Präsidentenmord

Jerome Charyn beendet seine Isaac Sidel-Reihe mit dem zwölften Band und mit unmöglichen amerikanischen Präsidenten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als 40 Jahre für zwölf Romane – Jerome Charyn hat über lange Zeit hinweg  an seinem Hauptwerk geschrieben. Das ist vielleicht nicht übermäßig produktiv, aber das macht nichts. Jeder einzelne dieser Romane ist eine einmalige Erscheinung und ein Unikum im so blütenreichen Krimikosmos. Charyn begann seine Krimireihe, die erst nach und nach auf den New Yorker Polizeichef Sidel einschwenkte, eigentlich nur, wie er in seinem Nachwort zum zwölften Band der Reihe schreibt, um seine chronische Erfolglosigkeit zu überwinden. Die ersten Romane drehen sich noch um einen seiner Cops, „Blue Eye“, und um seine Tochter, „Marylin the Wild“. Erst danach rückt Sidel in den Vordergrund und behauptet sich dort. Er ist, was für einen Cop wie ihn erstaunlich ist, nicht umzubringen.

Ein Autor will gelesen werden, und wenn das nach fünf Büchern noch nicht gelungen ist, dann muss er sich etwas einfallen lassen. Und Charyn ließ sich einfallen, mit seinem Bruder – einem Cop – zu sprechen, der ihm Zugang zu jener anderen Welt verschaffte, der er in den folgenden Jahrzehnten zu einer immer wieder beeindruckenden Erscheinungsform verhalf. Nichts an diesen Romanen ist realistisch – eigentlich eine Basisvoraussetzung des Krimis –, alles ist schwebend, geheimnisvoll, mystisch, surreal. Cops können hier unverwundbar sein, Killer Engel und Kriminelle die eigentlichen Helden.

Sidel, der zur großen Figur der Reihe heranwuchs, ist kein lupenreiner Held, aber er ist eine enorme moralische Instanz. Und das, obwohl er – was unter amerikanischen Krimi-Cops fast schon zwingend ist – gegen alle Gesetze verstößt, die sich dafür anbieten. Er verstößt gegen die rudimentären Regeln einer Gesellschaft, aber er bleibt doch unantastbar. Er ist das Gegenteil eines Politikers, was es ihm erlaubt, sich über Rücksichten hinwegzusetzen, die ein Politiker nehmen muss: Rücksichten auf andere Interessen, auf die Partei,  auf Instanzen und Regeln, auch auf die eigene Karriere oder die Wiederwahl. Sidel ist das Gegenmodell zu Francis Underwood aus House of Cards, kein Taktierer, niemand, der  Fäden zieht, niemand, der sich selbst als Mittelpunkt der Welt sieht. Sidel ist ein Macher, der zwar auf Grenzen stößt, die er nicht überwinden kann. Aber das politische System von „check and balance“, das die Extreme jeder amerikanischen Präsidentschaft zu kappen versteht (und das wohl die Verachtung jedes populistischen Ansatzes auf sich zieht), unterläuft er glatt. Das macht seine Popularität aus. Er ist der Tod des politischen Systems – kein Wunder, dass es seinen Tod wünscht.

Kaum Präsident geworden, fallen Sidels Umfragewerte ins Bodenlose. Seine eigene Partei will ihn loswerden und tauscht seine Stabschefin gegen eine Frau ihres Vertrauens aus. Unter Fondsmanagern werden Wetten abgeschlossen, dass Sidel das erste Jahr seiner Präsidentschaft nicht überleben wird. Und in der Unterwelt ist ein Wettbewerb ausgerufen worden, wer Sidel als erstes tötet. Und das dem Unantastbaren. Man will ihn loswerden – und kommt doch nicht an ihn ran.

Nirgends ist Sidel mehr sicher: Bei seinem Aufenthalt auf Camp David wird der Landsitz des Präsidenten überfallen, ohne dass seine Sicherheitsleute irgendetwas dagegen tun können. Bei seinem  Besuch in der tschechischen Republik geht quasi unter seinem Hintern eine Bombe hoch. Und die Kinderfrau seines persönlichen Piloten entpuppt sich als eingeschmuggelte Killerin, die irgendwann auch einmal ihren Auftrag erledigen will.

Ob sich Sidel auf seinen Vizepräsidenten verlassen kann, ist ebenso ungewiss wie die Frage, ob er seiner Entourage trauen sollte. Er findet Nachrichten unter seinem Föhn, wo sie nicht hinkommen sollten. Zwei ehemalige israelische Geheimdienstleute haben keine Probleme, zu ihm vorzustoßen – um ihn zu warnen. Ein vormaliger Regierungsmann, der sich selbständig gemacht hat, spaziert durch alle Sicherheitskontrollen und ist nicht zu fassen. Und die Fäden zieht der Sohn eines ehemaligen GULAG-Häftlings. Mit anderen Worten: Die Situation ist unhaltbar. Was ziemlich genau dem Normalzustand von Sidels Handlungskontexten entspricht. Nie sah es gut für ihn aus, und nie hat er Zweifel daran gehabt, dass er genau das tun sollte, was er tun wird.

Sidels Wege sind unergründlich. Bemerkenswerter Weise tut Sidel dennoch genau das, was jeder Ermittler in einem Krimi tut: Er spricht mit Leuten und fragt sich durch, so dass er am Ende ein Ergebnis hat, aus dem heraus sich Folgen ziehen lassen. Womit nicht verraten ist, was das für Sidels Schicksal heißt.

Obwohl damit der Fokus auf dem Spiel Charyns mit dem Krimigenre, seiner eigenen Wortgewalt und der Weiterentwicklung seiner Figuren liegt, kommt Winterwarnung zugleich auf unerhörte Weise zur rechten Zeit.Denn vieles in der Fiktion ist von irritierender Aktualität. Winterwarnung spielt zwar um 1989, also gerade im Übergang von Ronald Reagan zu George H. W. Bush (dem Älteren) – beide Republikaner – während Sidel auf dem Ticket der Demokraten fährt. Aber der Roman erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Mann amerikanischer Präsident wird, der gleichfalls auf sich hält, kein Politiker, sondern ein Macher zu sein; jemand, der keine Rücksicht auf politische Gepflogenheiten nimmt, sondern tut, was zu tun ist.

Die Unterschiede zwischen Donald Trump und Sidel könnten zwar größer nicht sein: der eine ein Cop, der andere ein Bauunternehmer und Medienmann; der eine hat nichts in der Tasche und tut nichts nur für sich; der andere gilt als großer Egomane. Und so weiter.Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Beide ecken mit dem politischen System und seinen angeblichen oder tatsächlichen Verlogenheiten an. Beide punkten mit unkonventionellen Entscheidungen. Beide stören sich nicht daran, dass sie gegen Regeln verstoßen, wenn es denn hilft. Solche Gemeinsamkeiten irritieren und beunruhigen, vor allem wenn Charyns Roman als Entwurf einer möglichen Realität verstanden wird.

Dass Peter Sloterdijk vor kurzem zudem kaum verhohlen prophezeit hat, dass Trump einem Attentat zum Opfer fallen wird, beruhigt auch nicht gerade. Die Treibjagd auf Sidel hat zwar nichts mit dem zu tun, was die Präsidentschaft Trumps auszeichnet und kennzeichnen wird, aber es bleibt ein unangenehmes Gefühl, das allerdings nicht zu Lasten dieses Romans geht.

Titelbild

Jerome Charyn: Winterwarnung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen Englisch von Sabine Schulz.
Diaphanes Verlag, Berlin 2017.
328 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783037346488

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