch „Rücksichtnahme und Opferbereitschaft“. Letztlich dienen ihr die eigenen Kinder auch dazu, sich selbst zu bestätigen. „Etwas in mir scheint ganz genau zu spüren, wer was denkt und was von wem hält“, ist an einer anderen Stelle zu lesen. Gesche begibt sich damit in die Position, die sie selbst für kritikwürdig erachtet; sie ist die Stimme der anderen, die über einen Mitmenschen urteilt, in diesem Falle über Nadja, die mit dem emotionalen und körperlichen Missbrauch ihres Sohnes ein Verbrechen begangen hat, das zutiefst verachtenswert ist.

Nadja ist eine Figur, die sich selbst reflektiert, jedoch auf eine dingliche und nicht auf eine intellektuelle Art. Bei ihr fließen das Erkennen im epistemologischen Sinn und das Wiedererkennen des eigenen Körpers im Spiegel zusammen. Sie handelt und denkt mit ihrem Leib. Gesche weiß hingegen noch, wie sie mal ihren Körper, mal ihren Geist in die Welt einbringen kann, und ist in diesem Sinne eine Cartesianerin, die sich einen abstrakten Begriff von sich selbst und ihrer Umgebung macht, indem sie alle Gerüchte und Fakten über Nadja zusammenträgt und zu einer Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende verknüpft. Nadja hingegen ist eine radikale Phänomenologin, die ihren Körper als zuhandenes Werkzeug begreift, das sie durch die Welt führen kann, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie die Prämissen ihres Handelns lauten. Die Beziehung zu Mario stellt ihr phänomenologisches Körperverständnis auf die Probe, während Gesche ihre Version der Geschichte erzählen und sie dadurch bestätigen darf.

Die Cartesianerin hat den Konflikt also für sich entschieden. Ihr Mittel ist vor allem die Lakonie. Bislang dürfte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch kaum ein Roman zu lesen gewesen sein, der körperlichen und emotionalen Missbrauch auf eine so beiläufig-distanzierte Art beschrieben hat. Anke Stellings Stil schmiegt sich dem Inhalt an. Wenn sie über Körperfunktionen und Körperdarstellungen schreibt, dann ist der Körper etwas Anderes, Außenstehendes, das nicht zu der jeweiligen Person gehört. Er ist ein Potenzial, das ausgenutzt (und ausgebeutet) werden kann, egal, ob durch Tanz, Fitness oder Arbeit. In einer kleinen, ungeheuerlichen Beziehungskonstellation wirft Stelling die Frage auf, wie die Sprache über den Körper denselben entstellt und ihn zu etwas Anderem macht, das niemals vorgesehen war.

Titelbild

Anke Stelling: Fürsorge. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
176 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957322326

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