Weggefährten, Urängste und das Aufkommen der Gewalt

Christopher Isherwood schreibt im Jahr 1933 mit Berthold Viertel ein Drehbuch

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christopher Isherwoods Roman Praterveilchen enttäuscht zunächst. Wer Bilder der Verfilmung des Musicals Cabaret unter anderem mit Liza Minelli im Kopf hat, zu dem Christopher Isherwoods Goodbye to Berlin eine Vorlage abgab, der denkt irgendwie klischeehaft an die Swinging/Roaring Twenties, an die Lebensgier vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus, der dieser permissiven Kultur ein böses Ende bereiten wird. Doch das, was in den ersten Seiten des ebenfalls autobiografischen Romans Praterveilchen röhrt, swingt nicht, sondern ist nur schlecht verbalisierter Narzissmus. Isherwoods Buch beginnt mit einem Dialog, der als Prolog des Ganzen fungiert. Der Autor wird von einer Filmfirma angerufen, die ihm einen Job als Drehbuchschreiber anbietet. Isherwood geriert sich wie ein mimosiges Veilchen, verstrickt Mama und jüngeren Bruder darin, dass er sich geschmeichelt fühlt, dass er als Drehbuchschreiber fungieren soll, sagt aber, er habe abgelehnt, dazwischen wird über die Weltlage (möglicher Einmarsch Hitlers in Österreich) geplaudert, dann kommt wieder ein Anruf, diesmal ist es Friedrich Bergmann alias Berthold Viertel.

Das soll witzig sein und Isherwoods Narzissmus ironisch brechen, die Dialoge sollen screwballig sein, doch bestenfalls sind sie Slapstick ohne Torte. Auch die folgende Szene, in der Isherwood zum ersten Treffen mit Bergmann fährt, ist sinnlos schnell. Es wird interessanter als Isherwood Bergmann und Chatsworth (den Tycoon der Filmfirma) trifft. Warum ist das so? Weil Isherwood endlich von sich weg und sich dem zuwendet, was er hervorragend kann: andere Menschen betrachten und in Absehung der eigenen Person interessant finden. „I am a camera with its shutter wide open, quite passive, recording, not thinking”, so sein Credo in Goodbye to Berlin. Langsam nähert sich Isherwood nicht nur der Haupthandlung, sondern dem humanen Zentrum des Buchs, als er Bergmann alias Viertel vorgestellt wird: „dass wir einander vorgestellt wurden, empfand ich als vollkommen überflüssig. Es gibt Begegnungen, die Offenbarungen gleichen, und diese gehörte dazu. Natürlich kannten wir uns. Der Name, die Stimme, die Miene waren unwichtig, ich kannte dieses Gesicht. Es war das Gesicht einer politischen Situation, einer Epoche. Es war das Gesicht Mitteleuropas.“ Das klingt hier noch aufgesetzt, doch zunehmend gelingt es Isherwood, Persönlichkeit, Beziehung und politische Atmosphäre so miteinander zu verbinden, dass ein großer kleiner Roman entsteht. Dabei erlaubt sich der Autor Brechungen des Autobiografischen: Während in der Realität Berthold Viertels Frau Salka mit den drei Söhnen 1933 in den USA, mithin ungefährdet war, ist in der Fiktionalität Bergmanns Frau mit der Tochter Inge in Wien – eine Möglichkeit für Isherwood, die blutige Niederschlagung des sozialdemokratischen Widerstands durch das Dollfuß-Regime in diesem Gesicht Mitteleuropas zu spiegeln.

Isherwood nimmt den Job an. Von da an sind er und Bergmann „Weggefährten“, Vater und Sohn. Sie beginnen ihre Arbeit in einer Dienstwohnung. Als Sekretärin fungiert Dorothy. Dieses Dreigespann versucht, ein Drehbuch zu schreiben. Der Film selbst ist eine Schmonzette mit Toni, dem Wiener Madl mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, und Rudolf, dem Prinzen von Borodanien. Isherwood scheitert am Entwurf, Bergmann reißt ihn immer wieder mit, baut ihn auf, spielt ihm Szenen vor, benutzt ihn zugleich als Motor und Motivator für eigene Kreativität. Insgesamt geht es den dreien gut: „Unser gemeinsames Leben in dem stickigen kleinen Zimmer wirkte merkwürdig isoliert. Zu dritt bildeten wir eine in sich geschlossene Welt, losgelöst von London, Europa, dem Jahr 1933.“ Immer wieder geglückt dazwischengeschaltet und in den Reaktionen Bergmanns gespiegelt ist die Situation auf dem Kontinent, sei es, dass er die Verhandlungen im Reichstagsbrandprozesses improvisatorisch inszeniert, sei es, dass er ein apokalyptisches Szenario des kommenden Krieges entwirft. Die Idylle endet als Chatsworth nach Ergebnissen fragt. Bergmann und Isherwood werden aufs Studiogelände verfrachtet, der Film muss gedreht werden. In diesem Abschnitt gelingen Isherwood schöne Vignetten von Lawrence, dem Schnittmeister, den Schauspielern, dem Ablauf am Filmset. Hier ist er in seinem Element: eine Kamera mit weit offener Linse – aber das Gehirn hinter der Linse presst guten Slapstick und anderes und mehr als diesen heraus. Isherwood ist derweilen irgendeine Mischung aus Sekretär Bergmanns, Freund, Sohn, psychologischem Helfer und Mülleimer, Dialogregisseur und bloßem Schlachtenbummler in einem Filmstudio. Nach den Aufständen in Wien macht sich Bergmann Sorgen um Frau und Kind und versinkt in gelähmtes Nichtstun, Isherwood betreut ihn: „Ich blieb fast jeden Abend bei ihm, bis er müde genug war, um ins Bett zu gehen und ruhig dazuliegen.“ Bergmann kommt nicht weiter, Chatsworth scheint das zu lange zu dauern. Sollte Bergmann gefeuert werden? Schließlich, nach einer wiederum burlesken Volte, dreht Bergmann schnell und genial den Film zu Ende.

Dann folgt die grandioseste Szene des Buchs, die für die Tortenlosigkeit des Anfangs entschädigt. Bergmann und Isherwood gehen nach der Feier, Anlass ist die Fertigstellung des Films, nach Hause: „Es war die nächtliche Stunde, in der das Ich des Menschen beinahe schläft und das Gefühl für Identität und Besitz, für Namen und Adressen und Telefonnummern nur noch schwach ist.“ Der Mensch als Reisender, unbehaust und verloren: „Neben mir spürte ich Bergmann, meinen Weggefährten: ein eigenes, geheimnisvolles Wesen, abgeschlossen in sich selbst, fern wie Beteigeuze und dennoch für kurze Zeit ein Begleiter auf meinen Streifzügen.“ Virulent wird hier eine immer vorhandene latente Suizidalität Isherwoods. „Was lässt euch weiterleben? Warum bringt ihr euch nicht um?“ Vielleicht, weil es Liebe gibt? Nun, das wird abschlägig beschieden. Zwar gibt es immer eine Person, die man liebt, aber die wird immer wieder verschwinden, die Liebe enden: J. (der jetzige Favorit Isherwoods) „wird verschwinden, das Verlangen aber wird bleiben. Das Verlangen ins Dunkel zurückzukehren, ins Bett, in die warme nackte Umarmung, wo J. ebenso wenig J. ist wie K., L. oder M. Wo nur die Nähe ist und die schmerzliche Hoffnungslosigkeit, mit der man den nackten Körper in seinen Armen hält. Der quälende Hunger hinter allem. Und das Ende aller Liebesspiele, der traumlose Schlaf nach dem Orgasmus, der wie ein Tod ist.“ Und weiter:

Tod, der erwünschte, der gefürchtete. Der heiß ersehnte Schlaf. Das Grauen vor dem kommenden Schlaf. Tod. Krieg. Die große schlafende Stadt, den Bomben geweiht. Das Donnern nahender Motoren. Das Geschützfeuer. Die Schreie. Die zertrümmerten Häuser. Allumfassender Tod. Mein eigener Tod. Tod der sichtbaren und vertrauten, der spürbaren und greifbaren Welt. Der Tod mit seinem Heer von Ängsten. Nicht die eingestandenen Ängste oder die, über die man spricht. Viel schlimmere: die heimlichen Ängste der Kindheit. Angst vor der Höhe des Sprungbretts, Angst vor dem Hund des Bauern und dem Pony des Pfarrers, Angst vor Schränken, Angst vor dem dunklen Gang, Angst davor, sich einen Fingernagel mit dem Meißel zu spalten. Und dahinter die unaussprechliche, die schrecklichste von allen, die Urangst: die Angst davor, sich zu fürchten.

Ist das etwa literarisch nicht gelungen? Dieses Ende von Isherwoods Roman versöhnt mit dem missglückten Anfang.

Titelbild

Christopher Isherwood: Praterveilchen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405316

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