Tabula rasa mit Fußnoten
Hendrik Rost (über-)hört das Vermächtnis der Stimmen
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWarum sind diese Gedichte schön? Eine „Methode“ dafür gibt es nicht. Das stellt Hendrik Rost schon im ersten Gedicht des Bandes Das Liebesleben der Stimmen klar. Stattdessen liefert er eine „Handhabe“, einen kurzen Aufriss dessen, was in der „virtuosen Zwischenzeit“ des Dichtens geschehen soll, in den vielen Nächten, die verstreichen müssen, bis die „Kombinationen im Innern“ ein „neues Joch“, das heißt etwas unerhört Eigenes ergeben. Keine leichte Aufgabe, gewiss. Denn das „Innenleben, killekille“ lässt sich nicht mit poetischen Mätzchen hervorkitzeln. Im Kapitel „Frei Schnauze“ reibt sich der eigene „Singsang“, das lyrische „Getuschel“ und „Gestammel“ an der Unmöglichkeit, eine wirklich „eigene Sprache“ zu entwickeln. Die eigene Sprache ist nämlich „von vorn bis hinten Fiktion“, sie ist immer schon intertextuelles Echo und Zitat, „Sprache anderer“, genauso wie auch das eigene Gedicht beim Lesen entfremdet, falsch zitiert und interpretiert werden wird, ein Missbrauch, dem Rost in seiner selbstironisch-melancholischen „Poetenverfügung“ aber ausdrücklich zustimmt.
Das sind die Pole, zwischen die Rosts Lyrik gespannt ist: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, „sich Rilke von den Lippen [zu] wischen“, dem Impuls zum „Nachgesang“ zu widerstehen, stattdessen nur noch sich selbst zu „imitieren“, um das „neue Joch“ des Eigenen zu finden, und, auf der anderen, die nahezu erdrückende Gegenwart der Tradition, das klare Wissen um Macht und Omnipräsenz der Altvorderen. Gerade in der Lyrik, bei der das Epigonale so nahe liegt, mag dieses Wissen eine ganz besondere Herausforderung sein. Die Formel „Alte Schönheit in neuem Gewand“ ist dabei – bezogen zum Beispiel auf die von allem Überflüssigen befreiten, transluziden Landschaften des Schweizer Lyrikers Philippe Jaccottet – nur ein Versuch, sich der unmöglichen Aufgabe anzunähern. Noch sind die Eltern nur im Traum gänzlich verloren, „noch ist die Welt/ nicht vollkommen verwaist.“ Doch die Gleichgültigkeit der „Ahnen“, die am Ufer stehen und einem ungerührt beim Ertrinken zusehen, ist letztlich kein gutes Omen.
Und so muss die eigene Form trotz alledem völlig neu und ohne fremde Hilfe erfunden werden: „Nicht anders/ als ein Schlussstrich sieht eine erste Zeile aus.“ Tabula rasa mit Fußnoten, oder, um mit Hendrik Rost zu sprechen: „das neue Joch“, die Bürde der neuen Verbindung (das Wort „Joch“ ist etymologisch mit Wörtern wie „Junktim“ und „Konjunktion“ verwandt), ist ein Balance-Akt zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen dem Respekt vor den Mustern und Vorbildern der Vergangenheit und der Notwendigkeit, sich von deren Stimmen nicht mundtot machen zu lassen.
Diese neuen Gedichte, die sich die alten immer wieder mühevoll von den Lippen wischen, haben nun tatsächlich – und das wird schon nach wenigen Seiten klar – einen ganz unverkennbaren Ton, vor allem einen sehr genau gebauten Rhythmus. Es ist der langsame und gleichmäßige Rhythmus einer durch und durch überdachten Sprache, die „Metrik der Tide“, wie Rost es nennt, versehen mit Bildern, die den Rand des Fantastischen nur streifen, haarscharf und haargenau an die Peripherie der geografischen, historischen oder sozialen Realität gebaut. Diese wunderbar genaue und kluge Sprache ist die Basis. Und dann geht die Reise los: Es beginnt klassisch mit dem Blick in die Nacht. Mit einem kindlichen „Schau der Mond!“, nimmt Rost die Leser an die Hand und zeigt ihnen „die guten, dann [die] anderen Mächte“, schließlich auch die „Trümmer von Babel“ und „das gordische Netz“ der Ameisenpfade im Garten. Wir durchstreifen das Land der Indianer und der Kinderträume, applaudieren einem Wanderzirkus, dessen „verfilzte Kamele“ an „verpasste Liebkosungen“ gemahnen, reiten auf Bürostühlen und Staubsaugern, sammeln Steine, Muscheln und Schnecken an Stränden und Teichen. So gelangen wir an die Orte der Weltgeschichte und der Weltliteratur, nach Prag und an den Wannsee, nach Seebüll und nach Lummerland, Armenien und Aleppo, Troja, Athen, Byzanz und Rom, auf die Färöer-Inseln und die Kapverden, dann weiter auf den Kiez und in die S-Bahn, oder auch nur zurück in die böse alte „Schu Schu Schu“-Schule, in der Stotterer gemobbt und in den Selbstmord getrieben wurden.
Doch so energisch man sich Rainer Maria Rilke & Co auch von den Lippen wischt, die Alten lauern in jedem Gedicht. Und Hendrik Rost wird mit allen intim, seine unerschrockene literarische Promiskuität ist beeindruckend: mit Clemens Brentano kämpft er gegen das Verrosten der Sprache, leugnet mit Heinrich von Kleist und Immanuel Kant das Glück auf Erden oder preist es mit Peter Handkes „kleinen geheimen Gedanken“, verteilt mit Friedrich Hölderlin „Silben“ und „Milben“ auf dieselbe Lebenshälfte, stirbt mit Martin Opitz an unreinen Reimen und der Pest, hat mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel „die besten Ideen“ (die Theodor W. Adorno ihm postwendend verbietet), geht mit Petrarca auf Klassenfahrt und mit Homer in den Krieg, grüßt im Vorbeigehen Catull und Heraklit, Otfried Preußler und Enid Blyton, schält mit Paul Celan oder Ossip Mandelstam die Zeit und sehr viele Gedanken aus Walnüssen, teilt Fleisch und Brot mit Hänsel und Gretel sowie das Blut mit Nosferatu und kehrt mit Arthur Rimbaud dann alles noch einmal um.
Und überall lauert der Kitsch, „die alte Sucht nach Bedeutung“. Doch nicht nur der Kitsch der Gefühle und der Kitsch der Literatur, auch der „Kitsch der Theorie“ macht es dem Dichter so schwer mit dem Eigenen und dem Neuen. Hendrik Rost kennt die Gefahren und benennt wacker einen ganzen Katalog davon. Da gibt es die sarkastische Variante: „Wer stillhält, wird geweiht/ von Vögeln, die da baden“, die aphoristische Variante: „säg noch ein bisschen weiter an dem Text/ auf dem du sitzt“, die autoritäre Variante mit ihrem bärbeißigen „Thema verfehlt!“, und natürlich auch die depressive: „Nach Jahren sah er, dass alles, was er sich ausgedacht hatte,/ schon gewesen und vergangen ist oder nicht zu verstehen.“
Aber auch diese immer wieder aus der Melancholie der „verlorenen Stimmen“ heraustretende „innere Blutung“ mit ihrem teils traurigen, teils reaktionären Geraune vom „flammenden Untergang“ und vom „Ganzen“, das „gestern“ war, das im Kapitel „Zwischen Magie und Frist“ vielleicht etwas zu laut wird und in Gedichten wie „Stell dir vor“ einen allzu pastoralen Sound annimmt, wird schließlich aufgefangen und gestillt von den Mythen und Problemen des Alltags. Hier nun erscheinen „Liebe, Schönheit, Tod“ als fragile, doch überaus lebendige Fragmente, als „selected Tweets“, als „Brüche im Reden“. Hier geht es um Lohndumping, Flucht vor politischer Verfolgung, Artensterben, Überfischung, Kapitalismus, Prostitution und immer wieder um das „richtige, richtige“ Leben – und das alles, bei aller Schwermut und Kritik, ganz ohne „das Gift der Eindeutigkeit.“
Hendrik Rost schaut ganz genau hin, selbst bei einer„Hausgeburt“: „Sie stieg/ in die Wanne. Eine Stunde benetzte ich sie/ mit warmem Nass und stellte mir kurz vor,/ eine ungeheure Gans im Ofen zu übergießen,/ bevor ein Familienfest begann.“ Dieser sarkastisch-selbstironische, doch niemals gnadenlose Blick auf die Welt hat durchaus auch seine Glücksmomente, sowohl im Biografischen („Das Leben, hauteng./ Für einen Augenblick/ passt es perfekt.“) wie auch im Dichterischen, zum Beispiel wenn Rost seine „Delinquenten“-Sammlung romantischer Dichter mit der folgenden, geradezu glücksterroristischen Eichendorff-Resonanz enden lässt: „Und triffst du eine zündende/ Empfindung, geht es hoch, das Wort.“ – Nein, solange es solche Gedichtbände gibt, brauchen wir keine Wünschelrute.
|
||