Kritik, Korruption und Vernetzung im Literaturbetrieb
Ein Gespräch
Von Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki
Vorbemerkung der Redaktion: Das Gespräch zwischen Peter von Matt und Reich-Ranicki, dessen Beginn im Folgenden nachzulesen ist und dessen Aufzeichnung 1992 im Ammann Verlag und zwei Jahre später als Fischer-Taschenbuch erschien, wurde 1986 geführt und 1991 fortgesetzt. Es bleibt ein bemerkenswertes Dokument des literarischen Lebens in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts, ein Dialog auch zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik, und es hat mit zahlreichen zentralen Problemen, die Literatur, Kritik und Wissenschaft gleichermaßen bewegen, wenig von seiner damaligen Aktualität verloren. Der längst vergriffene Band erscheint am 20. Mai kommentiert und ergänzt in unserem Verlag LiteraturWissenschaft.de. Anlass für die Neuausgabe ist nicht zuletzt der 80. Geburtstag Peter von Matts in diesem Monat. T.A.
PETER VON MATT: Herr Reich-Ranicki, Sie lieben das Eindeutige und das klare Wort. Ich möchte gern eindeutig anfangen und Sie am Anfang bitten, vier Fragen so kurz wie möglich zu beantworten, mit Ja und Nein, wenn es geht. Nachher haben wir Zeit, alles zu präzisieren. Erste Frage: Sind Sie grausam?
MARCEL REICH-RANICKI: Ich bemühe mich, nicht grausam zu sein. Es gibt Fälle, wo eine gewisse Grausamkeit nötig ist.
P. v. M.: Haben Sie Feinde?
M. R.-R.: Sehr viele. Das gehört zu meinem Beruf.
P. v. M.: Würde die deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre ohne Sie anders aussehen?
M. R.-R.: Ein klein wenig, glaube ich. Nur: Es ist nicht meine Sache, dies zu beurteilen.
P. v. M.: Ist der deutsche Literaturbetrieb korrupt?
M. R.-R.: Der Literaturbetrieb aller Länder ist korrupt. Der deutsche nicht mehr, als er es in der Weimarer Republik war, vielleicht etwas weniger.
P. v. M.: Ich möchte bei dem Stichwort Literaturbetrieb bleiben, und zwar eben in dem Problemfeld der möglichen Korruption. Wie ist das mit den Verlagen? Gibt es eine Einflußnahme der Verlage auf die Kritik, die dann tatsächlich diese Kritik steuert?
M. R.-R.: Wie der Rechtsanwalt verpflichtet ist, seinen Mandanten zu verteidigen, was immer er getan haben mag, so muß der Verleger, wenn er sich einmal entschlossen hat, ein Buch zu publizieren, möglichst viel tun, um dieses Buch unter die Leser zu bringen. Der Einfluß auf die Kritik wird auf unterschiedliche Weise ausgeübt. Je größer und je mächtiger ein Verlag und je intelligenter dessen Leitung, desto subtiler und komplizierter die Einflußnahme.
P. v. M.: Gibt es direkte Bestechung?
M. R.-R.: Nein, die gibt es meines Wissens nicht. Denn soviel verdienen die Verleger an ihren Büchern nun doch nicht, daß sie es sich leisten könnten, die Kritiker mit nennenswerten Beträgen zu bestechen.
P. v. M.: Sie haben also nie von einem Verlag ein Geschenk von einigem Wert bekommen oder angenommen? So von fünfzehn Flaschen Burgunder an aufwärts?
M. R.-R.: Sie überschätzen die Großzügigkeit unserer Verlage. Noch nie habe ich mehr als sechs Flaschen erhalten. Dabei handelte es sich um Weihnachtsgaben von Verlagen, die meine Bücher publizieren. Vom Suhrkamp Verlag habe ich zum 60. Geburtstag einen Hibiskus bekommen, der übrigens noch heute auf meinem Balkon steht. Zum 70. Geburtstag hat mir derselbe Verlag eine Flasche Whisky geschenkt (von vorzüglicher Qualität).
P. v. M.: Gibt es nicht noch andere Wege der Korruption im Literaturbetrieb?
M. R.-R.: Ich lebte noch nicht lange in der Bundesrepublik, war aber schon nicht ganz unbekannt. Damals habe ich ein übersetztes Buch ziemlich scharf abgelehnt. Der Verlag, der es herausgebracht hatte, meldete sich sofort und unterbreitete mir ein überraschendes Angebot: Er wollte einen Band mit meinen Kritiken verlegen. Das war offensichtlich ein Versuch, mich für künftige Zeiten von der negativen Kritik der Bücher dieses Verlages auszuschließen. So will man unbequeme Kritiker mundtot machen. Das ist übrigens in meinem Falle schon deshalb sinnlos, weil ich auch über Bücher von Verlagen schreibe, in denen meine eigenen Sachen erscheinen. Robert Musil hat einmal in seinem Tagebuch gespottet, Alfred Polgar sei ein glücklicher Mensch, dem meist Bücher gefallen – ich zitiere sinngemäß –, die bei seinem eigenen Verleger erschienen sind, nämlich bei Rowohlt. Auch Musil wurde von Rowohlt verlegt, aber er schrieb nicht über diese Bücher. Wollte Polgar seinem Verleger einen Gefallen tun? Das läßt sich nicht von der Hand weisen, obwohl Polgar – gar kein Zweifel – ein ehrlicher, ein integrer Kritiker war. Was mich betrifft: Ich schließe die Bücher der Verlage, in denen auch meine eigenen Sachen gedruckt werden, von meiner literarkritischen Tätigkeit nicht aus. Denn ich publiziere in mehreren Verlagen, es würde also gar zuviel wegfallen. Nur lasse ich mich von dem Umstand, daß ich Autor dieser Verlage bin, nicht beirren. Viele Jahre hat meine Bücher der Piper Verlag veröffentlicht. Gleichzeitig habe ich manche Bücher des Piper Verlages scharf abgelehnt. Andererseits erscheinen meine Bücher seit 1979 in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart – und natürlich habe ich Titel auch dieses Verlages verrissen. Bei Suhrkamp, Insel und S. Fischer ist ebenfalls allerlei von mir veröffentlicht worden, vor allem Anthologien und Sammelbände. Die Verleger, mit denen ich zusammenarbeite, wissen, wie ich mich verhalte und akzeptieren es. Nun sollten Sie aber nicht etwa meinen, dass ich mich hier meiner Unbestechlichkeit rühmen möchte. Wenn man den Beruf des Kritikers wirklich ernst nimmt, dann ist dies ganz und gar selbstverständlich. Überdies gibt es bei uns nicht wenige Kritiker, die keine Gefälligkeitsrezensionen schreiben. In meinem Fall ist dies nicht so schwierig, weil ich seit rund dreißig Jahren Gehaltsempfänger bin – zuerst vierzehn Jahre bei der Zeit und ab 1973 bei der F.A.Z. – und nicht so kümmerlich entlohnt werde. Allerdings muß man noch berücksichtigen, dass ich seit 1973 sowohl Kritiker als auch Chef des größten Literaturteils in deutscher Sprache bin. So kreuzen sich in meiner Person sehr verschiedene Einflüsse.
P. v. M.: Damit ist das Spektrum möglicher Korruptionsfälle erschöpft?
M. R.-R.: Nein, dieses Spektrum läßt sich nicht erschöpfen. Es gibt Verlage, die gern Bücher von Kritikern bringen oder von Germanisten, die Rezensionen veröffentlichen. Das sind in der Regel schwer verkäufliche Publikationen, doch die Zusammenarbeit mit ihren Autoren kann sich für den Verlag als nützlich erweisen. Kaum ist der Vertrag mit einem solchen Autor abgeschlossen, da wird er schon von dem Verleger auf irgendein neues Buch aus seinem Haus hingewiesen, das ihn, diesen Autor, gewiß interessieren werde. Dieser versteht natürlich den Wink und bemüht sich, in irgendeiner Zeitung oder Zeitschrift eine mehr oder weniger hymnische Kritik über die ihm zugeschickte Neuerscheinung unterzubringen. Denn ihm, dem aufstrebenden Germanisten oder Kritiker, ist sehr daran gelegen, daß der Verleger ihm gewogen bleibt, damit sein Band rasch und schön auf den Markt kommt. Solche und ähnliche Zusammenhänge gibt es nicht selten; ob hier das Wort Korruption am Platze ist, weiß ich nicht, ich möchte lieber sagen, daß sie sich der Korruption nähern.
P. v. M.: (Lacht.) Es gibt zu diesem Bereich eine Äußerung von Siegfried Unseld, den vielleicht doch bedenkenswerten Satz: »Ich möchte hier aus verständlichen Gründen nicht darüber sprechen, was die Autoren meines Hauses über meine Beziehungen zu Marcel Reich-Ranicki denken.« Verstehen Sie diesen Satz?
M. R.-R.: Ja. Den kann ich Ihnen erklären. Natürlich gibt es Autoren, über deren Bücher ich mich ungünstig geäußert habe und die deswegen nichts von mir halten und denen meine Tätigkeit sogar schädlich scheint. Das ist verständlich, das war immer so in der Geschichte der Literatur, seit die Literaturkritik existiert. Ich habe auch viele Feinde, die nur deshalb gegen mich sind, weil ich sie nie besprochen habe und weil sie es als Beleidigung empfinden, daß ich ihre Bücher ignoriere. Hier ein Beispiel. Peter Weiss reagiert in seinen bei Suhrkamp erschienenen Notizbüchern 1971-1980 verwundert und verärgert auf den Umstand, daß ich seine Ästhetik des Widerstands nicht selber in der F.A.Z.besprochen, sondern einem anderen überlassen habe. Es ist bezeichnend für viele Autoren, daß sie sich – wie eben Peter Weiss – Gedanken machen, warum ein Kritiker zwar ursprünglich ihr Buch rezensieren wollte, es dann aber doch nicht getan hat. Sie kommen nicht auf die Idee, daß dieser Kritiker von ihrem Buch enttäuscht war und auf die geplante Kritik verzichtet hat, um keinen Verriß zu schreiben. Von Erich Fried, mit dem ich befreundet war, erschien 1965 ein Geschichtenband Kinder und Narren. Er bat mich nachdrücklich, das Buch zu besprechen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich keine Gefälligkeitskritiken schreibe und daß mir sein Buch ja mißfallen könne. In der Tat fand ich es sehr schwach, meine Kritik war, bei allem Respekt, doch ungünstig. Fried war gekränkt, nahezu empört. Er habe doch, sagte ich ihm, mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß mir sein Buch mißfallen werde. Seine Antwort war: »Nein, auf diesen Gedanken bin ich nicht gekommen.« Martin Walser hat Anfang der sechziger Jahre geschrieben, daß ich solche um mich versammle, die nur von mir getadelt werden wollen. Leider trifft das kaum zu. Walser selber ist mir, wenn ich etwas von ihm beanstande, sehr lange böse. Zurück zu der Äußerung von Unseld. Er hatte vielleicht seine Autoren Peter Weiss und Martin Walser im Sinne und, was noch wahrscheinlicher ist, Peter Handke. Offen gesagt: Mich hat dieser außerordentlich erfolgreiche Schriftsteller nie sonderlich beeindruckt. Interessiert haben mich seine frühen Einakter wie Publikumsbeschimpfung, Weissagung oder Hilferufe. Das war, glaube ich, hochbegabtes Studententheater. Aber das sind ja Arbeiten noch aus den sechziger Jahren. In den siebziger Jahren habe ich zwei Bücher von ihm entschieden abgelehnt: Die linkshändige Frau und Langsame Heimkehr. Man warf mir vor, ich hätte keinen Sinn für den angeblich so fabelhaften Handke. In der Tat interessieren mich seine Bücher immer weniger. Seit zwölf Jahren habe ich nichts mehr über ihn geschrieben. Handke war und ist natürlich gekränkt und beleidigt. Und irgendwann hat er in der Wohnung seines Verlegers Siegfried Unseld ein Buch von mir mit einer Widmung für ihn, Unseld, gefunden. Er hat wohl damals von Unseld verlangt, er solle die Beziehung mit einem so schrecklichen Kritiker sofort abbrechen. Die Sache ist doch ganz einfach: Unseld hat in seinen Verlagen, Suhrkamp und Insel, viele wichtige Autoren versammelt und darunter auch solche, die mir gram sind.
P. v. M.: Es gibt im Prozeß der Meinungsbildung über Literatur zahlreiche und unterschiedliche Faktoren. Der Literaturbetrieb setzt sich aus verschiedenen Instanzen zusammen. Was glauben Sie, welches sind die wichtigsten meinungsbildenden Positionen heute? Sind es Kritiker-Namen, sind es Zeitungen, ist es das Fernsehen, sind es andere Medien?
M. R.-R.: Das ist eine diffizile Frage. Wir müssen genau unterscheiden zwischen dem Einfluß der Kritik auf die öffentliche literarische Meinung und dem Einfluß auf den Verkauf der Bücher. Das sind zwei vollkommen verschiedene Sachen. Ich habe vierzehn Jahre lang für die Zeit gearbeitet und es damals für meine Pflicht gehalten, einmal jährlich über ein Buch der Trivialliteratur zu schreiben, oft auch über Bücher bekannter oder gar anerkannter Autoren, die auf dieser Ebene gelandet waren. Also schrieb ich über Bücher von Luise Rinser und Stefan Andres, Robert Neumann und Rudolf Hagelstange, Hans Habe und Willi Heinrich – und ich merkte nach einiger Zeit, daß meine Kritiken zwar viel gelesen wurden, aber auf den Verkauf dieser Bücher nicht den geringsten Einfluß hatten. Der Grund ist sehr einfach: Die Leser von Hans Habe oder Willi Heinrich waren nicht Leser der Zeit, und wenn sie Leser der Zeit waren, dann nicht Leser von Literaturkritiken. Derartige Bücher finden ihren Weg zum Publikum ohne Kritik, sie haben ihre Gemeinde. Ob ein neues Buch von Konsalik in der F.A.Z. oder in der Zeit besprochen und wie es besprochen wird, ist für den Verkauf völlig belanglos.
P. v. M.: Kurze Zwischenfrage: Wo und womit beginnt für Sie Trivialliteratur?
M. R.-R.: Mit diesem Begriff ist nichts anderes gemeint als eine sowohl ästhetisch als auch intellektuell wertlose Literatur mit klischeehaften Motiven, schematischen Gestalten und einer geschmacklosen Sprache, die sich meist stereotyper und zugleich prätentiöser Bilder bedient. Leider läßt sich die Kategorie »Geschmack« nie zuverlässig definieren. Man kann hier nur mit Beispielen operieren. Dennoch können wir auf diese Kategorie, so vage sie sein mag, nicht verzichten. Mir ging es aber vorwiegend nicht um Trivialautoren, sondern um Trivialromane. Ein Beispiel: Stefan Andres war ein ernster Autor, der im Dritten Reich eine gute Erzählung (El Greco malt den Großinquisitor) geschrieben und während des Krieges ein wichtiges Buch (Wir sind Utopia) veröffentlicht hat. Aber sein Taubenturm aus den sechziger Jahren ist eben ein Trivialroman. Ähnliches gilt für Rudolf Hagelstange und seinen Roman Altherrensommer.
P. v. M.: Damit können wir zurück zum Thema literarische Meinungsbildung.
M. R.-R.: Da ist also zunächst die Frage nach der tatsächlichen Wirkung der Kritik. Eine gute, vielleicht sogar hervorragend geschriebene Kritik, die aber in der Neuen Rundschau oder im Merkur gedruckt wird, hat nur einen minimalen Einfluß. Das sind vornehme Publikationsorte mit nur geringer Auflage. Oft sagt man, die Auflage sei zwar niedrig, doch hätten diese Zeitschriften Leser, die ihrerseits Einfluß ausüben, die also als »Multiplikatoren« funktionieren. Das mag schon sein, nur lesen diese Multiplikatoren nicht nur den Merkur und die Neue Rundschau, sondern auch die Zeit, den Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung sowie andere Zeitungen und Zeitschriften. Überdies kommen die vornehmen Publikationen mit ihren Besprechungen meist erst einige Monate nach dem Erscheinen des jeweiligen Buches, also zu spät, meist erst dann, wenn die Schlacht um das Buch schon geschlagen ist. Natürlich kommt es auch auf die Schreibweise an, davon hängt die Wirkung in hohem Maße ab. Ich habe mich immer bemüht, Kritiken so zu schreiben, daß sie unabhängig vom Gegenstand gelesen werden, also nicht nur dann, wenn ich mich zu einem neuen Buch von Grass oder Walser äußerte, sondern auch über Heine oder Fontane. Aber ob nun ein namhafter oder ein noch nicht bekannter Kritiker – will er Einfluß ausüben, dann muß er klar, anschaulich, griffig schreiben. Seit ich als Chef des Literaturteils der F.A.Z. amtiere, habe ich die Mitarbeiter immer wieder gebeten, stets daran zu denken, daß der Leser absolut nichts über das Buch, das der Kritiker bespricht, wissen will. Aber die Kritik sollte so geschrieben sein, daß er sie zu lesen beginnt und auch tatsächlich weiterliest. Schließlich hatten wir in der Geschichte der deutschen Literatur Kritiker, die wir noch heute lesen, obwohl die besprochenen Bücher längst vergessen sind.
P. v. M.: Das betrifft alles die Presse. Wie ist es mit dem Fernsehen?
M. R.-R.: Daß das Fernsehen einen enormen und direkten Einfluß auf den Verkauf von Büchern ausüben kann, hat sich schon häufig gezeigt. Es kommt aber zuerst einmal darauf an, in welchem Programm etwas über Literatur gebracht wird: Im Ersten und im ZDF oder in einem Dritten Programm. Der Unterschied ist enorm. In den Hauptprogrammen kann die Einschaltquote eine Million betragen oder auch zwei, in den Dritten hunderttausend oder vielleicht zweihunderttausend Zuschauer. Ob nun im Fernsehen oder in Zeitungen – günstig für den Verkauf eines Buches ist nicht unbedingt die positive Kritik, sondern eine Plus/Minus-Spannung. Wenn über ein Buch eine positive, enthusiastische Kritik erscheint, dann ein Verriß und sich daraus eine Polemik ergibt, werden viele Leser, und nicht die schlechtesten, angeregt, das Buch selber zu lesen und zu überprüfen, wer denn eigentlich recht habe.
P. v. M.: Apropos Plus/Minus-Spannung: Geschieht es nie, daß Sie diese selbst gezielt herstellen, indem Sie, zum Beispiel, negativ reagieren, wenn der Spiegel ein Buch gefeiert hat, und umgekehrt? Findet hier vielleicht ein kalkuliertes Ping-Pong-Spiel statt, und zwar auf dem Rücken des Autors? Ist das nicht eine etwas zwielichtige Sache? Was uns wieder in die Grauzone der Korruption brächte . . .
M. R.-R.: Ein wenig zwielichtig ist es immer, wenn Literaten über die Arbeit anderer Literaten öffentlich urteilen. Das gilt für unsere Zeit ebenso wie für das 19. und natürlich auch für das 18. Jahrhundert. Wenn das Spiel, von dem Sie reden, kalkuliert oder gar organisiert ist, dann nicht von Kritikern oder Verlagen, eventuell aber von einer Redaktion. In der Zeit war es in den sechziger und noch Anfang der siebziger Jahre üblich, besonders wichtige Bücher bekannter deutscher Autoren von mehreren Kritikern rezensieren zu lassen. Die Rubrik hieß: Im Brennpunkt des Gesprächs. Die Kritiker standen von vornherein fest, und natürlich hat die Redaktion solche Mitarbeiter ausgewählt, bei denen anzunehmen war, daß sie den Gegenstand unterschiedlich beurteilen würden – was übrigens nicht immer aufgegangen ist. So erinnere ich mich, daß Walter Jens und ich 1965 über ein Buch von Uwe Johnson in der Zeit schrieben. Es hieß Zwei Ansichten, aber es gab letztlich – zum großen Bedauern der Redaktion – nur eine Ansicht, weil unsere Urteile wenig voneinander abwichen.
P. v. M.: Ich möchte doch zu der Frage zurückkehren, ob Ihre Kritiken bewußte Reaktion auf bereits veröffentlichte Besprechungen in anderen Blättern waren.
M. R.-R.: Ja, solche Fälle hat es gegeben, aber nicht etwa, um den Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung oder einen bestimmten Kritiker zu widerlegen oder gar anzuprangern, und auch nicht, um die Spannung herzustellen, von der wir vorher sprachen. Vielmehr erschien es mir manchmal nötig, eine eklatante Ungerechtigkeit – in der einen oder in der anderen Richtung – auszugleichen. In der Regel habe ich den Kritiker, dem ich eine solche Ungerechtigkeit glaubte vorwerfen zu müssen, auch genannt und zitiert. Hier ein Beispiel: 1976 erschien in der Bundesrepublik der Roman Der Boxer des damals in der DDR lebenden Jurek Becker, Karl Corino schrieb in der Stuttgarter Zeitung, es sei ein miserables und überflüssiges Buch und sein Autor ein »total angepaßter Schriftsteller«. Auch ich fand den Roman mißraten, hielt es aber für nötig, Jurek Becker zu verteidigen. Gerade dieses Buch von Becker beweise – das habe ich, glaube ich, überzeugend gezeigt –, daß er kein angepaßter Autor sei, im Gegenteil, daß er ein für die SED unwillkommenes Buch geschrieben habe. Überhaupt muß man bedenken, daß manche Kritiker Widerspruch hervorrufen, weil sie den Mut zu eigenen, möglicherweise unbequemen Ansichten haben und diese deutlich, vielleicht überdeutlich formulieren. Kritiken schreiben sich leichter, wenn man gegen jemanden anschreiben kann, also beispielsweise gegen einen Kritiker, der sich über den Gegenstand vorher geäußert hat. Joachim Kaiser hat Kritiken oft damit begonnen, daß er mich zitierte: Ich hätte schon etwas über das neue Buch geschrieben, was aber leider keineswegs richtig sei. Übrigens haben derartige Kaiser-Proteste unsere langjährige freundschaftliche Beziehung nie gefährdet. Es hat ja in der Geschichte der deutschen Literatur nicht selten große Schriftsteller gegeben, die auf Anlässe zu polemischen Äußerungen geradezu angewiesen waren. Seine Schriften seien immer polemisch – so hat es, wenn auch nicht wörtlich, Lessing gesagt. Zurück zu der Grauzone: Gefährlicher und wohl auch häufiger als die direkte Korruption und das Ping-Pong-Spiel ist die Gefälligkeitskritik. Sie ist genauso alt wie die Literaturkritik und läßt sich zwar einschränken, doch nie ganz verhindern oder ausmerzen. Goethe und Schiller haben sich gegenseitig in Zeitschriften gerühmt. Die Romantiker kannten dieses heikle Problem; gelegentlich haben sie auch über ihre eigenen Werke Kritiken, und nicht unintelligente, publiziert. Die Gefälligkeitskritik basiert in der Regel auf Gegenleistung. Man zitiert das beliebte Wort »Nenn du mich Schiller, nenn ich dich Goethe«. In der Tat haben sich Schriftsteller viele Jahrzehnte hindurch immer nur gerühmt und gefeiert. Ein Beispiel aus der Literaturgeschichte unseres Jahrhunderts: Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig. Aus ihren Briefen wissen wir, daß sie nicht unbedingt begeistert waren vom neuen Buch des Kollegen. Aber in der Öffentlichkeit haben sie sich vierzig Jahre lang gegenseitig gelobt. Anders sieht der Fall aus bei einem Mann wie Hermann Kesten. Er hat viele Kritiken geschrieben, und zwar nur rühmende. Er hat sein Leben lang Hymnen geschrieben, und er hat’s begründet: Er schreibe über die Bücher seiner Freunde und er sei dazu da, seine Freunde zu loben und zu unterstützen. Das ist ein offenes Bekenntnis, und es ist durchaus legitim, daß es auch solche Kritiker gibt.
P. v. M.: Ja, aber das ist nicht eigentlich Gefälligkeitskritik. Diese darf doch wohl nicht so offenkundig sein. Ganz ausgeschöpft ist das Stichwort »Korruption« wohl noch nicht.
M. R.-R.: Ich will Ihnen jetzt ein besonderes ärgerliches und aufschlußreiches Beispiel geben, und keineswegs ein erfundenes. Ein Mitarbeiter der F.A.Z. hat eine Rezension über das Buch eines deutschsprachigen Autors geschrieben, der Fall liegt acht oder neun Jahre zurück. Das Buch hat ihm nicht sehr gefallen, er äußerte Bedenken, wenngleich respektvoll. Herausgeber dieses Buches war ein Rundfunk-Redakteur. Der Rezensent sagte mir: »Ich habe dieses Buch negativ beurteilt. Ich werde das nie wieder machen. Der Grund: Ich bin ein freier Schriftsteller, ich habe für diese Rezension von der F.A.Z. 600 Mark bekommen. Aber in dem Rundfunksender, wo der Herausgeber dieses Buches tätig ist, habe ich ein paar tausend Mark jährlich verdient. Seit dem Tag, da meine Rezension publiziert wurde, verdiene ich dort keinen Pfennig mehr. Ich kann mir das nicht noch einmal leisten.« Man sollte sich hüten, einen solchen Autor, der darauf angewiesen ist, Aufträge vom Funk und vom Fernsehen zu erhalten, zu verurteilen. Jetzt ein etwas ähnliches Beispiel aus der Praxis. Für die F.A.Z. schrieb, es ist ebenfalls schon ziemlich lange her, ein freier Mitarbeiter Fernseh-Rezensionen. Dem zuständigen Redakteur – es war Michael Schwarze, der 1984 leider sehr jung gestorben ist – fiel bald, nach etwa vier oder fünf Beiträgen dieses Mitarbeiters, auf, daß er nur solche Filme besprechen wollte, deren Regie in den Händen bestimmter Abteilungsleiter in den Fernsehanstalten lag, und daß er diese Filme, wie immer sie auch ausfielen, stets und nachdrücklich lobte. Da dieser Rezensent selbst für das Fernsehen arbeitete und offenbar an dieser Arbeit sehr interessiert war, brauchte man über die Ursachen seines Bedürfnisses, gerade die leitenden Herren in den Fernsehanstalten zu rühmen, nicht lange zu rätseln. Die Zusammenarbeit der F.A.Z. mit ihm wurde sofort beendet.
P. v. M.: Ist das nicht ein sehr ernster und sehr undurchsichtiger Zusammenhang: die wirtschaftliche Abhängigkeit des Kritikers und die entsprechende Steuerung seines Urteils?
M. R.-R.: So ist es. Die Feuilleton- oder Literaturchefs sollten dagegen ankämpfen, aber eiserne Regeln oder Gesetze gibt es hier nicht, man muß wohl von Fall zu Fall entscheiden.
P. v. M.: Das Wort »Gefälligkeitskritik« scheint mir eine ganze Menge von unterschiedlichen Vorgängen abzudecken. Sind Berufskritiker dagegen besser gefeit als andere?
M. R.-R.: Jawohl, in der Regel sind sie besser dagegen gefeit als die Sonntagsjäger der Kritik.
P. v. M.: Was heißt denn das?
M. R.-R.: Das sind Romanciers oder Lyriker, Dramatiker, Historiker oder Übersetzer, die ein- oder zweimal jährlich nebenher auch eine Buchbesprechung verfassen. Ich traue ihnen weniger als den Berufskritikern. Die professionellen Kritiker sind weder ehrlicher noch edler oder klüger als die anderen. Aber ihr Ruf – und damit natürlich auch ihr Einkommen – ist von ihrer literarkritischen Arbeit abhängig. Den anderen kommt es gar nicht darauf an, was sie als Kritiker gelten, ihr Ruf ist ja von dem Echo auf ihre Romane oder Lyrikbände abhängig. Sie sind also eher bereit, einen Kollegen zu loben und zu rühmen, der sich dann vielleicht in vier oder acht Monaten revanchieren wird. Der professionelle Kritiker geht dieses Risiko meist nicht ein, denn er weiß, daß er früher oder später als Kritiker verloren ist – so wie ein Schiedsrichter beim Fußball verloren ist, wenn man merkt, daß er aus purer Gefälligkeit zugunsten der einen oder anderen Mannschaft urteilt.
P. v. M.: Und das haben Sie so in Ihrer Zeitung gehalten? Nur Kritiker im Vollamt, keine dieser unzuverlässigen Doppeltalente?
M. R.-R.: Nein, auf die Sonntagsjäger der Kritik kann man nicht ganz verzichten. Große Strenge und Konsequenz wären hier absurd. Thomas Mann beispielsweise publizierte nebenher Rezensionen, keine sehr wichtigen übrigens, wirklich bedeutend waren seine größeren literaturkritischen Essays. Wie auch immer: Welcher Literaturchef wäre so töricht, auf Thomas Mann als Mitarbeiter zu verzichten? Das gilt nicht nur für ihn, sondern auch für die Schriftsteller unserer Zeit, sofern sie über hohe Formulierfähigkeit verfügen. Man kann als Redakteur den eventuellen negativen Folgen der nebenberuflichen Tätigkeit schließlich vorbeugen. Zu den Mitarbeitern des Literaturteils der F.A.Z. gehören, seit ich es leite, auch Romanciers oder Lyriker, also Peter Rühmkorf, Günter Kunert, Siegfried Lenz, Karl Krolow, Ulla Hahn und andere. Aber Lenz – um ein Beispiel anzuführen – schreibt in der Regel über Russen oder Skandinavier, nie über deutsche Autoren, jedenfalls nicht über lebende. Anders sieht es bei Geburtstagen aus. Da ist der Freund des Jubilars geradezu berufen, den Artikel zu schreiben, denn der Geburtstagsartikel hat ja nicht die Aufgabe, ein objektives Porträt zu zeichnen, sondern ein solches, in dem die positiven Eigentümlichkeiten besonders hervorgehoben werden. Gefährlich war dieses Problem in der deutschen Literaturkritik vor etwa zwanzig Jahren im Bereich der Lyrik. Jahrelang haben über Lyrik nur Lyriker geschrieben. Und wenn ein Nicht-Lyriker sich erlaubt hat, etwas über einen Gedichtband zu sagen, dann betrachteten sie das als einen feindlichen Einbruch und versuchten, den Eindringling schnell zu verjagen. Mittlerweile ist es anders. In der F.A.Z. schrieben und schreiben über Lyrik Kritiker, zumal Germanisten, die keine Lyriker waren oder sind. Dennoch kann man auch hier nicht ganz auf den Lyriker als Rezensenten verzichten. Ich habe schon Karl Krolow erwähnt, der oft über Poesie schreibt, und mit sehr viel Verständnis auch für neue und wenig bekannte Lyriker. Gefälligkeitskritik verhindern darf nicht dazu führen, daß man die guten Schreiber vertreibt.
P. v. M.: Ich möchte noch einmal zurück zum Stichwort »Literaturbetrieb« und zum Korruptionsverdacht. Wir haben jetzt hauptsächlich von Kritik gesprochen. Es gibt aber noch ein viel weiteres Feld: die Preise, die Literaturtage, die Bestenlisten, die Jurys aller Art. Das sind vielfältige Institutionen, wo auch manche Personalunion sichtbar wird. Besteht da nicht die Gefahr eines eigentlichen Filzes? In verschiedenen Funktionen tauchen stets die gleichen Häupter wieder auf, und davon profitieren konsequenterweise stets die gleichen Leute.
M. R.-R.: Daß verschiedene Möglichkeiten der Einflußnahme oder, wenn Sie so wollen, der Machtausübung existieren, ist ohne Zweifel richtig. Ich selber bin Mitglied vieler Jurys gewesen, jetzt gehöre ich noch drei Jurys an. Ich nehme auch teil an der Bestenliste, ich hatte und habe immer noch viele Möglichkeiten, einen Autor zu fördern. Der Literaturchef der F.A.Z. zum Beispiel hat relativ viel Macht: Er entscheidet darüber, welche Gedichte und Geschichten in der Zeitung gedruckt werden – das gilt auch für Romane und längere Erzählungen, die in Fortsetzungen erscheinen. Ferner entscheidet er darüber, wer ein neues Buch rezensiert – und es macht schon viel aus, ob dieses Buch einem arrivierten und bekannten Kritiker gegeben wird oder vielleicht einem Anfänger, einem Kritiker mit Autorität oder einem, der sich diese Autorität erst erarbeiten muß. Es ist ebenfalls sehr wichtig, ob dem Kritiker für diese Besprechung zwei Maschinenseiten eingeräumt werden oder fünf oder gar acht. Den besten Mitarbeitern wird keine Grenze gesetzt, er kann über jedes ihm anvertraute Buch schreiben, soviel er will. Sie können sagen, ich hätte als Leiter des Literaturteils der F.A.Z. sehr viel Macht in meinen Händen konzentriert. Es ist sogar behauptet worden – so in einem Fernsehfilm über mich –, es habe in der Geschichte der deutschen Literatur noch nie ein so großes Machtzentrum gegeben wie eben den Literaturteil der F.A.Z. in den siebziger und achtziger Jahren. Zu fragen ist: War das gut für die Literatur? Und: Zu wessen Gunsten habe ich dies alles verwaltet? Ich bilde mir ein: zu Gunsten der Literatur. Wenn ich an das Talent bestimmter Autoren geglaubt habe, dann habe ich sie selbstverständlich nicht nur in der Zeitung gefördert, vielmehr habe ich auch dafür gesorgt, daß sie auf der Bestenliste gut plaziert wurden, daß sie Preise und Stipendien erhielten. Das war nicht nur mein gutes Recht, sondern auch meine Pflicht. Und was die Preise betrifft: Sie werden doch von Jurys vergeben, denen sehr unterschiedliche Personen angehören. Ich hatte immer nur eine Stimme in einer solchen Jury. Und wer einer Jury angehört, ist keinesfalls ein Geheimnis. Ich habe nie einen Mitarbeiter gehindert, Bücher und Autoren zu preisen, von deren Qualität ich nicht unbedingt überzeugt war. Immer war ich der Ansicht, daß er seine und nicht meine Ansicht zu äußern habe. Glauben Sie mir bitte: Es wurden unter meiner Leitung in der F.A.Z. unzählige Kritiken publiziert, mit denen ich durchaus nicht einverstanden war. Aber die Kritiker haben ihr Urteil gut und überzeugend begründet – und darauf kam es an.
P. v. M.: Sie würden also bestreiten, daß die Öffentlichkeit nur teilweise orientiert ist über die Zusammenhänge, die insgeheim zwischen den verschiedenen meinungsbildenden und wertenden Instanzen spielen?
M. R.-R.: Wer sich für Literatur und für das literarische Leben besonders interessiert, der ist darüber informiert. Das alles ist übrigens nicht neu und auch nicht vermeidbar. Man hat sehr viel über die Gruppe 47 geredet, als sie noch existierte. Man hat sie in der Öffentlichkeit fast immer beschimpft und attackiert. Heute wird gesagt: Welch ein Unglück, daß es die Gruppe 47 nicht mehr gibt! Heute wird sie beweint. Vielleicht wird es in Zukunft dem Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Wettbewerb ähnlich ergehen. Einer der Vorwürfe gegen die Gruppe 47 lautete: Die unterstützen sich alle gegenseitig. Das war gelogen. Jeder Anwesende konnte sich bei der Gruppe 47 zu einem vorgelesenen Text äußern, aber de facto haben sich die Berufskritiker am häufigsten geäußert, das heißt Walter Höllerer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Mayer und ich. Diese Kritiker haben Bücher von Autoren der Gruppe 47 auch in der Presse oder im Funk besprochen. Aber es war kompletter Unsinn, zu behaupten, diese Autoren würden von den Kritikern der Gruppe nachher in der Öffentlichkeit gerühmt. Im Gegenteil, es gab ja unter den Autoren in der Gruppe 47 viele, die mir meine Kritiken verübelten, weil ich nicht alles von Grass fabelhaft fand, weil mir manche Bücher von Böll, Eich, Schnurre, Walser, Johnson, Ingeborg Bachmann nicht unbedingt gefielen. Die Gruppe 47 hat dem literarischen Leben genutzt und nicht geschadet.
P. v. M.: Hat sie auch bessere Literatur hervorgebracht?
M. R.-R.: Wahrscheinlich hat sie zur besseren Literatur beigetragen – und sie hat mit Sicherheit viel schlechte Literatur verhindert. Daß bis heute die Komödie, die Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1961 geschrieben hat, nicht gedruckt wurde, hat das deutsche Volk, mit den Schweizern und den Osterreichern zusammen, nur der Gruppe 47 zu verdanken.
P. v. M.: Glauben Sie, daß das zu unserem Lebensglück beiträgt, daß die nicht gedruckt worden ist?
M. R.-R.: (Lacht.) Nein, nicht zu unserem Lebensglück – aber darauf kommt es hier nicht an. Das war die Tagung der Gruppe in der Lüneburger Heide. Enzensberger las eine Komödie etwa im Stil der Dreigroschenoper, eine Nachahmung. Er las und las. Nach einer Stunde brach er ab und sagte: Das hat keinen Zweck; ich lese schon eine ganze Stunde und noch keiner hat gelacht. Er hatte recht. Das hartnäckige Schweigen der Versammelten, das war das Urteil, und er hatte es begriffen. Zu guter Literatur hat die Gruppe 47 beigetragen, indem sie den Autoren eine Tribüne bot, ihnen die Möglichkeit verschaffte, ihre Arbeiten öffentlich zu lesen, also vor den Vertretern der Presse, des Funks, später auch des Fernsehens. So wurde vor allem für die noch unbekannten Autoren der oft langwierige Weg zum Publikum, zur Anerkennung abgekürzt. Sonst hätte es vielleicht drei, vier Jahre gedauert, bis man auf einen Autor aufmerksam geworden wäre. So aber wurde er innerhalb einer Woche bekannt. Sehen Sie sich mal die Liste der Preisträger dieser Gruppe an. Besonders viel hat die Gruppe 47 für Grass getan, der mehrfach allerlei Texte mit mäßigem Erfolg gelesen hatte. Und dann hat er, es war 1958, zwei Kapitel aus der noch nicht vollendeten Blechtrommel gelesen. Er erhielt dafür den Preis und war, gewissermaßen am selben Tag, ein gemachter Mann. Ebenso Heinrich Böll, Günter Eich, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Martin Walser, Johannes Bobrowski und, in den letzten Jahren der Existenz dieser Gruppe, Jürgen Becker und Peter Bichsel. Das waren damals, als sie preisgekrönt wurden, noch unbekannte oder jedenfalls wenig bekannte Autoren, denen es nicht sonderlich gut ging. Die Tagungen der Gruppe 47 haben zum Aufstieg auch von solchen Autoren wesentlich beigetragen, die zwar gelesen haben, aber keinen Preis bekamen. Ich denke hier an Enzensberger, Peter Weiss, Wolfgang Hildesheimer, Wolfdietrich Schnurre, Erich Fried, Nicolas Born, Peter Rühmkorf, Paul Nizon und viele andere.
P. v. M.: Da wären also die zweifelhaftesten Erscheinungen im Literaturbetrieb – Cliquen und Jury-Vernetzungen – zuletzt die förderlichsten und befruchtendsten?
M. R.-R.: Alles, wovon wir hier reden, also die Gruppe 47, Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, die vielen Preise, Stipendien und Stadtschreiberämter, die Bestenliste und dergleichen mehr – das alles kann keine gute Literatur aus dem Boden stampfen. Aber diese Institutionen können dem Autor, zumal dem Anfänger, das Leben erleichtern, sie können ihn ermutigen. Es gibt nicht wenige Autoren, die zwar Talent haben, doch nicht die Kraft und die Energie, um sich durchzusetzen. Sie sind darauf angewiesen, daß sich jemand findet, der sie fördert. Das kann natürlich auch ein Verleger sein, aber die meisten Verleger haben verständlicherweise ein ausschließliches oder doch vor allem finanzielles Interesse an der Literatur. Ferner: Es hat für jüngere Autoren sehr viel bedeutet, daß sie auf Tagungen der Gruppe 47 und bei den Bachmannwettbewerben hören konnten, was längst anerkannte Kritiker und Germanisten von ihren Arbeiten halten.
P. v. M.: Das tönt jetzt so, als ob man der deutschen Literatur eine noch weit blühendere Cliquenwirtschaft wünschen müßte.
M. R.-R.: Man kann sie nicht verhindern. Und ich weiß nicht, ob es klug wäre, sie zu verhindern. Immer haben sich in der Geschichte der Literatur Autoren, die etwas Ähnliches wollten, zusammengetan und haben sich gegenseitig unterstützt. So war’s mit den Romantikern, so war’s mit dem »Tunnel« in den frühen Jahren Fontanes, so war’s mit den Naturalisten, so war’s natürlich mit dem Kreis um Stefan George. Das liegt in der Natur der Sache.
P. v. M.: Und mein früheres Stichwort, den Begriff Filz als Charakterisierung der verschiedenen meinungsbildenden Instanzen, würden Sie gar nicht gelten lassen?
M. R.-R.: Doch, es gibt natürlich diesen Filz, und es gibt Redakteure und andere Organisatoren des literarischen Lebens, die zum Filz beitragen wollen, die sagen, ich bin nicht dazu da, der Literatur zu helfen, es ist nicht meine Sache, für eine objektive oder gerechte Kritik zu sorgen; meine Aufgabe ist es vielmehr, eine interessante Zeitschrift oder Zeitung zu machen, ein attraktives Funk- und Fernsehprogramm. Exemplarisch in dieser Hinsicht war eine Zeitlang der Spiegel. Man hat dort 1964 eine Buchkolumne eingeführt. Man wollte sie nach dem Prinzip machen – das ist nicht etwa von mir erfunden – »Frisch schreibt über Dürrenmatt und Dürrenmatt schreibt über Frisch«. Da sollten nicht etwa Kritiker schreiben, sondern Autoren über Autoren, womöglich solche Autoren, die miteinander befreundet oder verfeindet sind. So sollten sich interessante Kombinationen ergeben. Der Spiegel hat oft solche Rezensionen gedruckt. Die Frage, ob er damit zum Filz beigetragen hat oder nicht, ist, glaube ich, für die Spiegel-Redakteure belanglos gewesen.
P. v. M.: Ist nicht gerade das eine eminente Black-Box im Literaturbetrieb: die Frage, wie die Bücher ausgewählt werden, die der Spiegel bespricht? Es sind ja, aufs Ganze gesehen, nicht sehr viele . . . diejenigen aber, die besprochen werden, stehen gleich im Rampenlicht. Die Besprechungen haben ein sehr großes Echo, aber über die Auswahlkriterien erfährt man nichts. Das muß ja zu Verdächtigungen und Spekulationen führen – die vielleicht als solche auch wieder im Interesse des Mediums sind . . .
M. R.-R.: Die Gründe, die die Redaktion veranlassen, ein bestimmtes Buch groß zu besprechen, ein anderes zu ignorieren, werden den Lesern selten mitgeteilt, in vielen Fällen verstehen sie sich von selbst. War es je in der Geschichte der Literaturkritik und der Presse anders? Ich kann da nur hinsichtlich der F.A.Z. informieren, genauer: über die Verhältnisse im F.A.Z.-Literaturteil seit 1973. Ich glaube sagen zu können, daß wir alles, was irgendwie bemerkenswert ist, rezensieren. Sie werden fragen: Wer entscheidet darüber, was erwähnenswert ist? Natürlich die Literaturredaktion der F.A.Z. Wir sind vier Redakteure und entscheiden gemeinsam, welches Buch besprochen wird und von wem. Irrtümer und Fehlurteile können immer passieren. So konnte es geschehen, daß wir ein Buch nicht besprechen wollten, das eigentlich hätte besprochen werden müssen. Glücklicherweise werden wir sehr genau kontrolliert – von der literarischen Öffentlichkeit. Und wenn ein wichtiges Buch unbesprochen bleibt, bekommen wir das zu spüren. Denn es gibt Proteste – vom Verleger des Buches, von Lesern, häufig von unseren Mitarbeitern, die ein Buch zu rezensieren wünschten, das wir gar nicht eingeplant hatten. So etwas wird dann meist korrigiert. In der F.A.Z., die zwar auch nur einen Bruchteil, aber doch einen beachtlichen Bruchteil der gigantischen Buchproduktion rezensieren kann, ist es schwer möglich, daß ein erwähnenswertes Buch ganz unbemerkt bleibt. Heikler ist diese Frage bei der Zeit oder beim Spiegel, also bei Blättern, die nur einmal wöchentlich erscheinen, oder etwa bei der Stuttgarter Zeitung, die Buchbesprechungen nur alle vierzehn Tage bringt und natürlich nur sehr wenige Titel besprechen kann. Je weniger Bücher rezensiert werden können, desto größer die Gefahr, daß die Auswahl ungerecht wird.