Unendliche Möglichkeiten

Rivka Galchens Erzählband „Amerikanische Erfindungen“

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Laufe eines Augenblicks, einer Stunde, eines Tages, über Wochen, Monate, Jahre bewegt sich der Mensch auf Bahnen, die bei Rivka Galchen nie geradeaus führen. Lebenswege winden sich, führen dorthin zurück, wo sie herkamen, und verweigern die Gewissheit, die menschliche Existenz könne auf ein klar umrissenes Ziel zusteuern. Auf dem Schutzumschlag zu Rivka Galchens Amerikanischen Erfindungen schwingt Daniel Triendl in gehaltvollen Blautönen auf leuchtend gelbem Grund Bahnen. Er schafft einen dreidimensionalen Raum, der zwar keine Mitte kennt und vollkommen abstrakt bleibt, aber die Idee unerschöpflicher Vitalität vermittelt. Dem Cover gelingt es erstaunlich gut, die Atmosphäre der „Storys“ der jungen New Yorker Autorin einzufangen.

Rivka Galchen interessiert sich für Menschen, vor allem für die scheinbar angepassten, die den Zwang zu gesellschaftlicher Konformität erleben. Oft sind die Figuren der Autorin psychisch aus dem Lot geraten. Dennoch sind ihre Geschichten keine Storys aus der Therapeutenpraxis. Sie spiegeln vielmehr eine Welt, die oberflächlich betrachtet zwar den Anschein erweckt, intakt zu sein, doch zugleich gänzlich unzuverlässig ist und keinen Boden bietet, auf dem man sicher gründen könnte.

Die verlorene Ordnung (The Lost Order), jene Erzählung, die programmatisch am Anfang der Sammlung steht, präsentiert eine arbeitslose, übergewichtige, namenlose Protagonistin, die weder mit sich selbst zurechtkommt, noch mit ihrem Partner. Eines Tages erhält sie einen Anruf mit unterdrückter Nummer. Am Apparat meldet sich ein Mann, der eine Bestellung beim asiatischen Lieferservice aufgeben möchte. Statt dem Hungrigen am anderen Ende der Leitung zu sagen, er habe sich verwählt, lässt sich die Protagonistin ins Gespräch verstricken, das ohne Klärung des Missverständnisses endet. Die nach dem Telefonat entwickelten Gewissensbisse sind jedoch zwecklos, denn die Chance zur Richtigstellung ist ein für alle Mal verpasst.

Vermeintlich gefasst und stark, tatsächlich allerdings durch eine Brille mit Weichzeichner-Effekt blickt die Protagonistin dieser Erzählung der Wirklichkeit ins Auge. Denn als ihr Bruder ihr mit der groben Bemerkung „Ich erkenne deine Beine nicht wieder“ zu verstehen gibt, wie sehr sie an Gewicht zugelegt habe, reagiert sie so: „da war ich nicht glücklich darüber. Obwohl, vielleicht war ich es doch. Denn zumindest hatte ich jetzt etwas, von dem ich wusste, es wäre nicht verkehrt, mich wirklich damit zu beschäftigen.“ In einer weiteren Szene der Erzählung will die Frau nach ihrem verlorenen Ehering suchen; dabei beobacht sie zwei weibliche Angestellte eines Paketdienstes, deren Physis sie vollkommen in ihren Bann schlägt. Ungefragt klinkt sie sich ins Gespräch mit den Zustellerinnen ein: „‚Ich habe noch nie eine Frau als Auslieferin bei UPS arbeiten sehen, sage ich. ‚Und plötzlich sind Sie da – gleich zwei auf einmal. Ich glaube, ich sehe ein Einhorn. Oder das Ungeheuer von Loch Ness.‘“ Kleinigkeiten lenken die Aufmerksamkeit der Erzählerin ab und führen zu grotesken Verschiebungen im Verhältnis von Wichtigem und Unwichtigem. Wo die Wahrnehmung ständig zwischen Erkennen und Verdrängen, das Handeln zwischen Tun und Nicht-Tun schwankt, heben sich die Wirkkräfte gegenseitig auf und bringen die Protagonistin zum Stillstand. Aber es wäre weit gefehlt anzunehmen, dass Galchens Figuren daran zerbrechen würden. Vielmehr entziehen sie sich, beginnen zu „schweben“ und verschanzen sich in einer Traumwelt. Wie die Bestellung („order“) des Lieferservicekunden nicht ans richtige Ohr gerät, um erfüllt zu werden, so verliert sich die Protagonistin selbst im Raum der unendlichen Möglichkeiten, ohne dabei eine von ihnen zu ergreifen.

Die Welten, die Rivka Galchen in ihren Storys entfaltet, konfrontieren den Leser mit ungewöhnlichen, oft schrägen Erzählerfiguren. Sie bewegen sich in einer ‚normalen‘ amerikanischen Alltagswelt, die groteske Züge offenbart, weil die Wahrnehmung der Figuren die Normalität übersteigt. Manchmal schlagen die Erzählungen sogar den Bogen ins Surreale. Dabei geht es – das literarische Format legt diese Beobachtung ohnehin nahe – nicht um große Welterklärungsmodelle. Galchen erzählt von den Unauffälligen, von solchen Menschen, die keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihre Geschichten sind versponnen, können durchaus beängstigende Momente entwickeln, dennoch bleiben sie stets irgendwie leicht und warm. So berichtet beispielsweise Waldbeerenblau vom ersten Verliebtsein eines Mädchens, dessen Objekt der Sehnsucht ein ehemaliger Heroinabhängiger ist, der nun bei McDonald’s arbeitet. Die buchtitelgebende Geschichte Amerikanische Erfindungen einer Frau, der eine dritte Brust wächst, von ihrer Suche nach einem festen Standpunkt, von dem aus sie sich der Situation gewachsen zeigen kann. „Ich war eine Ausgeburt von Hässlichkeit, die über sich hinwegkommen musste, oder jemand, der tapfer zu seinen eigenen Entscheidungen stand, oder eine Vierte-Welle-Feministin, ein Fakestertum-Symptom, eine Rebellin wider die Tyrannei des „Natürlichen“ oder ein Mensch, der wirklich, wirklich Hilfe brauchte …“ In Einst ein Weltreich wird das Wohnungsinventar einer Mittdreißigerin lebendig. Das Bügelbrett etwa „bewegte sich geschmeidig, spielerisch. Ungefähr so wie eine Seekuh.“ 

Wer zu Amerikanische Erfindungen greift, liest Storys von der „Flippermeisterin der amerikanischen Literatur“, so die lobenden Worte Karen Russells, einer der besten zeitgenössischen Autorinnen von Kurzgeschichten in den USA. Galchen katapultiert ihre Figuren auf Bahnen, auf denen sie mit beträchtlicher Geschwindigkeit entlang laufen. Der Erzählton ist kraftvoll, jede ihrer weiblichen Protagonistinnen leuchtet im erzählerischen Spotlight. Die persönlichen Katastrophen dieser Frauen entstehen aus sozialen Bedingungen, Normen, Erwartungshaltungen heraus. Und da ein feinsinniger Humor alle Storys durchdringt, dürfen sie durchaus als kleine „Gesellschaftskomödien“ gelesen werden. Allerdings sollten sich Leser darauf einstellen, dass ein ständiges Hin und Her der Erzählerwahrnehmung durchaus ermüden kann. Wer Schwierigkeiten mit Figuren hat, die als Träumer oder verschrobene Spinner zu bezeichnen wären, dem ist die Lektüre dieses Bandes bedingt zu empfehlen. Denn Galchen hält nicht viel von handfestem Realismus.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rivka Galchen: Amerikanische Erfindungen. Storys.
Übersetzt aus dem Englischen von Grete Osterwald und Thomas Überhoff.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
208 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025298

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