Lockende Leyla mit Vaterkomplex

Peter Schneider stellt den „Club der Unentwegten“ vor

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland geht der Trend zur Altenliebe. In Fernseh-Filmen und Serien ist sie omnipräsent. In der Pop-Musik nuschelt Udo Lindenberg „Der Greis ist heiß“ ins Mikrofon (CD Stark wie Zwei). Und in der Literatur erzählt der 90-jährige Martin Walser ein Liebesabenteuer nach dem anderen und lässt nicht nur den greisen Dichterfürsten Johann Wolfgang Goethe morgens mit einer Erektion aufwachen. Für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ist Walser der „Chronist der deutschen Seele“. Man muss daher wohl davon ausgehen, dass die deutsche Seele heutzutage im Alter ihre Flügel ausspannt, um Erfüllung im Sex zu suchen.

Viele Schriftsteller unterliegen offenbar nicht nur einem Alterungs-, sondern auch einem Entwicklungsprozess, dem sie sich nicht entziehen können. Er scheint sie zu zwingen, im hohen Alter ihre sexuellen Fantasien in erotischen Liebesromanen festzuhalten. Das wäre nicht weiter schlimm, kämen dabei unterhaltsame, anregende, aufregende, witzige und abwechslungsreiche Texte heraus. Aber was wird den Lesern angeboten? Beispielsweise der Roman Club der Unentwegten, weil der 77 Jahre alte Berliner Schriftsteller Peter Schneider auch seinen Beitrag zur amourösen Literatur liefern möchte.

Im Mittelpunkt des Handlungsgeschehens stehen Roland und Leyla. Roland ist ein ins Alter gekommener Privatgelehrter, der eine Lehrverpflichtung in Berlin und ein Forschungsstipendium in New York hat. Bei Leyla handelt es sich um „a striking beauty from Iran, aufgewachsen in New York“, deren Haare schwarz wie ihre Augen sind, „sengend schwarz“. Bei einer Trauerzeremonie zur Erinnerung an den verstorbenen Freund Paul, die zu einer „beschwingten Gedenkveranstaltung“ wird, lernen sich die beiden kennen. Wie ein Dutzend anderer Personen darf Roland zwei Minuten aus dem Werk des Verstorbenen lesen, und dabei verfängt sich „sein Blick in dem Blick einer dunkelhaarigen Schönheit“. Als dann auch noch „bei einer von Pauls messerscharfen Spitzen, die Roland offenbar gut inszeniert hatte“, die attraktive Frau ungeniert auflacht, hat sie die Neugier des Redners geweckt. Wie geht es nun weiter? Jeder, der nur ein paar Liebes-Schmonzetten gelesen hat, wird es erahnen: Als Roland seinen Beitrag beendet und „das Pult für den nächsten Redner“ freigemacht hat, sucht er sofort nach der unbekannten Schönheit, aber „sie war verschwunden“. Klar doch, dass sie am Abend in einer russischen Bar wieder auftaucht und im Nu eine heiße Affäre beginnt. Denn als Leyla die Bar verlässt, folgt ihr Roland, steigt zu ihr ins Taxi und hat auch mit seiner plumpen Anmache – er legt seine Hand „auf ihren Oberschenkel“ – sofort Erfolg.

Neidisch registriert der Leser, wie rasch Liebesbegehren älterer Männer in Erfüllung gehen können. Und das bei einer rassigen Schönheit, über die Roland noch kurz zuvor erfahren hatte, dass sie „unerreichbar“ sei, „weil sie einer alten Liebe nachtrauere.“ Aber Roland hat Glück und wird erhört. In Leylas Appartement angekommen, das natürlich „im teuersten Viertel von Manhattan“ liegt, geht es los: „Als wäre es ein und dieselbe Melodie, ging ihr Lachen in ein Seufzen, in ein Stöhnen und schließlich in Jubel über.“

Roland, der noch unmittelbar vor Beginn des Liebesabenteuers glaubte, dass so etwas für ihn längst vorbei sei und er nicht mehr auf „eine unerhörte Begegnung mit dem anderen Geschlecht“ zu hoffen brauche, hatte offenbar nichts verlernt. Und auch Leyla demonstrierte ihre Fähigkeiten: Sie sprach

 zu dem Analphabeten unter seinem Nabel, der sich schon lange nicht mehr geäußert hatte und nur über ein erbärmlich begrenztes Bewegungsritual verfügte: sich aufrichten, drängen, eindringen und/oder schrumpfen und sich verkriechen. Sie nahm ihn in die Hand, sprach und schimpfte mit ihm wie mit einem Kind, liebkoste ihn, richtete ihn zur vollen Höhe auf, um ihn gleich wieder fallen zu lassen.

An solchen Ausführungen ergötzt sich der voyeuristische Leser und sinkt erfreut und ermattet in seinen Lehnstuhl zurück, wenn Leyla den Senior „zu einer Eruption“ gebracht hat, „die ihn an den Ursprung aller Dinge zurückbeförderte.“

Es bleibt nicht bei dieser einen Szene, es kommen weitere hinzu. Schade, dass der Großkritiker Marcel Reich-Ranicki, der bekanntlich ein Freund der erotischen Literatur war, solche Sternstunden nicht mehr erleben durfte. Ihm hätte sicherlich auch gefallen, dass einmal mehr die heiße Liebe jeglichen Altersunterschied verwischt. Denn Leyla ist nach Rolands Einschätzung mindestens 30 Jahre jünger als er, wohl um die 40 Jahre alt, sie könnte also durchaus seine Tochter sein. Als Leyla später Rolands Geburtsjahr kennt, gesteht sie ihm, dass ihre Mutter ein paar Jahre jünger ist als er. Schneider präsentiert also die abgedroschene Story, die vor allem den Großvätern gefällt: Eine Liebesaffäre zwischen einem alten Mann und einer Frau mit Vaterkomplex. Und wenn man schon ein derartig abgegriffenes Klischee aufgreift, dann kann man ohne Scheu auch weitere einsetzen, wird sich Peter Schneider wohl gedacht haben. So führt er seiner Leserschaft eine Welt vor Augen, für die er selbst als junger Schriftsteller nur hämischen Spott und beißende Kritik übrig gehabt hätte.

Ab und zu ist von Leonardo da Vincis Mona Lisa-Bild die Rede. Unter der Verwendung der im Jahr 2011 erschienenen Publikation Der Mona Lisa Schwindel von Deborah Dixon lässt Schneider Roland behaupten, dass „die im Louvre aufgehängte Version der Mona Lisa eine Fälschung aus dem frühen 20. Jahrhundert“ sei. Was dieses Motiv mit der Handlung zu tun haben soll, erschließt sich nicht. Vielleicht hat sich Schneider von Bernhard Schlinks Roman Die Frau auf der Treppe dazu anregen lassen? In diesem fertigt der Maler Karl Schwind ein Bild von Irene auf der Treppe an, das die Leser an Gerhard Richters Bild Ema. Akt auf einer Treppe erinnert. Während jedoch bei Schlink dieses Bild zu einem integralen Teil der Handlung wird, wird bei Schneider die These von der Mona-Lisa-Bildfälschung lediglich erwähnt: Roland soll sie in einem „höchst umstrittenen Artikel“ im New Yorker verbreitet haben, weshalb man ihn in den USA als „crazy German Professor“ bezeichnet.

Alle Akteure des Clubs der Unentwegten gehören der Schickeria an. Es handelt sich zum Beispiel um einen „mit vielen Preisen geadelten“ Star-Architekten mit Bau-Projekten in der ganzen Welt, dessen Problem es ist, dass er von seiner Geliebten „nur als Liebhaber, nicht als Architekt“ anerkannt und damit „nur im Bett ernst genommen wird“; um einen Zahnarzt, der sich eine Villa auf Sardinien gekauft hat und sich darüber ärgert, dass „einige seiner Patienten und Kollegen sich dort ebenfalls Häuser gekauft“ haben und der, obwohl er verheiratet ist, einer attraktiven Schönheit spontan einen Heiratsantrag macht, mit der er vorher „nie ein Wort gewechselt“ hat; um einen Rechtsanwalt aus Rom, der eine junge Frau mit Vaterkomplex in Syrien heiratet und sich mit bald 80 Jahren wieder scheiden lässt und dadurch wieder zu seiner Frau zurückfindet und um einen Professor für Nanophysik, der Opfer „einer akademischen Frauengang“ wird, „die sich dazu verabredet hat, ihre Männer zu betrügen.“ Dieser Freundeskreis hat sich darauf verständigt, sich mit „striktem Wahrheitsanspruch“ über seine Liebesabenteuer und Liebeskatastrophen „in einem gewissen Alter“ auszutauschen, wobei es Pflicht ist, die Erlebnisse zu Ende zu erzählen.

Auch Rolands New Yorker Freunde gehen alle Berufen nach, die ihnen viel Zeit für ihre Hobbys lassen. Alle Akteure taumeln von einer Party zur nächsten und nehmen an erlesenen Versammlungen prominenter Persönlichkeiten teil. Die Plätze, wo diese stattfinden, sind natürlich die exklusivsten: ein Schloss in Berlin, eine Dachterrasse in New York, die „wie eine Talstation einen Ausblick auf die beschneiten Gipfel der Alpen gewährte.“ Dort darf Roland auf einer Europa-Konferenz des amerikanischen PEN einen Vortrag vor einem erlesenen Publikum halten. Bei seinen Aufenthalten in New York wohnt er in einem Appartement in unmittelbarer Nähe zum Washington Square mit einem Wohnzimmer, das eher einem Saal gleicht und einen grandiosen Ausblick gewährt: „Aus einer wohl acht Meter breiten Fensterfront blickte er auf einen gepflegten Platz mit mehreren Cafés, auf einen Bio-Supermarkt und ein paar luxuriöse Wohntürme gegenüber.“ Direkt unter ihm lagen sechs Tennisplätze, „deren gemalte weiße Linien aufreizend in der Sonne schimmerten“ und „die es mit den Anlagen der US-Open hätten aufnehmen können.“ Da er von seinen früheren Aufenthalten in New York noch einen Tennisausweis besitzt, kann er „auf allen öffentlichen Anlagen im Central Park und in anderen Grünanlagen“ spielen. Seine reichen Freunde merken sofort, dass er eine neue Liebschaft hat, denn sein Schlag hat sich enorm verbessert.

Roland und Leyla erzählen sich auch gegenseitig, welche Liebeserfahrungen sie gesammelt haben. Leyla versteckt sich hinter der von ihr erfundenen Schwester Nasrin, von der sie behauptet, dass sie sich stets in den falschen Mann verliebe, zum Beispiel in einen „Finanzguru von der Wallstreet“, der sie „nicht nur auf Händen, sondern auf diamantbesetzten Kissen in seinen Hubschrauber getragen“ hat, mit dem sie nach Long Island flogen zu einem „jener Ferienhäuser, die man für vierzigtausend Dollar im Monat mieten kann“, um mit anderen Milliardären Partys zu feiern und mit John McEnroe Tennis zu spielen. Aber Nasrin „fand heraus, dass er noch ein halbes Dutzend andere Geliebte“ und ihr „schon beim ersten Beischlaf einen Tripper“ verpasst hatte. Leyla berichtet auch „von einem Missgeschick mit einem ihrer abgelegten Lover“: „Nach einem besonders gelungenen und zärtlichen Beischlaf habe sie ihm dummerweise gesagt, er könne jetzt alles mit ihr machen, was er wolle“. Die Folge sei gewesen, dass er „sie auf den Bauch gedreht und sein gewaltiges Gerät in ihren bis dahin unberührten Anus gestoßen“ habe. Als Roland und Leyla eine „großartige Woche“ mit „sandigen Berührungen“ in Italien verbringen und auch Pompeji besichtigen, offenbart sie ihr Trauma: Bei dem 9/11-Terror-Anschlag war sie für ihren damaligen Liebhaber der Schutzengel, der ihm das Leben rettete, ihn dadurch aber auch für immer verlor. Denn eigentlich habe ihr verheirateter Lover „am Morgen des 11. September einen Termin in einem der beiden Türme gehabt.“ Stattdessen sei er in ihrem Bett gewesen und habe erst durch den Anruf seiner Frau von dem Anschlag erfahren. Die Folge war, dass er „zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgegangen“ ist und „sich nie mehr gemeldet“ hat.

Rolands erste Liebe hieß Madeleine und hatte ein apfelgroßes Muttermal auf der linken Pobacke, das ihn irritierte. Er heiratet die Cellistin Simone, die zwar einen perfekten Körper hat, in dem sich aber „nichts regt“. Weil sie keinen Orgasmus bekommen kann, betrügt Roland sie mit ihrer Kollegin Klara. Aber obwohl er von gellenden Lustschreien berichten kann, die Klara bereits beim Vorspiel von sich gab, schläft Leyla ein und der Rezensent hofft inständig, dass dieses Missgeschick nicht auch dem Leser passiert.

Dafür ist Leyla nach Rolands Geburtstagsparty hellwach: Sie zieht ihn in das nachbarliche Appartement, dessen Tür bloß angelehnt war, und legt los: „Sie hob ihr Kleid, zog den Slip in die Kniekehlen und zeigte ihm unter dem hochgerafften Seidenkleid ihren Po, der im Spiel der Lichter aufglänzte und wieder dunkel wurde.“ Der erfahrene Leser weiß, wie es weitergeht. Er ergötzt sich und freut sich auch darüber, dass Peter Schneider in der höheren Gesellschaft angekommen ist, gegen die er früher so flott und heftig gelästert hat. Aber diese Zeit, in der er die Arbeiterschaft mobilisieren wollte, liegt nun ja bald ein halbes Jahrhundert zurück. Damals attackierte er noch heftig den „Zynismus des akademischen Mobs aus dem Haus Springer“ und die „promovierten Schreibtischtäter“, deren Ziel es war, „die Klassengegensätze zu verschleiern“. Rückblickend – vielleicht sogar voraussehend? – hat er in einer Rede bekannt: „Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen. […] Wir haben uns sagen lassen, wir müßten erst mal mit uns selber fertig werden. Wir sind mit uns selber fertig geworden.“ Es fehlt der Satz: Wir wurden aufgefordert, uns anzupassen, und wir haben uns angepasst. Den von ihm 1968 in seiner Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller formulierten Auftrag hat Schneider aus den Augen verloren:

Wenn der totalen Entfaltung der Produktivkräfte die völlige Verstümmelung der Wünsche im Spätkapitalismus entspricht, dann muß die Kunst die völlige Mobilisierung der Wünsche gegen die Wirklichkeit sein. Dazu gehört aber beides: daß sie die Wünsche darstellt und daß sie den Kapitalismus darstellt, daß sie die konkreten Bilder der Wirklichkeit gegen die konkreten Bilder der Möglichkeiten hält, die darin  stecken und ersticken.

Oder hat Schneider ihn vielleicht doch erfüllt, allerdings ganz im Sinn der „herrschenden Klasse in Deutschland“, der er noch im Jahr 1968 ebenfalls einen kritischen Brief geschrieben hat? Offenbar wollte er mit seinem Sex-Roman veranschaulichen, dass „ein Greis, der sich verliebt, fast der gleichen Euphorien und Torheiten fähig (ist) wie ein Dreißigjähriger“. Sein Protagonist Roland erinnert sich an Casanovas Satz: „Die Liebe ist eine Krankheit, die unheilbar ist, wenn sie einen im Alter ereilt.“

„So reflektiert wie kaum ein 68er sonst“ habe sich Schneider, „ein feiner Kerl“ mit „hedonistischem Drang zum Weibe“, „mit seiner Rolle in den Studentenprotesten auseinandergesetzt – und gleichzeitig wunderbare Bücher geschrieben“, konstatiert Reinhard Mohr am 21.4.2010 bei „Spiegel online“. Bleibt zu hoffen, dass es Kritiker geben wird, die der Auffassung sind, Schneider habe mit dem Club der Unentwegten seinen Publikationen ein weiteres „wunderbares Buch“ hinzugefügt. Vielleicht fragt sich der ältere männliche Leser aber auch, weshalb ihm in seinem Leben nie eine lockende Leyla über den Weg gelaufen ist. Wenn er sich diesen Wunsch vor seinem Lebensende noch erfüllen möchte, gibt es wohl nur eine Möglichkeit: Er muss in die High Society aufsteigen und ihre Gesellschaften besuchen. Dort sollte er auf ein ansteckendes Lachen achten. Also: Die Träger von Hörgeräten müssen diese gut einstellen!

Titelbild

Peter Schneider: Club der Unentwegten. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
285 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050189

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