Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort

León und Rebeca Grinbergs Studie zur „Psychoanalyse der Migration und des Exils“ wird neu aufgelegt

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema Migration hat zweifellos Hochkonjunktur. Das lädt sicher dazu ein, einige sich im thematischen Rahmen bewegende Monografien älteren Datums neu zu verlegen. Eben um eine solche Wiederauflage handelt es sich bei dem vorliegenden Sachbuch. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Psicoanálisis de la Migración y del Exilio bereits 1984; die deutsche Erstausgabe wurde 1990 bei Klett-Cotta (2. Aufl. im Jahre 2010) herausgebracht. Die Autoren – das Psychoanalytiker-Ehepaar León und Rebeca Grinberg – sind 1976 aus Argentinien nach Madrid ausgewandert. Die im Buch vorgestellten Fallgeschichten über Migrations- bzw. Exilerfahrungen wurden in drei Ländern aufgenommen: in Argentinien, dem Herkunftsland beider Autoren, in Israel, wo sie sich oft beruflich aufhielten, und in Spanien, dem Wohnort ihrer Wahl. Bedenkt man allerdings das Erscheinungsjahr der Originalausgabe und die (entsprechend früheren) Erhebungsjahre der Fallgeschichten (u.a. 1965), drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob die über 30 Jahre alten Forschungsergebnisse für die heutige Welt noch immer relevant sein können. Haben sich die Erfahrung der Migration und die mit ihr verbundenen psychologischen Zustände nicht verändert?

Im Fokus der Monographie stehen Reaktionen der Menschen auf ihre Erfahrung der Migration und des Exils. Die dargestellten Ergebnisse werden unterstützt durch literarische Werke, wie Elias Canettis Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend und Franz Kafkas Der Verschollene, sowie biblische Geschichten, darunter die Vertreibung aus dem Paradies und die Geschichte von Moses, wie auch die Mythologie (Ödipus). Das Verfahren der Autoren ist klassisch psychoanalytisch: Es werden die im Alltag sich manifestierenden Ängste von Psychoanalyse-Patienten mit Migrationserfahrung wie auch ihre Trauminhalte herangezogen und analysiert. In der Argumentation greifen die Autoren meist auf die theoretischen Grundlagen von Sigmund Freud zurück. Um einen bestimmten Aspekt ausführlicher zu beleuchten, werden auch weitere Psychoanalytiker herangezogen, darunter Anna Klein. Indessen wird die Erfahrung der Migration sehr differenziert betrachtet und ein breites Spektrum der Fragestellungen abgedeckt, denn die Autoren beziehen in ihre Studie beispielsweise das Problem des Spracherwerbs, den Einfluss des Alters auf die Folgen der Migration oder die Entwicklung der Identität nach einer Migrationserfahrung mit ein.

Doch was ist Migration? Unter Migration verstehen die Autoren „die verschiedenen Arten von geografischen Wanderungen, die dieser Begriff umfaßt: nahe und ferne, vorübergehende und dauerhafte, freiwillige und erzwungene Migration“. Sie ordnen die Migration den „akkumulativen und Spannungs-Traumatismen“ zu, die „nicht immer von lärmenden oder sichtbaren Reaktionen, aber doch von tiefen und dauerhaften Auswirkungen“ begleitet sind. Migration sei dabei keine isolierte Erfahrung, die sich im Moment der Auswanderung ereigne. Im Gegenteil, zwischen den traumatischen Ereignissen und ihren feststellbaren Folgen gäbe es eine variable „Latenzperiode“, und zwar unabhängig von den äußeren wie inneren Beweggründen. „Das Ausmaß dieser durch die Migration ausgelösten Störungen wird zu einem guten Teil von der Tatsache abhängen, ob der Emigrant allein ausgewandert oder in Begleitung seines Ehepartners beziehungsweise seiner Familie.“ Der entscheidende Punkt ist, die Trauerarbeit bewusst zuzulassen. Die Symptome des Exilierten ähneln denen des Migrierten, mit dem Unterschied, dass Exil viel intensiver und schmerzlicher empfunden wird, hauptsächlich aufgrund des oft nicht erfolgten Abschieds von Familie und Freunden. Dabei sei dieser im strengsten Sinne ein ritueller Akt der Trennung der An- von der Abwesenheit und für den psychischen Eigenschutz des/der Migrierenden von großer Bedeutung.

Dennoch ist die Erfahrung der Migration, so die Autoren, fest in das Menschsein eingeschrieben: „Metaphorisch können wir die Entwicklung eines Menschenlebens als eine Abfolge von ‚Migrationen‘ betrachten, durch die der Mensch sich fortschreitend von seinen Primärobjekten entfernt“. So erlange jedes Individuum eine gewisse migratorische Erfahrung im Laufe seines Lebens, deren erste die Geburt darstelle. So wie jedes Kleinkind als Folge dieser ersten Trennung unterschiedliche Ängste entwickelt, trenne sich ein Emigrant/eine Emigrantin von seinem Land und muss „in der neuen Umwelt Kontakt mit einem passenden Objekt aufnehmen, das ihm als Halt und ‚Behälter‘ dient und an dem er zärtlich hängen wird. Wenn jedoch seitens der Umgebung keine oder nur geringe Empfangsbereitschaft besteht, werden die Selbsterhaltungsstrukturen des Menschen geschädigt“. Doch der Aufnahmeprozess erfolgt keinesfalls einseitig, denn der Migrant muss nicht nur vom neuen Land „adoptiert werden, sondern es auch schaffen, dieses zu ‚adoptieren‘ und die Trauerarbeit für sein verlorenes Herkunftsland zu leisten“.

Das Buch setzt sich aus mehreren thematisch getrennten Kapiteln zusammen, die sich auch gewinnbringend unabhängig voneinander lesen lassen. Nach einer längeren ersten Fallgeschichte „Marisa“ werden nacheinander einige Faktoren geschildert, die die Migration in unterschiedlichen Graden beeinflussen. Manche der vorgeführten Aspekte liefern zu dem aktuellen Stand der Forschung wenig Neues, wie z.B. die Feststellung, dass psychische Vorgänge davon abhängen, die Migration freiwillig oder erzwungen erfolgte, oder dass Migration im gleichen Grade die Weggehenden wie die Zurückbleibenden belastet. Doch neben diesen selbstverständlichen Aspekten sind auch solche zu finden, die bis dato noch nicht ausreichend erforscht wurden, wie z.B. der Beitrag der Aufnehmenden zur erfolgreichen Integration der Migrierten. Dabei sei die Reaktion der aufnehmenden Gesellschaft entscheidend für das Schicksal einer Migration. Erst in jüngerer Zeit – abgesehen von dem schon seit langem in der Literaturwissenschaft geführten Diskurs um das Fremde – lässt sich das Interesse der Forschung an der in der aufnehmenden Gesellschaft aufkeimenden Angst erkennen. Denn es ist „auch für die Einheimischen eine schwere Aufgabe, die Anwesenheit des Fremdlings zu ‚metabolisieren‘ und in sich aufzunehmen“.

Trotz der interessanten Inhalte und ihrer verständlichen Vermittlung stimmt die fortschreitende Lektüre zunehmend skeptisch ein. Denn man wird den Verdacht nicht los, dass die Autoren jeden Gedanken, jede kleinste Störung (fast schon zwanghaft) auf die Erfahrung der Migration zurückführen, sodass das Buch zirkulär zu argumentieren scheint: Die Autoren zählen verschiedene Störungen auf, die als Folge der Migration auftreten können, und belegen diese mit Fallgeschichten ihrer Klienten, an denen sie diese Erkenntnisse gewonnen haben. Hilfreich wäre sicherlich eine Kontrollgruppe psychisch stabiler Menschen vor der Migration zu befragen, die nach dem Auswandern auf die möglichen Folgen für die psychische Gesundheit untersucht werden könnte. Die Skepsis mag andererseits aber auch darin begründet sein, dass sich heutzutage der allgemeine Forschungsansatz ändert. So hat sich etwa die Bedeutung der Freud‘schen Psychoanalyse gewandelt. Daraus resultiert auch eine gewisse Schwäche des Werkes, denn die vorgeführten Ansätze setzen die Zustimmung zum psychoanalytischen Paradigma voraus. Zudem änderte sich der Zugang zu dem behandelten Problem, denn während Grinbergs sich vor allem auf die Beschreibung der Phänomene konzentrieren, lenkt die aktuelle Forschungsliteratur ihr Augenmerk vorwiegend auf lösungsorientierte Beiträge, d.h. die angewandte Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie. So ist zu konstatieren, dass manche in diesem Buch dargestellten Ansätze weiter entwickelt wurden, sich weitgehend ausdifferenziert haben und somit heute nicht mehr auf dem neusten Stand sind. Zudem mögen die vielfachen Bezüge auf Sigmund Freud, der als der Urvater der Psychoanalyse zwar viele der Forschungsansätze mitangestoßen hat, doch mittlerweile zum Teil überholt bzw. weiterentwickelt wurde, dem ‚Laien-Leser‘ etwas übertrieben vorkommen. Nach der Lektüre lässt sich das Fazit ziehen, dass die Migration – früher oder später – unabdingbar mit einer psychischen oder psychosomatischen Störung einhergeht. Und glaubt man den Autoren, dass das menschliche Leben nur aus einer Aneinanderreihung von Migrationserfahrungen besteht, leben wir in einer gestörten Gesellschaft.

Doch wer sich einen kompakten Überblick über das breite Spektrum verschiedener Störungen verschaffen oder etwas über die möglichen Folgen der eigenen Migration erfahren möchte, dem erlaubt dieses Werk, sich die ersten Einblicke zu verschaffen und vielleicht auch manche Fragestellungen aufzuzeigen, die weiterhin Desiderate der Forschung darstellen. Da dieses Buch bemüht ist verständlich zu bleiben, ist es auch für fachfremde Leser geeignet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

León Grinberg / Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2016.
272 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783837926088

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