Treffpunkt Insel
Le Clézios Erzählung „Sturm“ inszeniert in starken Bildern eine besondere Begegnung
Von Regina Roßbach
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Für die Haenyo, die Seefrauen der Insel Udo“, lautet die Widmung der ersten titelgebenden Erzählung aus J.M.G Le Clézios jüngst auf Deutsch erschienenem Band Sturm. Wer sind sie, diese ‚Haenyo‘? Erotische Sagengestalten mit Fischschwänzen, verführerisch die roten Haare schüttelnd? Aber soll es sie nicht wirklich geben, diese ‚Insel Udo‘, irgendwo im Gelben Meer, südlich von Korea?
Wenige schlichte Worte entfalten bei Le Clézio große Assoziationsspielräume. Schon die Widmung erzeugt meisterhaft die in seinen Texten häufig zu findende und besonders für Sturm charakteristische Spannung zwischen märchenhaften, mythischen oder traumähnlichen Bildwelten bei gleichzeitiger Verortung in einem als real markierten und wirklichkeitsnah dargestellten geographischen Raum. In Le Clézios Ausgestaltung wird das Bedeutungsspektrum des Motivs der „Seefrauen“ voll ausgeschöpft: Literaturgeschichtliche und volkstümliche Bedeutungen von der unschuldigen, erlösungsbedürftigen oder erotischen Frau treffen auf die Realität eines konkreten Berufsbildes: dem der Muscheltaucherinnen.
Die Geschichte beginnt mit der Ankunft des Schriftstellers Philip Kyo auf einer südasiatischen Insel, die er vor dreißig Jahren verlassen hat, nachdem seine damalige Geliebte eines Tages unerwartet ins Meer gegangen und verschwunden war. Doch er trägt sich nicht mit der Hoffnung, sich durch seine Rückkehr und Konfrontation mit der Vergangenheit von seinen Verlust- und Schuldgefühlen befreien zu können. Das Verhältnis zu der Frau war schon einmal der gescheiterte Versuch eines Neubeginns gewesen, nachdem man ihn damals aus dem Gefängnis entlassen hatte. Als Fotograf im Krieg hatte er die brutale Vergewaltigung eines jungen Mädchens mit angesehen, ohne Hilfe zu leisten.
Die Insel war also früher nicht der Ort der erhofften Rettung und sie wird es auch jetzt nicht sein. Kyo weiß nicht mehr genau, wer von beiden die Idee hatte, auf die abgelegene Felseninsel zu kommen, und warum. Um die Stille zu suchen, die Isolation vom Rest der Welt? Um wieder mit dem Schreiben zu beginnen? Diesmal jedenfalls ist Kyo davon überzeugt, dass es für ihn keine Wiedergutmachung und kein Vergessen geben wird und dass er wahrscheinlich gekommen ist, um nun auch selbst auf der Insel zu sterben. Wie das Meer alles wieder anspült, was der Sturm fortgeblasen hat, sucht Kyo durch Rückkehr an den Ort seiner Sünden die Wiederholung seines Schicksals und eine gerechte Strafe: „Ich musste die Bitternis bis zur Neige, bis zur Sinnenlust des Unglücks ausschöpfen.“
Doch es kommt zu einer unerwarteten Begegnung: Ein dreizehnjährigen Mädchen namens June, ebenfalls keine einheimische Insulanerin, beginnt sich für den seltsamen, einzelgängerischen Alten zu interessieren. Sie wurde von ihrer Mutter auf die Insel mitgenommen, die dadurch den Feindseligkeiten ihrer Verwandtschaft zu entgehen hoffte. Denn June ist dunkelhäutig; das uneheliche Kind eines Mannes, den sie nicht kennt und der ihre Mutter verlassen hat. Zwischen dem Schriftsteller und dem Mädchen entsteht eine Art magische Verbindung, die in den ewigen Kreislauf der sie umgebenden Naturgewalten des Sturms und des Meers eingebunden scheint. Der eine wird für den jeweils anderen zum Wiedergänger eines früheren und zugleich zum Verkünder eines neuen Lebens.
Auch in dieser Erzählung ist das Interesse des Nobelpreisträgers Le Clézio für Kulturen fernab der Zivilisation erkennbar, das schon häufig im Mittelpunkt seines Schaffens stand: so etwa auch in seinen essayistischen Erkundungen indigener Lebensweisen in Mexiko (Der mexikanische Traum) und besonders in den vier Mauritius-Romanen, in denen der Autor, dessen Vorfahren lange auf dieser Insel gelebt haben, sich auch mit seinen familiären Wurzeln auseinandersetzt. Auf der abgeschiedenen Insel kann ein Beruf wie der der Muscheltaucherin noch existieren, der in der Erzählung von Junes Mutter ausgeübt wird und den auch sie selbst sich für ihre Zukunft wünscht – anstelle der guten Ausbildung, die die Mutter für sie erhofft. Wie Fabelwesen tauchen die Seefrauen unter die Meeresoberfläche, können mehrere Minuten unter Wasser bleiben und stoßen nach dem Auftauchen eigentümliche laute Schreie aus, die ihnen wie manchen Meerestieren eine schnelle Sauerstoffaufnahme ermöglicht. Ihre aus Seeohren, Muscheln und Meeresschnecken bestehende Ernte verhilft den Frauen nicht mehr zu großem Reichtum, wie früher, als sie meist die gesamte Familie davon ernähren konnten. Massentourismus und Umweltverschmutzung haben noch auf dem abgelegensten Fleckchen Erde ihre Auswirkungen. Doch der Beruf ermöglicht immer noch das Überleben. Die Darstellungen der Seefrauen evozieren mit großer literarischer Kraft die Utopie einer matriarchalischen Gesellschaftsform, geprägt von Naturnähe, Sinnlichkeit und Gemeinschaftssinn.
Ein provokatives Moment enthält der Text in seiner Thematisierung von Sexualität, wenn die Figuren selbst sich darum sorgen, dass man ihre ungleiche Freundschaft als Liebesverhältnis – und damit kriminell – verstehen könnte. Dass keine Stelle diesen Verdacht nahelegt, ist eine große Kunst; denn es handelt sich ohne Frage unter anderem auch um eine erotische Erzählung. Auch in dieser Hinsicht haben der Inselaufenthalt und ihre Begegnung für beiden Figuren schicksalhafte Bedeutung; ermöglichen ihnen beiden auf unterschiedliche Weise eine Neubewertung ihrer Sexualität.
So kunstvoll und dicht wie Sturm ist auch die zweite Erzählung des Bandes erzählt, Eine Frau ohne Identität. Wie aneinandergereihte Filmszenen wirken die Etappen im Leben Rachels, deren Kindheit in Ghana zwar bedrückend sein mag; zu Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit kommt es jedoch erst in Frankreich, in das sie mit ihrer Pflegefamilie einreist. Unaufhaltsam scheint sie in die Gewalttätigkeit und Abstumpfung abzudriften und es muss erst zur Katastrophe kommen, bis jemand auf Rachels Not aufmerksam wird. Glücklicherweise steht bei Le Clézio am Ende immer die Hoffnung; sonst wäre die Lektüre von Rachels Lebensgeschichte schwer zu ertragen. Für das Mädchen geht es um die Überwindung ihrer Vergangenheit, für den Leser auch um eine Auseinandersetzung mit Integration und Zivilcourage.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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