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Wie Traumtheorien das künstlerische Selbstverständnis im 19. Jahrhundert verändert haben

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband dokumentiert die Ergebnisse des DFG-Netzwerks zu „Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie“ (1850 – 1950). Der vorliegende erste Band umfasst den Zeitraum von 1850 bis 1900, der zweite für 2018 angekündigte Band die Zeit von 1900 bis 1950. Das ist in diesem Fall wichtig anzumerken, da nur die Hälfte eines umfassenderen Projekts besprochen werden kann. Es endet zunächst mit dem Erscheinen von Sigmund Freuds Traumdeutung und zwei Traumkonzepten von Sante de Sanctis und Alfred Schuler, die unbeeindruckt von den Leistungen Freuds einen eigenen Weg einschlugen. Die historische Perspektive soll einer gegenwärtig zu beobachtenden Vereinnahmung psychoanalytischer Ansätze durch neurophysiologische entgegenwirken.

Zu den forschungsleitenden Fragen des DFG-Netzwerks gehören diejenigen, ob und wie Traumdiskurse das Verständnis von Subjektivität verändern. Genauso wichtig ist die interdisziplinäre Basis des Projekts, mit der Auswirkungen von Traumtheorien auf Literatur, Kunst und Musik anhand der Veränderungen ihrer Darstellungstechniken zugänglich gemacht werden. Ein weiteres Highlight ist schließlich der internationale Ansatz, der französische, englische, italienische und deutsche Positionen und deren Vernetzung im 19. Jahrhundert darstellt. So liest Sandra Janssen in dem Band Gottfried Kellers Grünen Heinrich erfolgreich mit der französischen Traumtheorie von Alfred Maury.

Streng genommen bildet den Einsatzpunkt des vorliegenden Bandes die Zeit vor 1850, in der die bis dahin dominierenden romantischen Traummodelle an Überzeugungskraft verloren haben und die zunehmend empirisch arbeitende Psychologie den romantischen Höhenflug zurechtstutzte. Die Grenze als Einschnitt gesetzt ist lediglich eine analytische Notwendigkeit. Im Fazit eines der beiden Grundsatz- und Übersichtsbeiträge hält Manfred Engel entsprechend fest, dass der deutschsprachige Traumdiskurs trotz der naturwissenschaftlichen Grundierung offen für naturphilosophische Ansätze geblieben ist. So auch im Grünen Heinrich, der in der Gestaltung und Entwicklung der Träume sogar den Übergang von der romantischen zur empirischen Psychologie anzeigt: Die romantischen Traumansichten verschwinden aus der Darstellung der Träume Heinrichs.

Den zweiten, ebenso wichtigen Grundsatzbeitrag des Bandes liefert Jacqueline Carroy. Sie zeichnet die eher in der Philosophie der Aufklärung wurzelnde französische Traumforschung anhand eines ihrer wichtigsten Repräsentanten, Alfred Maury, und dessen Rezeption nach. In dessen physiologisch konzipierter Psychologie ist der Traum ein Automatismus. Die Ideenassoziationen darin zeigen lediglich eine Schwundstufe des integren Subjekts. Maury erkennt aber auch, dass Erinnerungen in Träume einfließen, betrachtet diese aber lediglich als spontane Reaktion des Gehirns.

Die Entwicklung der Traumtheorien im 19. Jahrhundert ist tief in die Umstellung von Inklusions- auf Exklusionssemantiken eingebettet. In dem Maße, in dem die Aufklärung übernatürliche Trauminhalte infrage stellt, gewinnen deren Inhalte psychologisches Profil. Entsprechend untersuchen die meisten Beiträge im Band die Auswirkungen der Traumkonzepte auf Subjektivitätspostulate. Barbara Chitussi beschäftigt sich mit Joseph Delbœfs Studien zur Frage, was es heißt, wenn ein Träumer ein Bewusstsein davon hat, dass er träumt und das Ich sich dadurch verdoppelt, wobei Delbœfs davon ausgeht, dass das Ich lediglich in einen Dialog mit sich tritt und seine Ganzheit dadurch nicht infrage gestellt wird.

Den Träumenden als Zuschauer untersucht Mireille Berton, indem sie die Entwicklung des Kinodispositivs von Verständnis des Traums als Automatismus, als maschinenartigen Automaten liest. Die Traumtheorien erscheinen durchdrungen vom Modell der Projektion animierter Bilder. Die unklare Lokalisation der Bilder zwischen Wahn und Wirklichkeit zwingt die Wissenschaftler geradezu zur Beachtung von Zwischenzuständen. Modellhaft werden „gespaltene Gewissheiten“ gedacht oder „schwankende Identitäten“, wie sie später (paradoxerweise aus empirischen Ansätzen folgend) in der Literatur um 1900 zum state of art jedes modernen ästhetischen Bewusstseins gehören.

Die anderen, nicht weniger ertragreichen Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit okkulten Ansätzen, in denen der Traum Erkenntnisse über eine metaphysische Welt ermöglichen soll (Alessandra Violi) oder dieses Jenseits zur diesseitigen anthropologischen Voraussetzung des Menschen in der „Wirklichkeit der Bilder“ macht (Paul Bishop über Ludwig Klages), mit Halbschlafbildern (Kerstin Thomas) oder der Frage nach der Traumautorschaft (Michaela Schrage-Früh), einem Beitrag, in dem zugleich ein Abriss über englische Traumtheorien gegeben wird. Susanne Goumegou und Fanny Déchant-Platz zeigen die Bedeutung der Traumkonzepte für Aloysius Bertrand, Charles Baudelaire und Joris-Karl Huysmans. Den Traum und seine Bedeutung in der Kunst und der Musik untersuchen Sara Damiani beziehungsweise Hans-Walter Schmidt-Hannisa. Die schon erwähnte gänzliche Empirisierung des Traums beim italienischen Forscher Sante de Sanctis beschreibt Marie Guthmüller. Mai Wegeners Beitrag über Traumbericht und Traumsubjekt bei Freud stellt schließlich die Verbindung zum zweiten, noch ausstehenden Band her, indem sie die Darstellungstheorie und die Subjekttheorie Freuds aufeinander bezieht und feststellt, dass das Subjekt bei ihm „im Dunkeln bleibt und das Unbekannte berührt“.

Die Ansätze vor Freud, die dem Traum mehr oder minder mit physiologischen Erklärungen Herr zu werden versuchen, enthalten in der Regel Überlegungen dazu, welcher Ordnung Assoziationen folgen. Von einer eher mechanischen Erklärung über eine emotional-assoziative bis hin zur Annahme von wirkenden Urinstinkten sind die Möglichkeiten der Erklärungen recht groß. Für Literaten, Künstler und Musik schließt sich daran die Frage nach dem Status solcher inneren Bilder und ihrer Erzähl- beziehungsweise Darstellbarkeit an. Sind sie kohärent medialisierbar oder werden sie im Wechsel unzusammenhängend? Lassen sie sich künstlerisch-produktiv nutzen oder sind sie die Quelle der Inspiration? Entsprechend der angenommenen inneren Bildlogik fallen auch die Antworten aus. Verwendbar werden Nacht- und Tagträume für Ästhetiken des Interessanten, des Vagen oder des Unsagbaren, sofern sie antimimentische Impulse aufnehmen oder enthalten.

Das nächtliche Selbst ist ein ausgesprochen spannendes Buch. Es zeigt in europäischer Perspektive die Vielfalt wissenschaftlicher Einsichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, die sich teilweise auch in Konkurrenz zueinander lesen lassen, und arbeitet exemplarisch deren Rezeption in Literatur, Kunst und Musik heraus. Einige kritische Anmerkungen seien gleichwohl erlaubt. In der Einleitung sind vereinzelt Sprachinseln aus der Antragsrhetorik stehen geblieben. Nach dem Ende des Endes der Geschichte anzuführen, man würde sich einem Thema zum ersten Mal annehmen, kann nicht qualitativ gemeint sein, sondern allenfalls quantitativ, begründet durch die Vielzahl der (allesamt überzeugenden) Projekte. Auch die Ausrufung des neuen Forschungsfeldes Dream Studies wirkt ein wenig wie ein müder Slogan für althergebrachte Spritzigkeit. Die Überlegungen werden überall dort besonders interessant, wo sie sich dieser Rhetorik entledigen ­ und das geschieht sehr häufig.

Gelegentlich wünscht man den Autoren mehr Entschiedenheit bei der Übernahme empirischer Terminologie. Dass die zeitgenössische neurophysiologische Traum- und Schlafforschung „permanent [mit] Kurven und anderen bildgebenden Verfahren“ arbeitet, wie die Herausgeberin und der Herausgeber schreiben, liegt an dem empirischen Ansatz. Statt „permanent“ ließe sich weniger rhetorisch formulieren, dass diese Wert auf die Wiederholbarkeit von Messergebnissen legen, und ob eine Kurve schon ein bildgebendes Verfahren ist, sei dahingestellt. Wenn die Herausgeber das Verhältnis von „Literature and Science“ stark machen wollen, hilft es dem „und“ dazwischen nicht, es lediglich historisch zu verstehen. Viel wichtiger erscheint, dass Naturwissenschaftler den Blick über Ihre Grenzen hinaus geweitet haben. Die psychologische und medizinische Forschung analysiert heute Träume, indem sie unter anderem danach fragt, wie bizarr diese sind. Zwar gibt es kein einheitliches Verständnis des Bizarren, doch wird damit erfasst, inwieweit im Traum von der Realität (dem naiven Weltwissen des Träumenden) abgewichen wird. Dabei ist nicht der Traum bizarr, sondern dessen Verständnis benennt bizarre Elemente. Der Mensch markiert damit selbst eine Differenz zwischen Wachbewusstsein und Traum. So gesehen, gibt es auch von naturwissenschaftlicher Seite Brücken zur Geschichtlichkeit des Menschen. 

Neben solchen eher marginalen Kritikpunkten gibt es einen, der zumindest für Literaturwissenschaftler eine schmerzliche Lücke anzeigt. Schon im 19. Jahrhundert stellt gerade die fantastische Literatur ein Phänomen mit hohem Anspruch auf Internationalität dar. Sie wird in den Beiträgen des Bandes jedoch nur am Rande erwähnt. Nach Lachmann haben die anthropologischen Aussagen fantastischer Literatur die Tendenz zur „Meta-“ oder „Anti-Anthropologie“, das heißt sie machen auch Aussagen über die Schattenseiten des träumenden Menschen, denn der Traum steht hier nicht nur für das Verdrängte, sondern auch für das Ausgeschlossene, Fremde oder Andere ein. Konstitutiv ist jedenfalls die Entgrenzung diskursiver Ordnungen, verbunden mit der Infragestellung eines integren Subjekts. Dieses „Surplus“ droht die Integrität des Subjekts in der fantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu verschlingen, und es wäre eines eigenen Beitrags Wert. Vielleicht enthält der zweite Band mehr und Genaueres dazu. Nicht nur deswegen darf man auf die Fortsetzung gespannt sein.

Titelbild

Marie Guthmüller / Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das nächtliche Selbst. Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie. 1850-1900.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
397 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319035

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