Teils das Ganze

Ein Handbuch zerlegt Gottfried Benn, ohne ihn wieder zusammensetzen zu können

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Dichterkollege Hans-Magnus Enzensberger, der mit ihm auch diverse biografische Brüche gemeinsam hat, hielt große Teile von Gottfried Benns Werk für „Schamott“. Er sah darin „viel Böcklin, fin de siècle, Sentimentales unter der zynischen Oberfläche, Bildungsreste, Intelligenz, die nicht weiter reicht als zum Verrat der Intelligenz an die Gewalt.“ Trotzdem ist Gottfried Benn (1886– 1956) nun, 60 Jahre nach seinem Tod, immer noch so aktuell, dass ihm ein Handbuch zuteil wird, welches nicht nur seiner Lyrik, in der er sein Hauptwerk sah, sondern auch seiner Prosa und Essayistik bescheinigt, nicht weniger als ein „Paradigma der Moderne“ zu sein. Er selbst bewertete seine Dichtung als absolute Lyrik oder absolute Prosa, darunter war sie nicht zu haben. Das Frühwerk könnte man treffend mit einem von Friedrich Nietzsche geprägten Neologismus als „medi-cynisch“ bezeichnen. Zugleich deutet sich darin bereits die zeitlebens besetzte Position des Zivilisationskritikers an, der ebenso elitär wie melancholisch den Zeitläuften mit einer Artistenmetaphysik entgegentrat und damit wenigstens einmal an ihnen scheiterte. Wie die römischen Päpste bis in unsere Gegenwart, so lehnte auch Benn Positivismus und Liberalismus ab. Der Demokratie begegnete er mit seiner reichlich verschwommenen tragischen Weltsicht. Seine Dichtung und die Kunst überhaupt verstand er als genuin monologisch. Obwohl er auf viele, vor allem aber auf Frauen, so anziehend wirkte, zelebrierte er seine Distanzierungspose. Geliebte und Freunde pflegte er daher meist zu siezen. Privat beschreiben ihn jedoch auch viele als hilfsbereit und mitfühlend, ein preußischer Pflichtmensch eben.

Gemäß der Maxime „Das Werk ist das Wahre“ rümpfte er über das Interesse am Lebenslauf eines Dichters und den ihn begleitenden Zeitumständen die Nase, nicht ohne selbst eine stattliche Reihe autobiografischer Texte hervorgebracht zu haben, in denen er sich oft als ebenso eitel wie kurzsichtig erweist. Er liebte die Rolle des Arztes in der Revolte. Die Radikalität der Nationalsozialisten kam ihm durchaus entgegen, auch deren Zertrümmerungs- und Vernichtungsemphase. Ihr geistfernes Banausentum übersah der „Intellektualist“ dabei geflissentlich, zumindest zeitweise. Seine Fans empfing er bevorzugt im weißen Kittel und in durchaus biedermeierlichen Verhältnissen, mit Sonntagsausflügen und Stammlokal um die Ecke. Zur Deutung seiner Werke, denen man semantische Originalität nicht absprechen kann, trägt er selbst gerne bei, indem er in seinen poetologischen Schriften Analysehinweise vorgibt, denen die Forschung bis heute bereitwillig folgt. So schickt er sie etwa auf die Spur einer „hyperämischen Dichtung“ oder lässt sie den „Wallungswert“ seiner „Rauschwörter“ ermessen. Benns berühmte Assoziationstechnik, erprobt etwa an „Palau“ oder jener „Olive“, dem „Südwort“, dem die Fähigkeit zugesprochen wird, „den irrationalen, schöpferischen Geist zu entfachen und von (begriffssprachlich gefasster) Bewusstheit zu lösen“ (Reents), würde heute wohl keinen mehr zu Geistesflügen animieren. Seine schillernde Persönlichkeit und ebenso sein Werk ließen sich indes mühelos mit einer Collage aus den Titeln jener Aufsätze beschreiben, welche die Forscher ihm und seiner „Ausdruckswelt“ widmen: Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt, Der Sound der Väter, Der Unberührbare, Ein Schauern in den Hirnen, Formfrage als Menschheitsfrage, Endogene Bilder, Montagekunst und Sprachmagie.

Ja, er gibt also durchaus Rätsel auf, der Dr. med. Benn. Daran ändert auch das vorliegende Handbuch nur wenig. Natürlich haben sich die Herausgeber und Autoren, sämtlich namhafte nationale und internationale Benn-Forscher, vor allem um die beiden Jahrbücher Benn-Jahrbuch und Benn Forum, ein anderes Vorgehen gewählt. Sie haben sich für eine eher „kleinteiligere“ Detailanalyse in „polyphone(r) Annäherung“ entschieden und damit einen Weg beschritten, auf dem zwar der Dichter und seine Dichtung, wie in einer histologischen Untersuchung, in scharfe und überaus informative Schnitte zerlegt werden, ein Gesamtbild aber weitgehend verloren geht. Doch zunächst einmal ein Überblick: Eine erste Abteilung „Zeiten –  Zonen –  Strömungen“ untersucht die geistes- und zeitgeschichtlichen Einflüsse auf den Autor. Christian Schärf gibt einen kurzen Überblick über Benns Werdegang von der Jugend im viel besprochenen evangelischen Pfarrhaus bis zu seinem Tod in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Sodann werden die Autoren aufgeführt, die ihn beeinflusst haben, ebenso eine Reihe wichtiger wissenschaftlicher Disziplinen, wie Pathologie, Psychologie oder Quantenphysik und Altertumswissenschaften, alles sehr tabellarisch und ohne, dass eine Hierarchie zu erkennen wäre. So steht etwa Nietzsche neben Semi Meyer, Vincent van Gogh neben Julius Evola. Wenn die Autoren mit stupendem Fleiß deren Auftreten irgendwo im Wirken von Benn nachweisen, so wirft das immerhin ein bezeichnendes Licht auf die ausufernden Lesegewohnheiten des Mannes, der von sich behauptet, dass er „dem Journalismus näher steht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette.“

Der umfangreichste Teil des Handbuchs ist erwartungsgemäß dem Werk gewidmet. Es wird unterteilt in Lyrik, Experimentelle Prosa, Essays, Reden und Aphorismen, Autobiografische Schriften, Szenen und Dialoge, Gespräche und Interviews, Medizinische Schriften und Briefwechsel. Hierzu werden detaillierte Editionsberichte geboten, teilweise auch Einzelinterpretationen, und das alles auf dem neuesten Forschungsstand. Bei einigen Beiträgen wird allerdings die Hermeneutik durch Paraphrase ersetzt. Als Darstellungsdilemma erweist sich jedoch, dass Benn viele Texte und besonders natürlich Gedichte zunächst in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, um sie später in Textsammlungen zu erfassen. Daraus ergibt sich auch ein generelles Problem, das nicht nur diesem Handbuch, hier aber sehr aufdringlich, zu eigen ist, nämlich das der kaum zu vermeidenden Redundanz. So findet etwa beispielsweise Benns Auseinandersetzung mit Klaus Mann, die zu einem doch sehr eng umgrenzten Zeitpunkt stattfand, auf immerhin 21 über das gesamte Handbuch verteilte Seiten Erwähnung. Die für jeden Artikel wichtigen Querverweise kommen immer wieder auf die selben Fundorte und Formulierungen zurück, etwa die auch hier vielzitierte „aristokratische Form der Emigration“ in die Wehrmacht, was eine Gesamtlektüre doch einigermaßen enervierend macht.

Überzeugend, weil erhellend erscheinen mir die im Abschnitt III versammelten Aufsätze zur Ästhetik und Poetik. Hier werden in guter germanistischer Tradition Schreibstrategien und Techniken Benns untersucht sowie seine Denkfiguren und Motive. Den Schluss bilden, natürlich erneut nicht ohne Wiederholungen, Einblicke in Rezeption und Wirkung, und zwar von den Zeitgenossen bis in die Gegenwart.

Fazit: Jeder Artikel bietet eine wirklich erschöpfende Auskunft. Am Ende eines jeden Artikels steht die wichtigste Forschungsliteratur bis 2016, was bei der Kleinteiligkeit der Artikel –  so ist den Gegenwartsautoren und ihrer Beziehung zu Benn, von Peter Rühmkorf über Robert Gernhardt bis zu Durs Grünbein jeweils ein eigener Artikel gewidmet –  zu unvermeidlichen Wiederholungen führt. Demgegenüber erfreulich ist allerdings, dass die Beiträger ihrem Autor keineswegs auf den Leim gehen und dessen Widersprüchlichkeiten, Unklarheiten und Unschärfen säuberlich und kritisch herausarbeiten. Das vorliegende Handbuch ist also ein zuverlässiges wissenschaftliches Nachschlagewerk. Wer sich allerdings ein gültiges Gesamtbild des Dichters Gottfried Benn machen will, wer in die Faszination von Werk und Mensch eintauchen möchte, der wird wohl zu den existierenden Biografien greifen, deren Tenor meist schon im Untertitel zu erkennen ist, etwa der von Fritz J. Raddatz: Gottfried Benn. Leben –  niederer Wahn, Joachim Dyck: Der Zeitzeuge oder Holger Hof Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis, letzterer auch ein Mitarbeiter des Handbuchs.

Titelbild

Christian M. Hanna / Friederike Reents (Hg.): Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
458 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024343

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