Mir san mir oder Bayerns Herzog ist der Beste?
Uta Goerlitz lässt die Dichtung „De Henrico“ in neuem Licht erscheinen
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBisweilen führt ein Blick in die Vergangenheit dazu, Dinge unserer Zeit vielleicht nicht unbedingt besser verstehen zu können, aber zumindest zu erkennen, dass es früher auch schon so war. In vorliegendem Falle ist es die frühmittelalterliche Eulogie ‚De Henrico‘, die Uta Goerlitz in einen über die reine germanistische Mediävsitik hinausweisenden Kontext zu stellen sucht. In der knappen Dichtung werden die Vorzüge des oder besser eines bayerischen Herzogs Heinrich dargestellt; das Ganze nimmt sich – zumindest auf den ersten Blick – wie eine um zwei Jahrhunderte nachgeschobene Rehabilitation Herzog Tassilos aus, der unter Karl dem Großen abgesetzt worden war und sein Leben aller Würden beraubt im Kloster fristen musste. Während dieser jedoch die dunkle Seite des Besonderen repräsentiert, ist jener eine strahlende Erscheinung, die eigentlich mit Leichtigkeit sogar den ‚guten Kaiser Otto‘ in den Schatten stellen könnte.
Womöglich war man bereits im 10. und 11. Jahrhundert der grundsoliden Überzeugung, dass am bayerischen Wesen vielleicht nicht die Welt, zumindest aber alle anderen Stämme der ‚Regnum Teutonicum‘ genesen könnten. Dies gilt wohl auch dann, wenn gar kein Bezug zu einer realen Person der Geschichte existiert und der im Gedicht bewunderte Herzog einfach der Idealtypus bairischer Weisheit sein könnte, wie die Autorin zu bedenken gibt, die sich im Übrigen eher gegen eine zumindest überzogen anmaßende Apotheose des Heinrich der Dichtung ausspricht.
Eventuell aber ist es doch ein Aspekt selbstsicherer Gewissheit, anhand dessen Goerlitz ‚quasi-liturgische Bezüge‘ des Liedes festmacht und damit nach eigener Aussage bislang Übersehenes in den Fokus rückt. Dabei weist die Verfasserin auf Besonderheiten des kurzen lateinisch-althochdeutschen Lobgedichtes hin, ohne dass sie damit den Anspruch verbindet, zuvor nicht Dagewesenes festzustellen, auch wenn – zumindest anfänglich – der Begriff des ‚Rätselhaften‘ ein wenig übernutzt erscheint, denn nach einigen ‚Rätseln‘ geht es wie folgt weiter: „rätselhaft ist […] auch der literaturhistorische Kontext, in dem das Lied entstand, denn das Jahrhundert der ottonischen Kaiser ist bekanntlich eine Zeit, in der die vorangegangenen, vielversprechenden Anfänge der deutschen Literatur zugunsten des Lateinischen weitgehend versiegen“.
Uta Goerlitz nimmt anhand dieser ‚rätselhaften‘ Kurzdichtung die Symbiose zweier, wie sie schreibt, unterschiedlicher Zugriffsweisen auf ‚De Henrico‘ vor: die traditionelle philologisch-historische und die transdisziplinär ausgreifende kulturwissenschaftliche Perspektive. Damit verbindet sie auch das Aufgeben des Versuchs, Kaiser Otto und insbesondere den im Gedicht genannten bairischen herzog Heinrich mit realen Gestalten der Geschichte zu identifizieren; ‚De Henrico‘ funktioniert somit auch ohne konkreten historischen Detailbezug.
Dies ist allerdings bereits ein Einzelaspekt, der sich dem geschickten Aufbau der vorliegenden Untersuchung entnehmen lässt, beziehungsweise den Goerlitz in der Auseinandersetzung der verschiedenen Ansätze entwickelt und aus vorhandenen Aussagen herausdestilliert. Knapp gehalten, aber vielleicht gerade deshalb so gut nachvollziehbar, ist der Aufbau des Buches auch vom Umfang her dem althochdeutschen Text angepasst.
Im Vierschritt, bestehend aus den einzelnen Abschnitten ‚Ausgangspunkte‘, ‚Forschungsprobleme‘, ‚Neuansatz‘ sowie ‚Schlussfolgerungen‘ wird die Dichtung zunächst im Wortlaut der von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann besorgten Ausgabe aus dem Jahr 1991 wiedergegeben und dann die jeweiligen Einzelaspekte dargestellt und diskutiert, bis Goerlitz eben die entsprechenden Folgerungen aus den Arbeitsschritte zieht.
Hierzu gehört neben einer, gegenüber der Ausgabe von 1991, anders angesetzten Interpunktion, die zumindest Bedeutungsnuancen verschieben kann, nicht zuletzt aber auch die Hervorhebung der einleitenden Invocatio Christi, die den Aspekt einer Memorialdichtung unterstreichen mag. Daneben hebt die Autorin auf komplexe binnenpolitische Herrschaftskonstellationen ab, die die eigentliche Botschaft des kurzen Texts sein könnten. Zur Frage einer eventuell musikalisch begleiteten Aufführungspraxis stellt Goerlitz ebenfalls Vermutungen an, die sich jedoch angesichts nicht vorhandener Belege für oder gegen entsprechende Gepflogenheiten im Spekulativen verlieren.
Bemerkenswert ist die Zweisprachigkeit des Gedichts, in der mit Uta Goerlitz auch die Funktion zu sehen sein dürfte, neben dem Blick auf den Baiernherzog die Dynastie der Ottonen durch die Prominenz des Otto-Namens erinnernd zu rühmen und „implizit auch deren aktuellen Vertreter zu preisen und andererseits zugleich den ‚dux‘ und ‚kaisar‘ exemplarisch vorzuführen“.
Um diesen Ansatz zu unterstreichen liefert die Autorin auch noch eine eigene Version des Gedichts, in der die angesprochenen Neuansätze deutlicher erkennbar scheinen, als das in älteren Varianten der Fall ist.
„Erinnern und Erzählen“ ist zugegebenermaßen ein schmales Buch, aber die ‚Lobpreisung‘ des Baiernherzogs Heinrich ist schließlich selbst nicht besonders umfangreich. Es erscheint mir dennoch nicht unproblematisch, sich nur auf dieses Büchlein zu stützen, aber es steht auch zu vermuten, dass die Verfasserin derlei nicht im Sinn hat(te). Eine recht umfassende Bibliographie, die neben den altüberkommenen Verweisen auf Primärquellen und Sekundärliteratur auch die Finde- und Zugangsmöglichkeiten in und zu Datenbanken beinhaltet, ist sowohl für einen Rückblick als auch für das weitergehende Vertiefen des Themas bestens geeignet. Ein Registerteil, der neben Verfassernamen und Werktiteln auch auf die mediävistische Forschung verweist, ist in entsprechender Weise ein weiteres nützliches Instrument. Der Anspruch an bibliophile Ästhetik wird durch drei Farbtafeln erfüllt, die neben dem Beginn des Gedichts auch mit Abbildungen aus dem Liuthar-Evangeliar und dem Sakramentar Heinrichs II. Zeit und Dichtung in anregender Weise zu beleben helfen.Zum Einstieg, aber auch zum Fortschreiten sei es daher wärmstens empfohlen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg