Lebenslektüren

Kai Sina beschäftigt sich mit den Einflüssen Thomas Manns auf das Werk Susan Sontags

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kai Sina, Literaturwissenschaftler an der Universität Göttingen, forschte während eines einjährigen Forschungsaufenthaltes 2015/16 an der University of Chicago über Konstellationen der transatlantischen Literaturgeschichte. Hauptsächlich während dieser Zeit entstand seine Studie zu Susan Sontag und Thomas Mann, „zweier Ikonen des 20. Jahrhunderts“, deren Ausgangspunkt eine für Sontag folgenschwere Begegnung im Jahr 1949 darstellt: In diesem Jahr besucht die junge Chicagoer Studentin den 74-jährigen Schriftsteller in seinem kalifornischen Exil. Für Sontag wird der Besuch zur Initialzündung einer lebenslangen verehrenden wie kritischen Auseinandersetzung mit dem Werk Manns. Noch ein Jahr vor ihrem Tod bezeichnet sie den Zauberberg als das wichtigste Buch ihres Lebens.

Sontag ist gerade einmal 16 Jahre alt, als sie dem von ihr gedanklich hoch stilisierten Schriftsteller begegnet. Als vollkommen einschüchternd erlebt sie die leibhaftige Präsenz ihres literarischen Idols: „Everything that surrounds my meeting with him has the color of shame“ – ein Satz, mit dem sie ihren autobiografischen Essay Pilgrimage eröffnet, der 1987 in der Zeitschrift „The New Yorker“ erschien. Am Tag ihres Treffens schrieb sie in ihr Tagebuch: „I interrogated God this evening at six“.

Laut Sina wurde die aufregende Frage nach den künstlerischen und intellektuellen Konsequenzen, die sich für Sontag aus der Auseinandersetzung mit Mann und seinem Werk ergaben, bis heute nicht mit aller Schärfe gestellt. Vielmehr sei die denkwürdige Begegnung beider – auch aufgrund der offensichtlichen intellektuellen, künstlerischen und nicht zuletzt habituellen Unterschiede – bislang eher beiläufig als wunderliche Anekdote, ja als Kuriosität abgehandelt worden.

Seine Untersuchung gliedert Sina in drei Kapitel: Um zunächst einen möglichst unverfälschten Eindruck davon zu gewinnen, mit welchem Interesse und mit welcher Intensität Sontag den Zauberberg liest, wendet er sich im ersten Abschnitt „Lektüre“ ihrer im Nachlass befindlichen Ausgabe des Romans zu und extrapoliert An- und Unterstreichungen sowie Randbemerkungen. Im folgenden Kapitel „Kommentierungen“ wirft Sina einen Blick auf Sontags zahlreiche Anmerkungen zu Thomas Mann und dessen Werk, wobei er sich auf verschiedenste Quellen aus einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren stützt, beispielsweise auf veröffentlichte und unveröffentlichte Essays und die Tagebücher, die ebenfalls eine Schilderung der Begegnung im Dezember 1949 enthalten. Im letzten Abschnitt „Produktivität“ fragt Sina nach dem Einfluss, den Mann und sein Werk auf das Schaffen Sontags nahmen. In den Mittelpunkt stellt er hierbei Sontags Essay Illness as Metaphor (1978), in dem sie mehrfach auf Mann Bezug nimmt, sowie ihre beiden späten Romane The Volcano Lover (1992) und In America (1999).

Sinas Studie erschließt zahlreiche Quellen und wertet sie aus, wobei der Autor einem induktiv angelegten Vorgehen folgt – von mitunter kleinteiligen Befunden der archivarischen Recherche über die rekonstruierende Auseinandersetzung mit Selbstaussagen hin zu einer interpretierenden Lektüre der Essays und Romane Sontags.

Sein recherchierend-aufdeckender Blick ist intensiv und detailgenau: An welchen Stellen nimmt Sontag den Bleistift (oder – in einem Fall – den Rotstift) zur Hand, um eine Unterstreichung oder Randmarkierung vorzunehmen? Wo scheint es ihr nötig, eine kurze Anmerkung an den Textrand oder zwischen die Zeilen zu schreiben? Welche Abschnitte geben ihr Anlass zu einer Skizze oder tabellarischen Übersicht? Es sind die Paratexte, denen die Aufmerksamkeit Sinas gilt. In einem Prozess des „close reading“, des nachspürenden Lesens, wird die intellektuelle Auseinandersetzung Sontags greifbar und konkret. Wir erfahren etwas über das „hermeneutische Potenzial von Lesespuren“ (Christian Benne), über die enge Verbindung der Tätigkeit der Hand und des tiefen Eindringens in einen Text, sein „buchstäbliches Be- und Ergreifen“. Der gedruckte Text wird hier zur untersten Schicht, die Lesespuren machen ihn zu einem Palimpsest, zu einem schließlich interaktiven Medium. Schon die rasche Sichtung von Sontags Nachlass, schreibt Sina, zeige, dass hier eine ebenso ansehnliche wie anspruchsvolle Arbeitsbibliothek zu Thomas Mann und dessen Werk zusammengetragen wurde. Die Bücher weisen nicht allein An- und Unterstreichungen sowie Randbemerkungen in großer Zahl auf, sondern enthalten immer wieder auch verschiedene Einlagen wie Notizzettel, Rezensionen des vorliegenden Buches oder Zeitungsartikel zu thematisch verwandten Aspekten. Zwischen dem Erhalt der Ausgabe des Magic Mountain im Jahr 1947 und dem Erscheinen der jüngsten Publikationen in Sontags Bibliothek – der im Jahr 2002 in den USA publizierten Biografie Thomas Mann. Life as a Work of Art von Hermann Kurze und Michael Maars 2003 in Übersetzung erschienenem Essay Bluebeard’s Chamber. Guilt and Confession in Thomas Mann – liegen mehr als 50 Jahre.

Mit großer Akribie und Sorgfalt eignet Sontag sich Manns Bücher an, immer bemüht um ein vollständiges Textverstehen und stets motiviert vom Verlangen nach sicherer Orientierung im komplexen Romankorpus. Sie markiert leitmotivische Konstellationen und semantische Muster systematisch und vermerkt Gedanken und Beobachtungen zur impliziten Poetik. Mitunter hebt Sontag in ihren Annotationen auch einzelne Wörter oder Sätze hervor, um eine Figurencharakterisierung oder Motivkonstellation visuell erkennbar hervortreten zu lassen. Im Vokabular der Leseforschung seien es, so Sina unter Bezugnahme auf Ursula Christmanns lexikalischen Artikel „Lesen“, nahezu ausnahmslos „hierarchiehohe Teilleistungen“, die Sontag in ihrer Romananeignung erbringe. Hierzu zählen beispielsweise der satzübergreifende Aufbau einer kohärenten Textbedeutung, die Verbindung mit Vorwissen qua Bildung, das Erkennen rhetorischer Strategien und die Bewertung des Gelesenen. Sontags Beschäftigung mit dem Zauberberg ist nach Sina in ihrem äußerst umfangreichen und ehrgeizigen Bildungsprogramm zu verorten, das die frühen Tagebücher der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre, die im Jahr 2008 unter dem Titel Reborn erschienen, eindrucksvoll dokumentieren: Mit ihm ging es Sontag um nichts Geringeres als um die geistige „Inbesitznahme“ der Weltliteratur – so schreibt sie im Mai 1949 mit Bezug auf Manns Doktor Faustus. Die junge Susan Sontag arbeitet sich quer durch die Geschichte des Denkens und Dichtens, wovon ihre Liste anzuschaffender Bücher – zu entnehmen einem Tagebucheintrag ebenfalls im Mai 1949 – ein beredtes Zeugnis ablegt. Zu finden ist hier unter anderem eine Auswahl der Werke von Henry James, Rainer Maria Rilke, Daniel Defoe, André Gide und Ernst Cassirer.

Sontag, so zeigt Sinas Buch, hat sich an verschiedenen Stellen zu Mann im Allgemeinen und über den Zauberberg im Besonderen geäußert. Die von Sina erschlossenen Quellen umfassen, in sehr unterschiedlicher Dichte und voneinander abweichendem Gehalt, den Zeitraum der Jahre 1948 bis 2003. Die ersten Äußerungen stammen von der „bildungsbeflissenen Vierzehnjährigen“, deren Thomas-Mann-Begeisterung die frühen Tagebücher wortreich darlegen; die letzten von der international bekannten Essayistin und Repräsentantin des intellektuellen Lebens in den USA, die in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2003 zu den Ursprüngen ihrer Lese- und Denkbiografie zurückgeht. Angesichts dieser insgesamt fast sechs Jahrzehnte umfassenden Dauer scheine, so Sina, die erste dokumentierte Äußerung Sontags zu Mann durchaus nicht übertrieben: „The Magic Mountain is a book for all of one’s life“, schreibt sie, zu jener Zeit High-School-Schülerin, im Januar 1948 in ihr Tagebuch. Und später: „[W]e had really lived on that magic mountain“. Thomas Mann blieb zugleich Ansporn und Antrieb, sich als ein gebildetes Subjekt stetig weiter zu vervollkommnen. Um seinen Namen rankt sich in Sontags intellektueller Biografie ein vielschichtiges Netz von Assoziationen, Gefühlen, Reflexionen und Haltungen, das sich mit der Zeit umgestaltet, Beständigkeit wie auch Brüche und Risse aufweist. Unübersehbar ist hierbei, dass Sontag ein Leben lang über die Bücher Manns nachdenkt, ihre geistige Welt ausgehend von seinem Werk ordnet und immer wieder darauf zurückgreift. Ohne den Rekurs auf den Schriftsteller können nach Meinung Sinas bestimmte wichtige Themenkomplexe im Werk der Autorin kaum oder nur unzureichend verstanden werden, wie zum Beispiel ihr Nachdenken über die europäische und deutsche Kultur, über den Nationalsozialismus und den Holocaust, ihre Reflexionen zu Fragen der Autorschaft und der Literatur wie schließlich ihre Überlegungen bezüglich des metaphorischen Charakters der Krankheit und zur eigenen Lebensgeschichte.

Ab Mitte der 1960er-Jahre vollzieht sich Sontags Auseinandersetzung mit den Werken Manns stärker in professionellen Bahnen – im Blick auf konkrete Schreibprojekte. So erscheint Der Zauberberg nicht nur als der wichtigste, am häufigsten angeführte Referenztext in Sontags Essay Illness as Metaphor, in der Gesamtsicht zeigt sich laut Sina außerdem, dass ihre Charakterisierung der Tuberkulose in grundlegender Weise auf diesem Roman als Quelle beruht. Auch Sontags Romane weisen einige konkret fassbare Ähnlichkeiten mit dem Romankorpus Thomas Manns hinsichtlich ihrer (metareflexiven) raumsemantischen Struktur, ihrer Figurenkonzeptionen als auch bezüglich des Motivs der Mehrsprachigkeit auf.

Sina weist in seiner lesenswerten, sehr detailgenauen, strukturierten und überaus fundierten, kurzweilig zu lesenden Untersuchung die Spuren eines jahrzehntelang andauernden dialogischen Prozesses der Auseinandersetzung Sontags mit dem Werk Thomas Manns nach – eine Auseinandersetzung, die oft existenzielle Züge trägt und sich lesend, kommentierend und schreibend vollzieht, geprägt von einer nie endenden Beharrlichkeit und einem progressiven Besser-verstehen-Wollen. „No book has been more important in my life than ‚The Magic Mountain‘“ lautet Sontags spätes Bekenntnis, das noch einmal die gesamte Tragweite dieser Hinwendung, Aneignung und des sich Abarbeitens eindringlich vor Augen stellt.

Titelbild

Kai Sina: Susan Sontag und Thomas Mann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
124 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835330214

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