Eine Geschichte zweier Brüder

In Vicente Alfonsos Roman „Die Tränen von San Lorenzo“ geht es um die Suche nach Wahrheit und Identität

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1995 und 2010 spielt der zweite Roman des mehrfach preisgekrönten mexikanischen Autors Vicente Alfonso (geboren 1977). Schauplatz ist dessen Heimatstadt Torreón im nordöstlichen mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Es geht um einen Mord sowie dessen Vor- und Nachgeschichte. Während sich die gesamte Bevölkerung der 600.000 Einwohner-Stadt am 20. Mai 2001 im Banne eines entscheidenden Fußballspiels befindet, wird in einem kleinen Lokal mit dem bezeichnenden Namen „Zum letzten Schluck“ Farid Sabag, einst bekannt als DER GROSSE PADILLA, Zauberer und Illusionskünstler, erdrosselt.

Ein Gewaltakt, der beinahe unbemerkt geschieht, denn auch die Aufmerksamkeit eventueller Zeugen der Bluttat gilt fast ungebrochen dem sportlichen Großereignis, das, nachdem die einheimische Mannschaft das Spiel in den letzten Minuten unglücklich verliert, in Tumulte umschlägt, die die örtliche Polizei bis in die Nacht beschäftigen. Klar ist allerdings: Es war einer der Ayala-Zwillinge, der nach einem kurzen Streit im Gastraum den den meisten Anwesenden unbekannten Sabag auf der Toilette des Lokals tötete. Aber die Brüder Remo und Rómulo Ayala sind Zwillinge und deshalb äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden. Und so steht die Lösung des Rätsels erst einmal dahin.

Die Tränen von San Lorenzo ist ein raffiniert verschachtelter, der lateinamerikanischen Erzähltradtion des magischen Realismus eines Jorge Luis Borges – zu desssen Erzählung Eindringling Alfonso enge Bezüge herstellt – oder Julio Cortázar in seiner Machart eng verwandter Roman. Er trägt Züge eines Kriminalromans, ist darüber hinaus aber vor allem eine Auseinandersetzung seines Autors mit dem Problem der menschlichen Identität. In einem Interview aus dem Jahre 2016 – nachzulesen auf der Webseite des Züricher Unionsverlags – hat Vicente Alfonso zudem bekannt, dass in das Buch auch eine ganze Menge an autobiografischen Details Eingang gefunden haben. So besitzt der Autor selbst einen identischen Zwilling, wuchs am Schauplatz seines Romans auf, studierte 14 Jahre an einer Jesuitenschule und seine Mutter arbeitete als Richterin, in jenem Beruf also, den im Text  der Vater der Ayala-Zwillinge ausübt.

„Die Wirklichkeit ist einzigartig, ihre Lesarten sind unbegrenzt“, lautet der erste Satz des Buches. Da befindet man sich im Jahre 1995 in einer Zirkusvorstellung in einem kleinen nordmexikanischen Städtchen und erlebt mit, wie ein oft geübter Entfesselungstrick des GROSSEN PADILLA beinahe schiefgeht. Alfonso hat in den ersten vier Seiten seines Buches bereits alles versteckt, was später von Bedeutung sein wird. Und mit dem beinahe missglückenden Experiment eines gefesselten und in einem Wasserfass eingesperrten Knaben nimmt er auch schon vorweg, was fünf Jahre später die Aufklärung des Mordes an Farid Sabag so schwierig machen wird.

Denn die Brüder Ayala entziehen sich zunächst der Verantwortung. Rómulo, der sich noch dazu der Unterschlagung von Geldern aus Genossenschaftseigentum schuldig gemacht hat, verschwindet spurlos. Remo begibt sich in psychiatrische Behandlung. Während der Therapeut Dr. Albores in ihn dringt, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, macht sich andererseits ein bekannter Journalist, Pepe Zamora, auf, die näheren Umstände des Verschwindens einer in der Gegend um San Lorenzo sehr bekannten Wahrsagerin zu klären. Da diese genauso wie die beiden Brüder fünf Jahre  zuvor mit dem ermordeten Farid Sabag über die Jahrmärkte zog, ist es unvermeidlich, dass auch Zamoras Recherchearbeit letzten Endes zu den Ayala-Zwillingen führt. Ob diese freilich mit dem Schicksal jener Magda, in die wohl beide unglücklich verliebt waren, etwas zu tun haben, vielleicht sogar ein weiterer Mord durch die hartnäckigen Nachforschungen des Journalisten ans Tageslicht kommt, lässt der Roman bis kurz vor Schluss im Ungewissen.

Mit Die Tränen von San Lorenzo hat Vicente Alfonso ein äußerst komplexes Buch vorgelegt. Erzählt aus verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen Zeiträumen, die bis zu den Schultagen der Zwillinge in einem Jesuiten-Internat und weiter zurückreichen, in sich begreifend, kreist es von der ersten Seite an um die Fragen, was Wahrheit ist und was Illusion, wem man glauben kann und wem nicht und warum die Wahrheit des einen zugleich die Lüge eines anderen sein kann. Der Autor bedient sich, um seine Leser in sein verschachteltes Erzähllabyrinth hineinzulocken, nicht nur der wechselnden Blickwinkel seiner unterschiedlich motivierten Erzähler, sondern variiert auch äußerst erfindungsreich und geschickt deren Rechercheformen. Vom Brief über die journalistische Nachforschung und das psychologischeTherapiegespräch bis zum Polizeibericht reicht die Palette der verwendetenTextsorten. Zitate und Fußnoten in einzelnen Kapiteln sowie Blicke über die tragische Geschichte der Zwillingsbrüder hinaus auf die Historie Mexikos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betten den Roman in größere Kontexte ein. 

Immer wieder aber kommt der Autor auf das Problem zurück, das auch seine beiden Helden, die sich äußerlich gleichen wie ein Ei dem anderen, innerlich aber so unterschiedlich sind, wie Menschen nur verschieden sein können, ihr gesamtes Leben lang umtreibt: Was macht einen Menschen aus und ist es überhaupt möglich, an seine innere Wahrheit, den Kern seiner Existenz heranzukommen?

Titelbild

Vicente Alfonso: Die Tränen von San Lorenzo. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2017.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005150

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