Mit der Yakuza in den Peripherien des „Atomdorfs“

Der japanische Undercover-Reporter Tomohiko Suzuki gelangt in „Inside Fukushima“ nicht wie geplant zum „Kern“

Von Andreas SinglerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Singler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die sind für die Ewigkeit geschrieben, und dann gibt es solche, denen nach kurzer Blüte nicht mehr anzusehen ist, warum sie einst so gerühmt wurden. Als im Sommer 2011 kaum jemand wusste, wie es auf dem Gelände des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi (Nummer 1) aussah, war das Interesse an Berichten aus und um Fukushima Daiichi naturgemäß riesengroß. Das ist es bis heute. Umso mehr schrie die Situation damals förmlich nach Insiderbeobachtungen, nach Undercover-Reportagen, nach Enthüllungs-Geschichten, wie wir sie hierzulande von Günter Wallraff kennen. Naheliegenderweise schrieb Wallraff ein Vorwort für die deutsche Ausgabe von Tomohiko Suzukis Reportage-Buch Inside Fukushima. Eine Reportage aus dem Inneren der Katastrophe. Suzuki war der Mann, der als verdeckt recherchierender Journalist zuerst Ergebnisse lieferte und sie nach einer bereits vorab veröffentlichten Reportage in einer Zeitschrift im Dezember 2011 als Buch publizierte. Es wurde – auf YouTube zu sehen – im Foreign Correspondentsʼ Club of Japan auch den ausländischen Medien vorgestellt. Der japanische Originaltitel lautet übersetzt: „Die Yakuza und die Atomkraft. Bericht einer verdeckten Recherche in Fukushima Daiichi“ (Yakuza to genpatsu. Fukushima Daiichi sennyûki). Erschienen ist es im Verlag Bungei Shunjû.

Der Hinweis auf die nur zu plausiblen Beziehungen der häufig im Baugewerbe anzutreffenden Yakuza zur Atomkraftindustrie verlieh dem ohnehin schon an Dramatik nicht mehr zu überbietenden Stoff zusätzlich etwas vom zweifelhaften Glanz einer japanischen Räuberpistole. Dazu muss man wissen: Autor Suzuki, Jahrgang 1966, ist kein Journalist mit irgendwie gearteten Vorerfahrungen zum Thema Atomkraft, er ist Yakuza-Experte, war unter anderem Chefredakteur des Yakuza-Magazins „Zeit für Tatsachenberichte BULL“ („Jitsuwa jidai BULL“). Zur Zeit der Veröffentlichung des Buchs vermochte Tomohiko Suzuki durchaus noch, die ein oder andere Wissens- und Bewusstseinslücke zu schließen. Andererseits: Dafür, dass er zwei Monate lang versteckte Minikameras und Aufnahmegeräte praktisch nonstop mitlaufen lief, erfuhr man erstaunlich wenig. Jeder Blick in die Blackbox Fukushima war jedoch in der ersten Zeit willkommen und hilfreich. Das Buch hatte also seine Zeit. Nun aber, da die deutsche Übersetzung vorliegt, ist das, was damals vielleicht noch neu war, eher bekannt als damals. Und die zeichnerischen Berichte des nach Suzuki ebenfalls undercover in Fukushima Daiichi tätigen Manga-Künstlers Kazuto Tatsuta, dessen Arbeit zwischen 2016 und 2017 in drei Bänden unter dem Titel Reaktor 1F auf Deutsch (Carlsen Manga, Hamburg) erschienen sind, veranschaulichen mittlerweile weitaus lebendiger, wie man sich die Situation im Reaktor aus Sicht der Arbeiter vorstellen kann. Nun treten die Schwächen von Suzukis Buch, die damals schon da, aber zu diesem Zeitpunkt noch eher zu tolerieren waren, stärker hervor. Unterstrichen werden sie in der deutschen Übersetzung zusätzlich durch Erwartungshaltungen, die der Titel Inside Fukushima weckt und dann nicht ausreichend befriedigen kann. Enttäuschungen sind also vorprogrammiert. Seite um Seite wartet nämlich der Leser mit zunehmender Ungeduld, wann es nun endlich ins Innere des Atomkraftwerkes, der Katastrophe geht. Auf Seite 55 – am Tag, als das Verbot des Betretens der Sperrzone in Kraft tritt (22. April 2011) – erreicht Suzuki immerhin schon einmal kurz das Haupttor von Fukushima Daiichi. Und dann dauert es fast noch einmal 100 weitere Seiten, bis es Juli wird und er es endlich geschafft hat, dort hinein zu kommen. Und sehr viel länger ist das Buch dann nicht mehr.

Auf dem langen Marsch ins gelobte Land des Undercover-Journalismus kämpft sich der Leser durch allerhand Klatsch und Tratsch. Herr Suzuki hat das Schlafapnoe-Syndrom. Er raucht wie ein Schlot, bräuchte mehr Bewegung, bekommt sie dann später, viel später, im Atomkraftwerk, wird dabei fitter denn je. Wenn er sich „Zeit für ein Interview“ nimmt, dann bahnt er das so an: „Einen ganzen Tag lang betranken wir uns, machten eine Sauftour durch die Rotlichtviertel und quatschten nur Unsinn, ohne das AKW auch nur zu erwähnen.“ An anderer Stelle gibt er zu, es mit den ethischen Prinzipien des Journalistenberufs nicht immer so genau zu nehmen, „etliche Male“ schon habe er früher vertrauliche Absprachen nicht eingehalten. Sein Problem: Wenn Tomohiko Suzuki seine Story über die von der Yakuza infiltrierte Welt der Atome verkaufen will, so muss er notgedrungen selbst Atomarbeiter werden. Der Zynismus des Mediengeschäfts will es so: „Wenn es mir nicht gelänge, wenigstens einen Tag das Gelände des Reaktors 1F zu betreten, würde der Riesenknüller, den ich schon angekündigt hatte, einfach verpuffen und ich hätte mich total lächerlich gemacht.“

Und dann, einmal drin im Inneren der modernen diesseitigen Hölle, berichtet Suzuki Erstaunliches aus einer Ecke, aus der man das so gar nicht erwartet hätte. Seine Ausführungen taugen nämlich keineswegs so klar, wie das manche seiner Rezipienten herausstreichen, für eine Pauschalanklage gegen den Betreiber TEPCO oder die mit ihm assoziierten Firmen wie den Kraftwerks-Bauer Tôshiba, für den Suzuki indirekt, über einen Subsubsub-Unternehmer als Hilfsarbeiter beschäftigt ist. Was können bitteschön die dafür, wenn Arbeiter verbotenerweise auf dem hochradioaktiv belasteten Gelände ihre Masken abziehen und Zigaretten rauchen? Wenn sie die laut Suzuki durchaus theoretisch strengen Vorschriften missachten? Wenn sie das Kontrollsystem überlisten, um länger im Atomkraftwerk arbeiten und so – eine makabre Grundregel im Atomkapitalismus – mehr Geld verdienen zu können? Wer Suzukis Ausführungen liest, der findet nicht nur berechtigte Hinweise darauf, dass da manches arg schief läuft. Der findet auch Hinweise darauf, dass dahinter nicht immer alleine nur ein menschenverachtendes System steckt, sondern vielmehr Dilettantismus und eine unsagbare Überforderung aller Beteiligten. Und dies angesichts einer Katastrophe, die noch weniger beherrschbar ist als die Technologie, die sie hervorbrachte.

Was hat das jetzt alles mit der Yakuza zu tun? Sicher berichten kann der Autor nur von einem einzigen Arbeiter innerhalb des Atomkraftwerks, der der japanischen Mafia angehört habe, wahrscheinlich seien es aber mehr gewesen. Für das Chaos, das da bei den Aufräum- und Reparaturarbeiten herrschte, kann die Yakuza nichts. Aber: Als nach dem Tsunami in Nordostjapan alles danieder lag, da reihten sich auch Yakuza-Mitglieder als ehrenamtliche Helfer ein, erfahren wir. Suzuki kam in jenen Tagen mit einigen von ihnen selbst nach Tôhoku, in den vom Tsunami betroffenen Nordwesten der Hauptinsel Honshû. Richtig: Ein Teil der Unteragenturen, die sich nach Suzukis Recherchen bis ins zehnte Glied ausfächern, wird von Yakuza-Mitgliedern oder ihren Angehörigen geführt. Vor den ausländischen Journalisten schätzte Suzuki im Dezember 2011 die Zahl der über Yakuza rekrutierten Arbeiter auf zehn Prozent. Da mag man jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber kein einziges Problem, dass da „Inside Fukushima“ existiert und das verzweifelt versucht wird zu lösen, wurde von der Yakuza verursacht. Dafür ist das vielgeschmähte „Atomdorf“ (genshiryoku mura) zuständig, jenes Oberschicht-Konglomerat aus Politikern aller Ebenen, Wirtschaftsführern, Medienunternehmern oder Gefälligkeitswissenschaftlern, das von Kritikern wie dem Nuklearphysiker Hiroaki Koide ungestraft nur noch als „Atom-Mafia“ (genshiryoku mafia) bezeichnet wird. Der Mercedes unter den Mafias, wenn man so will.

Was den von Suzuki vollkommen zu Recht beklagten Skandal der kaskadenartigen Arbeitnehmerüberlassung angeht, mittels der die Yakuza an das Baugewerbe traditionell andockt, so könnte dieser schnell erledigt sein. Die japanische Regierung bräuchte die neoliberalistische Arbeitswelt nur etwas zu reglementieren. Dann wäre es das auch mit der Yakuza ganz schnell gewesen. Aber gehört das Thema wirklich so prominent hierher? Spätestens nämlich wenn Suzuki schreibt, dass vermutlich mehrere Mitglieder der Yakuza zu jenen „Fukushima 50“ gehörten, die da waren, als die Not am größten war, als Japan am Abgrund stand, fragt man sich: So what?

Zuletzt gesteht Suzuki ehrlich sein Scheitern ein. Nichts, was er „Inside Fukushima“ gesehen und recherchiert hat, war für die wichtigen Aspekte seines Buches, die es zweifellos auch gibt, von großem Wert. „Der bessere Weg hierfür wäre wohl gewesen, auf klassische Art bei den Unternehmen zu recherchieren“, schreibt Suzuki schließlich selbst. Und die Yakuza-Problematik hätte anders besser aufgeklärt werden können, so Suzuki – fühlte er doch zuletzt, „dass je näher ich dem Reaktorkern gekommen war, ich mich umso weiter von den erhofften Informationen entfernt hatte“. So taugt der Report am Ende eher für die Journalistenschule. Auf die vielen Fotos, die Tomohiko Suzuki produzierte und auf die die Welt durchaus gewartet hat, verzichtet die deutsche Ausgabe leider komplett. Auf dem Cover und der Rückseite prangen Fremdbilder. Ein Foto, das den Autor zeigen würde, wie in der japanischen Ausgabe, gibt es nicht.

Die Literaturlage zu Fukushima und allem, was mit dem dortigen Atomunglück zusammenhängt, ist im Japanischen mittlerweile überwältigend, nur bekommt davon im Ausland aufgrund der Sprachbarriere kaum jemand etwas mit. Umso wichtiger sind alle Bemühungen wie die der Übersetzer Felix Jawinski und Heike Patzschke sowie der sie begleitenden Leipziger Japanologin Steffi Richter, dieses Informationsdefizit im Rahmen der Arbeit der „Textinitiative Fukushima“ (Universitäten Leipzig und Frankfurt) in einem jahrelangen Arbeitsprozess abzubauen. Zahlreiche Berichte und kürzere Übersetzungen sind dieser Gruppe zu verdanken. Besonders mühsam sei dieses Unterfangen nun gewesen, schreibt Richter in ihrem Vorwort, weil das Buch „über weite Passagen im Mafiajargon“ verfasst ist. In der Tat ist es eine besondere Herausforderung für Übersetzer. Aber auch für Leser.

Titelbild

Tomohiko Suzuki: Inside Fukushima. Eine Reportage aus dem Inneren der Katastrophe.
Mit einem Vorwort von Günter Wallraff und einem Nachwort von Sebastian Pflugbeil.
Übesetzt aus dem Japanischen von Felix Jawinski, Heike Patzschke und Steffi Richter.
Assoziation A, Berlin 2017.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414581

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