Mittler und Freund

Reinhard Meier legt ein längst überfälliges Porträt des russischen Germanisten und Menschenrechtlers Lew Kopelew (1912–1997) vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem breiten Publikum wurde der russische Germanist Lew Kopelew, dem sich Reinhard Meiers Biografie widmet, bekannt, als ihm im Januar 1981 von den sowjetischen Behörden seine Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Kopelew hatte sich damals mit seiner Frau Raissa Orlowa zu einem Studienaufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland befunden.

Doch Lew Kopelew war in Deutschland kein gänzlich Unbekannter. In der DDR pflegte er Kontakte zu den Schriftstellern Anna Seghers, Erwin Strittmatter und Christa Wolf. Mit Heinrich Böll war er bereits seit den frühen 1960er-Jahren befreundet. Der 2011 veröffentlichte umfangreiche Briefwechsel liest sich wie ein Geschichtsbuch des Kalten Krieges. Böll wie Kopelew hatten als Soldaten den Zweiten Weltkrieg miterlebt und wussten, warum sie den Frieden als überlebensnotwendige Herausforderung ansahen. Beide waren zutiefst von der Verantwortung für eine friedliche Gegenwart und Zukunft durchdrungen. Als unabhängigen Denkern stand ihnen ein Verdrängen oder gar Verleugnen aller vergangenen Grausamkeiten ebenso im Weg, wie der „Eiserne Vorhang“ der Gegenwart.

Es war Heinrich Böll, der während seiner Besuche in Moskau Kopelew dazu gedrängt hatte, seine Erinnerungen an den Krieg niederzuschreiben. Kopelew holte weit aus, um die Hintergründe seiner Entwicklung auszuleuchten. In drei Bänden schilderte er seinen Weg als begeisterter Jungkommunist, der sich nicht zuletzt im Zuge der gewaltsamen Kollektivierung, in deren Folge Millionen von Menschen verhungerten, schuldig gemacht hatte. Am Zweiten Weltkrieg nahm Kopelew als Major der Roten Armee an vorderster Front teil. Der überzeugte Marxist, der bereits als Kind die deutsche Sprache von deutschen Kindermädchen gelernt hatte, wurde unter anderem im Propagandawesen eingesetzt, um Wehrmachtssoldaten zu bewegen, ihren Kampf einzustellen. Die Gräuel an der Zivilbevölkerung seitens der Roten Armee, die Kopelew in Ostpreußen erlebte, empfand er als beschämend und unsowjetisch. Sein wiederholtes Eingreifen hatte dazu geführt, dass er im Frühjahr 1945 vor einem sowjetischen Militärgericht unter anderem wegen „Mitleid mit den Deutschen“ verurteilt wurde. Kopelew lernte in Folge neben stalinistischer Rechtswillkür Zuchthaus und Lagerhaft kennen, die ihn nahezu zehn Jahre seines Lebens kosteten.

Reinhard Meier hatte als Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Moskau Lew Kopelew kennen gelernt und die Freundschaft auch im Westen aufrechterhalten. Für seine Biografie wertete er zudem zahlreiche Dokumente und zum Teil unveröffentlichte Briefe aus. Kenntnisreich porträtiert er das Leben eines sowjetischen Intellektuellen, der sich Schritt für Schritt von der marxistisch-leninistischen Weltanschauung abwendete. Stichworte wie „Verantwortung“ oder „Gewissen“ entwickelten sich zusehends zur Richtschnur einer freien geistigen Existenz, die sich keinerlei Ideologien mehr zu unterwerfen gewillt war. Über politische wie geistige Grenzen hinweg übernahm die Literatur, wie das künstlerische Schaffen insgesamt, die Patenschaft für ein authentisches Leben. Kopelew war ein begnadeter Mittler zwischen Menschen verschiedener Lebenseinstellungen und ein verständnisvoller Freund von Schriftstellern, Publizisten, Künstlern und Malern.

Aufmerksam verfolgte Kopelew nicht nur die offiziellen Diskussionen in der sowjetischen kulturellen als auch politischen Szene. Mit der Sorge eines wahren Patrioten registrierte er zudem obskurantistische und reaktionäre Denkströmungen, die sich halboffiziell oder auch im Verborgenen gehalten hatten und sogar Zulauf verzeichnen konnten.

In einem Brief an Max Frisch vom März 1977 betonte Kopelew seine unerschütterliche Verbundenheit mit dem russischen Leben und seiner Kultur: „Was Antisemiten und Antizionisten dazu sagen mögen, ist mir gleich, denn ich bin und bleibe Russe; und wegen meiner jüdischen Abstammung ein solcher, der das Russentum besonders klar, bewusst und tragisch – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – empfindet und bekennt“.

Hier erweist sich Kopelew erstaunlich hellsichtig, denn ein knappes halbes Jahrhundert später scheint es in Russland wieder hoffähig zu sein, jüdische Herkunft als fremdstämmig zu empfinden. Und das ausgerechnet von Seiten selbsternannter Patrioten und rechtgläubiger Christen, die sich nicht daran stören, dass frühere KGB-Mitarbeiter die Geschicke ihres Staates leiten.

Kennzeichnend für Kopelews geistige Haltung war eine unerschütterliche Zuversicht in Russlands geistige Stärke. Dichtungen von Anna Achmatowa bis Marina Zwetajewa, aber auch die unbeugsame Haltung des Atomphysikers Andrej Sacharow im Einsatz für Menschenrechte bürgten für Kopelews russischen Optimismus.

Einen tragischen Verlauf, unter dem nicht zuletzt Kopelew selbst litt, hatte dessen Freundschaft mit dem ehemaligen Häftlingskameraden Alexander Solschenizyn genommen. Heinrich Meier gelingt es auf sensible Weise, das Zustandekommen einer zunehmenden Entfremdung bis hin zum Bruch nachzuzeichnen.

Die verbliebenen 17 Jahre seines Lebens in der Bundesrepublik hatte Kopelew damit verbracht, unermüdlich die friedliche Nachbarschaft von Deutschen und Russen zu befördern. Ein bleibendes Dokument seines beeindruckenden Fleißes stellt hierbei das Wuppertaler Forschungsprojekt „Spiegelungen“ dar, welches sich in zehn umfangreichen Bänden der Erforschung deutsch-russischer Fremdenbilder widmete.

Der Journalist und frühere Moskaukorrespondent Fritz Pleitgen, der Kopelew und Raissa Orlowa gut gekannt hatte, hat ein hintergründiges Vorwort beigesteuert. Er wird zudem auf dem Umschlag dieser Ausgabe mit den Worten zitiert: „Auf diese Biographie habe ich lange gewartet“. In der Tat, es ist höchste Zeit geworden, dass das Wirken Lew Kopelews in Erinnerung gerufen wird. Seine Bücher sowie unzählige Artikel, Essays und Einwürfe halten brennend aktuelle Einsichten bereit. Für Deutschland wie für Russland!

Titelbild

Reinhard Meier: Lew Kopelew. Humanist und Weltbürger.
Mit einem Vorwort von Fritz Pleitgen.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2017.
304 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806234886

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