Kunststoff, Schrott und Scheiße

Christiane Lewe, Tim Othold und Nicolas Oxen haben einen Sammelband zur (Selbst-)Wirksamkeit des Übrigen herausgegeben

Von Florian AuerochsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Auerochs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Papierskulptur „With Respect to Residue“ (2005), die für das indische Medienkunstkollektiv „Raqs Media Collective“ typisch ist, gestaltet sich das Residuale, das ‚Übrig-Gebliebene‘, nicht länger als das, was ohne sämtlichen Wert zurückbleibt. Dort heißt es: 

With respect to residue: it may be said it is that which never finds its way into the manifest narrative of how something (an object, a person, a state, or a state of being) is produced, or comes into existence. It is the accumulation of all that is left behind, when value is extracted. […] There are no histories of residue, no atlases of abandonment, no memoirs of what a person was but could not be.

Wie in dem hier besprochenen Band programmatisch aufgerufen, soll das Übriggebliebene stattdessen als das verstanden werden, was sich Kulturtechniken des materiellen oder konzeptuellen Archivierens entzieht.

In Anbetracht der vorliegenden Beiträge scheint zumindest der Gedanke, nicht völlig zuzutreffen, dass sich Überschüssiges und Zerschlissenes – oder kurz: Müll – wissenschaftlich-narrativer Speichertätigkeit verweigere. Schließlich ist es das Ziel der acht Beiträge im Sammelband „Müll – Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene“, welches mit einer glänzenden Einführung der Herausgeber_innen versehenen ist, die „Eigensinnigkeit“ und „Eigensinnlichkeit“ des Übrigen ohne fixierende Kategorisierungsversuche denkbar zu machen, wobei ein neueres kulturwissenschaftliches Interesse an agenzieller Materie herauszuhören ist. Es geht also darum, keine „analytische Aufräumarbeit, die ihre Gegenstände vorgefertigten Ordnungssystemen […] zuführt“, zu leisten, sondern nach den ‚produktiven Unbeständigkeiten‘ und ‚Unabgeschlossenheiten‘ von metaphorischem und materiellem Müll zu fragen, der „ein aktives, transgressives Potential“ produziert. Dieses bildet ebenso den grundsätzlichen Tenor der hier versammelten Beiträge wie die Einsicht, dass Müll(-haftes) keine substanziellen Eigenschaften aufweist, sondern historisch situativ, sozial und kulturell bestimmt ist. 

Grundsätzlich hat das kulturphilosophische und ästhetische Interesse an schmutziger Materialität Bestand. Zumindest innerhalb einer zugegeben recht idiosynkratischen Auswahl ist dabei, die Entwicklung einer eher diskursiv ausgerichteten Hermeneutik des Schmutzigen zu einem (neuen) Materialismus zu beobachten, der Eigenwert und Eigenlogik mülltypischer Körperlichkeit befragt. Während Aurel Kolnais Phänomenologie des Ekels nur nebenbei auf materielle Gemengelagen wie den „Beziehungskreis Ekel-Geruch-Fäulnis-Verfall-Absonderung-Leben-Nahrung“ hinweist und Bachtin die subversive Metaphysik des grotesken, Abfall produzierenden Körpers bebildert, spricht Julia Kristevas Psychoanalyse der Abjektion von „[l]oathing an item of food, a piece of filth, waste, or dung“, sie spannt diese aber für die Psychoökonomie der Angst ein. Hiernach nähern wir uns über Nicole Karafyllis gewitzt kulturanalytischer Kleinststudie Putzen als Passion (2012) über Jennifer Gabrys Digital Rubbish (2011) bis zu Dana Phillips Excremental Ecocriticism (2014) von semiotisch wirksamen Mensch-Abfall-Beziehungen den originären Materien des Nonhumanen ebenso wie den Kulturtechniken der Müllerzeugung und -beseitigung. Dabei ist es ein Verdienst dieses Bandes, dass sich alle äußerst (selbst-)kritischen Beiträge gekonnt zwischen den symbolischen wie den materiellen Bezügen des Mülls bewegen. Genauso ist ein gemeinsamer Nenner, dass nicht nur Darstellungsweisen von Müll und menschliche Müllpraktiken verhandelt werden, sondern dieser als ‚waste that matters auch ein epistemisches Eigenleben hat. Im Folgenden werden einige der in vier Sektionen unterteilten Beiträge aus den Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften ausschnitthaft vorgestellt.

Der analytisch exzeptionelle Beitrag des Wiener Medienwissenschaftlers Thomas Waitz über die selbstreflexiven Ordnungsfunktionen des Medialen arbeitet vorerst mit wenig fassbarem Dreck. Grundlegende These ist, dass „Medien als Agenturen von Ordnung etwa darauf [zielen], Narrative der Säuberung als auch der Verschmutzung aufzurufen, um in nicht-abschließbarer Weise das soziale Feld wie auch die eigene Situiertheit innerhalb dieses Feldes zu verhandeln.“ In diesem Fall das Fernsehen. TV-Medien können Müll produktiv machen, oder andersherum, wenn letzterer dazu führt, dass diese über ihre eigene dispositive Situiertheit spekulieren lernen und eigene Wirkungsweisen ausstellen. Anhand einer unterhaltsamen Einkreisung des Kompositums „Fernsehschrott“ und einer gewissenhaften Dekonstruktion einer Folge der WDR-Sendung „Aktuelle Stunde“ legt Waitz dar, inwiefern Fernsehen als „schmutzige Kategorie“ Müll optisch und konzeptionell bearbeitet und dabei sich selbst und das Gesellschaftliche einhegt und mitkonzipiert. Müll sei letztlich „substanzlogisch und essentialistisch nicht zu fassen“ – eine Unabgeschlossenheit, die es mit dem Medialen teilt, womit er für das Fernsehmedium zu einer geeigneten Figur der Selbstvergewisserung avanciert. Diese Heterogenität provoziere die stete Neuverhandlung sozialer Praktiken, medialer Prozesse und Diskurslagen. Kurz: An Problematisierungen des Müllförmigen kann das Medium TV seine rahmende Relevanz bekräftigen, darüber aber, subkutan, die eigene Verhandelbarkeit bloßlegen, nämlich dann, wenn Müll Fernsehen ‚ansteckt‘ und es sich in Folge selbst produktiv machen und um-ordnen muss.

Rosie Cox, die sich seit Jahren eindringlich mit der Sozial- und Kulturgeschichte minoritär und intersektional markierter Angestelltenverhältnissen in Haushalten auseinandersetzt, widmet ihren Beitrag häuslicher Arbeit mit und am Schmutzigen, die in globalen Kontexten geschlechtlich, rassisch und klassenspezifisch konnotiert sei. Leitgedanke ist, dass die Nähe zu Schmutz und Körperabfällen soziale Differenz strukturiert und statusgebunden wie -konstituierend wirkt. Die häusliche Sphäre wird damit zum Ort, an dem Hierarchien und Ungleichheitsverhältnisse durch Reinigungsarbeit systematisch perpetuiert sind: „It is the people on the ‚losing‘ sides of those divides who clean most – the poor, women and people of color – while those with the social and economic power to avoid dirt, generally attempt to do so.“ Kernpunkt der Auseinandersetzung wird das sozialpsychologische Phantasma der Affizierung, das die Nähe zu Schmutz zum rassifizierten Schmutzig-Sein ausweist. Es sind gerade die symbolischen wie die gelebten Nähe- oder Distanzverhältnisse zum Übrig-Gebliebenen, die unser Verhältnis zum ‚Anderen‘ und dessen soziale Verhältnisse strukturieren. Für aktuelle Debatten um Flucht und Migration formuliert Cox einen brisanten und vollkommen schlüssigen Zusammenhang: „The stigma of working with dirt means that domestic workers find themselves trapped within a vicious circle, which defines domestic cleaning as low status because it is done by women, and women as low status because they deal with dirt. Migrant women and women of color are additionally caught in a cycle that characterizes them as appropriate people to do dirty work, and thereafter stigmatizes them because of their contact with other people’s dirt.“ Diesem ontologisierenden circulus vitiosus eines performativen ‚doing dirt‘ zumindest ansatzweise akademisch zu begegnen, würde bedeuten, Müll bzw. Schmutz nicht als phobisches Objekt zu fixieren, sondern als Entität zu dynamisieren, die durch soziales und symbolisches Handeln manifest wird. Sensibilität gegenüber den körper-, gesellschafts- und identitätskonstituierenden Wirkungsweisen des Müllförmigen führe gleichzeitig dazu, dass sich metaphorisch-konzeptuelle Verunreinigung auf fatale Weise im sozialen Anderen einschreibt.

Der kunstwissenschaftliche Aufsatz von Léa Perraudin reiht sich in jüngste Ansätze einer agenz-betonten Plastikforschung, die unter dem Paradigma des Anthropozäns in ökokritischen Ausprägungen des New Materialism und der Critical Science Studies formuliert wird. Anlass zur Auseinandersetzung mit der rhizomatischen Problemmaterie Kunststoff, die Perraudin kulturanalytisch in ihrer Ambiguität darstellt, gibt die Installation „Ecosystems of Excess“ der deutsch-türkischen bildenden Künstlerin Pinar Yoldas. Deren spekulativer Ästhetik ist gleichsam das Gegensatzpaar „fact/fiction“ beigestellt. Ausgehend vom Imaginationsarsenal der spekulativen Biologie kreiert die Künstlerin ein nachmenschliches marines Ökosystem, in dem ‚plastivore‘ Tiere über Organe wie „P-Plasticeptor: Sensory organ to detect plastics“ verfügen. Damit entwirft die Künstlerin ein deutliches Bild der Möglichkeiten, mit der umweltorientierte Kunst ebenso radikal wie humorvoll auf die Plastikverschmutzung der Meere reagieren kann: „the logic of decay is transformed into a creative force […] that oscillates between prognostics and phantasm, scientific experiment and aesthetic realm“. Hierbei finden gleichzeitig und ganz im Sinne nicht-anthropozentrischer Umweltforschung und künstlerischer Praxis „posthuman network of relations“ Betonung, in denen sich tierische und kunststoffliche Agenzien verschmelzen und eine rein menschliche Optik unterlaufen. Im gleichen Zug entsteht ein ebenso engagiertes wie schmerzliches Bild der fortwährenden Vermengung plastischer und fleischlicher Körperlichkeit: „we have to be aware of the fact that the omnipresence of plastic in our surroundings, circulation of materials and food chains leads to a certain amalgamation of the human body with inorganic components – we all carry the residues of synthetic polymers in our organisms that allow us to scrutinize the integrity of the human body to a certain degree. “ Beeindruckend ist, wie Perraudin inhaltliche Komponenten des Anthropozän- (und Transkorporealitäts-)Paradigmas mit den ästhetischen und wissenschaftstheoretischen Potentialen von Spekulation und Experiment als Verfahren einer artistic research ausdeutet. Perraudin belegt gewinnbringend die Wechselbezüge zwischen Kunst und Wissen und verhandelt darüber, wie ein spezifisches Bildwissen in aktuellen Debatten um Müll als artefaktisches Gebilde zwischen Natur, Kultur und Technik interveniert.

Eher ungewollt spekulativ bleibt wiederum das ‚Modulare Smartphone‘ in Stephan Lasers Beitrag „A Phone Worth Keeping for the Next 6 Billion?“ aus den Science-and-Technology Studies. Der Artikel modelliert sein Fallbeispiel als Ergebnis einer ‚virtuellen Ethnographie‘ unter Einbezug der Akteur-Netzwerk-Theorie. Dabei wird der im Internet formulierten und vermarkteten Idee eines nachhaltigen Smartphones nachgespürt, das aus auswechsel- und optimierbaren Kernbestandteilen zusammengesetzt ist. Die Reparatur solle dadurch erleichtert und Elektroschrott – hier der Müllbezug eines „not-yet-existing-waste“ – vermieden werden. Hinsichtlich der ‚noch nicht‘, aber womöglich frei in der Umwelt flottierenden Wiedergängermaterialien (Metall, Plastik, Chemikalien) aus unserer elektronischen Kultur destabilisiert das selbst noch imaginäre Gerät die Grenzen zwischen Produkt und Abfall: „With this phone, thus, it is hard to say where the status of waste begins“, da Teile des Geräts beliebig abgeworfen oder neu eingesetzt werden können. Laser folgt der hauptsächlich in sozialen Medien entworfenen Design-Vision des Phonebloks, die unter Project Ara von Google aufgegriffen und unter Einbezug des technologisch versierten Publikums im Netz fortgeführt, doch bis heute retardiert wurde. Obgleich das modulare Smartphone, an dem man, so Laser, durch seine stets aufgeschobene Entstehung „capital in the making“ studieren könne, durch erheblichen Energie- und Rohstoffaufwand kein „prime example of de-growth“, wie vormals imaginiert, darstelle, bleibt der mediengeologische Mehrwert die Destabilisierung von Funktionstüchtig- und Funktionslosigkeit, von Wertigkeit und Vermüllung, wenn das Gerät beides in einem uneindeutigen Körper vereint: „The metaphor of decay employed in this case, however, is somewhat misleading and misguided. […] Ara is prone to not fall to pieces all at once. It instead is constantly transforming itself – casting off disturbing parts to (maybe) incorporate them again later on. [T]he boundaries between being useful and rubbish are being blurred. “ 

Wie grundsätzlich für den Sammelband zu beobachten, herrscht auch hier die notwendige definitorische Offenheit von Müll und ein extensiver Begriff des Übrigen zwischen Körper und Zeichen. 

Weitere Beiträge, die nicht weniger von der hohen wissenschaftlichen Qualität der hier am Müll veranschaulichten creative critical theory zeugen, befassen sich mit einer von Michel Serres inspirierten Philologie des Schmutzes, mit innerstädtischen Self-Storage-Häusern, Müll und Schrott in den Bildkünsten sowie der Architekturtheorie des Gebäuderecyclings. In den vielgestaltigen konzeptuellen Brücken zwischen den einzelnen Aufsätzen, aber auch in ihren Brüchen und Widersprüchen werden Ansätze für eine interdisziplinäre Mülltheorie lesbar.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Christiane Lewe / Tim Othold / Nicolas Oxen (Hg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
254 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783837633276

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