Der verpfuschteste Erstkontakt aller Zeiten

Mit „Dunkle Materie“ wurde erstmals ein Roman der US-amerikanischen Science-Fiction-Autorin Carolyn Ives Gilman ins Deutsche übersetzt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Öfter einmal wird einem Roman – zumal des Genres Science-Fiction –  zu Recht oder zu Unrecht bescheinigt, er sei auf eine Verfilmung hin konzipiert und geschrieben worden. Frank Schätzings Der Schwarm ist einer von ihnen. Hier gilt es hingegen ein literarisches SF-Werk anzuzeigen, dem dies ganz gewiss nicht nachgesagt werden kann, handelt es doch zu einem großen Teil in absoluter Finsternis. Es trägt den Titel Dunkle Materie, stammt aus der Feder von Carolyn Ives Gilman und ist der vierte Roman ihrer in ferner Zukunft handelnden Zwölf-Planeten-Reihe, in der die Menschen ebenso viele Planeten besiedelt haben, die zuvor alle einem Terraforming unterzogen wurden. Lange bevor ihre AhnInnen vor vielen Generationen die Erde verließen um auszuwandern, gab es aber offenbar bereits eine „Erste Diaspora“, die in grauer Vorzeit stattfand. Denn jedes Mal wenn die von der Erde abstammenden CappelanerInnen auf einen bewohnbaren Planeten treffen – was selten genug, nämlich „nur einmal pro Generation“, geschieht –, ist auch er bereits terrageformt und sie stoßen dort auf Menschen, die in unterschiedlichsten Kulturen verschiedener technischer Entwicklungsstufen leben.

Der erste Roman der Reihe, Halfway Human (1998), wurde schon bald nach seinem Erscheinen für seine einfallsreiche Verknüpfung der Trias Gender, Sexualität und Klasse bekannt und gepriesen. Nicht jedoch hierzulande, harrt er doch nach nunmehr bald 20 Jahren noch immer seiner Übersetzung. So beeindruckend Gilmans literarische Bearbeitung der Trias auch ist, mehr noch interessiert sie sich offenbar dafür, menschliche Gesellschaften zu gestalten, die in einer für unsere Spezies denkbar ungünstigen Umwelt leben. So residieren die Menschen in Arkfall (2010), dem zweiten Band der Reihe, in den Tiefen eines Meeres unter einer dicken Eisschicht. In The Ice Owl (2012) wiederum müssen sie auf einem Planeten zurechtkommen, der seiner Sonne immer die gleiche Seite zuwendet, sodass auf der einen Planetenhälfte ewiger Tag, auf der anderen ewige Nacht herrscht. Nur in der Zwischenzone herrschen Bedingungen, die es erlaubten, dass sich Menschen dort ansiedelten. Ideal sind sie allerdings keineswegs.

Beide Werke sind ebenso wie Halfway Human noch nicht ins Deutsche übertragen worden. Somit ist Dark Orbit (2015) – sicher sehr zum Bedauern zahlreicher SF-Fans – überhaupt der erste Roman der Reihe, der auf Deutsch erschien. Auch in diesem Fall hat sich die Autorin ein ganz besonderes Habitat für die Menschen ausgedacht: Eine dörfliche Gemeinschaft lebt unter der Oberfläche des Planeten Iris in immerwährender Finsternis.

Zunächst aber handelt der Roman in der Zivilisation der bereits aus den ersten Büchern der Reihe bekannten BewohnerInnen von Cappella II, einer hochtechnisierten Kultur, die auf dem Handel von Informationen basiert. Dabei beginnt er bedauerlicherweise mit recht lahmen Überlegungen zur zeitlichen Identität einer Person, deren Atome bei der Reise „auf einem Lichtstrahl“  komplett ausgetauscht werden. Lahm ist das deshalb, weil solche Erörterungen angesichts des Wissenschaftsmythos, dass alle Zellen im Körper eines Menschen während seines Lebens mehrfach durch immer wieder neue ersetzt werden, schon ziemlich lange angestellt werden. Letztlich gehen sie allesamt auf das von Plutarch überlieferte Theseus-Paradoxon zurück. Im Roman wird dem Gedankenexperiment im Grunde nichts Neues hinzugefügt.

Bedauerlich ist dieser lahme Beginn, weil er vielleicht vom Kauf des Buches abhalten könnte, wenn man den Roman in einer Buchhandlung anliest. Das wäre schade, denn er erweist sich im Laufe der weiteren Lektüre als auf vielfältige Weise originell, innovativ, spannend und unterhaltsam. So ist er nicht nur einer der wenigen SF-Romane, welche die Zeitdilatation bei Raumfahrten im Bereich der Lichtgeschwindigkeit ernst nehmen, sodass die Zurückbleibenden im Verhältnis zu den Reisenden schneller altern. Einstein hat dieses Phänomen bereits in seiner Relativitätstheorie dargelegt, lange bevor die Relativität der Zeit experimentell nachgewiesen werden konnte. Benötigen die Reisenden des Romans zur Überwindung von 58 Lichtjahren aus Sicht der Zurückbleibenden ebenso viele Jahre, gelingt die Kommunikation mit ihnen über diese Entfernung hinweg in Realzeit. Ermöglicht wird dies durch den Einsatz eines „Paarpartikelkommunikators“, der sich offensichtlich eines von Einstein unbehaglich als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichneten Phänomens der Quantenphysik bedient.

Auch sonst sprudelt der Roman vor – nicht nur technischen, kosmologischen und quantenphysikalischen – Ideen geradezu über. So wird nicht nur das Modell der Branenkosmologie aufgegriffen, sondern es wird auch die völlig fremde Erscheinung (beziehungsweise das Konzept) des „Bewillens“ vorgestellt. Darüber hinaus stattet die Autorin ihre stets menschlichen Zivilisationen mit bestimmten sprachlichen Eigenheiten aus, die wiederum ihre kulturellen Besonderheiten spiegeln. So werden „Stärke“ und „Schwäche“ in der Sprache der Vind, denen eine der Protagonistinnen angehört, mit ein und demselben Wort bezeichnet: „nkida“. Da „aber aus der Vereinigung zweier gegensätzlicher Bedeutungen“ eine neue „geboren“ werde, könne „nkida“ zugleich „Quelle der Stärke“ bedeuten. All diese Gedankenexperimente, Reflexionen und Ideen sind keineswegs nebensächliche Beigaben zur eigentlichen Handlung des Romans oder unterbrechen sie gar unangenehm, sondern passen sich ihr geschmeidig an und beeinflussen sie über kurz oder lang.

Manchmal sind es auch nur kleine Nebenbemerkungen, die ganz unerwartete und sofort einleuchtende Bezüge herstellen, etwa zwischen Teilchenphysik und Erstkontakten. In beiden Fällen wird das Objekt durch die Beobachtung verändert. „Wenn die Isolation durchbrochen wurde, verhielten sich Kulturen wie thermodynamische Systeme, und das Resultat war Uniformität.“

Originell ist ebenfalls, dass die Wissenschaften auf Cappella II nicht nach Disziplinen unterteilt sind, sondern nach den von ihnen angewandten Methoden. So wie es an den Universitäten bis ins 19. Jahrhundert hinein die vier klassischen Fakultäten gab, gibt es dort zunächst einmal ebenso viele Wissenschaften: die deskriptive, die systematische, die intuitive und die bestätigende Wissenschaft. Hinzu kommen die „Untermauerungsbewegung“, der es darum zu tun ist, „unsere vorgefassten Meinungen bestätigt zu finden“, und die „Korroborationisten“, die sich durch ihre strikte Gegnerschaft zum Objektivismus auszeichnen. Doch schon die VertreterInnen der vier eigentlichen Wissenschaften sind den Methoden der jeweils anderen nicht unbedingt grün. So kritisiert Thora Lassiter, die Vertreterin der intuitiven Wissenschaft, ihren Kollegen aus der bestätigenden dahingehend, dass seine Methode nicht wissenschaftlich, sondern religiös sei. Zwar sei dieser Unterschied nur „trivial“, die „wahre Trennung“ (im Original „real divide“) aber liege zwischen der „verworrenen“ („muddy“) und der „schlüssigen Denkweise“ („rigorous thinking“) der eigenen Methode. Ungeachtet solcher Reibereien werden die VertreterInnen aller vier Wissenschaften miteinander auskommen müssen, denn sie begeben sich gemeinsam auf eine Forschungsreise zu dem neu entdeckten Planeten Iris.

Thora, eine von ihnen, gehört zur Elite der Vind und war bis vor kurzem Capellanische Botschafterin auf Orem, begann dort jedoch Stimmen zu hören und wurde Mittelpunkt eines Kults, woraufhin sie abberufen und psychiatrisiert wurde. Eine Vorgeschichte, die im Laufe der Handlung wieder aufgegriffen wird. Die offenbar junge Frau ist jedoch nicht nur eine ehemalige Botschafterin und intuitive Wissenschaftlerin, sondern auch Sensualistin und somit Anhängerin einer – wie sie erklärt – vom Planeten Gammadis stammenden und „sogar bis auf Plato zurückgehenden“ philosophischen Richtung, der zufolge „die menschlichen Sinne in der Lage sind, eine weit größere Bandbreite an Phänomenen wahrzunehmen, als uns bewusst ist“.

Die, wie nicht zuletzt ihre erkenntnistheoretischen Überlegungen zeigen, kluge und gebildet Frau ist eine der beiden Protagonistinnen und Identifikationsfiguren, aus deren Sicht das Geschehen abwechselnd erzählt wird.

Im Falle Thoras bedient sich die Autorin der Textform des fiktiven Tagebuchs. Genauer gesagt handelt es sich um ein „Audiotagebuch“, das sich auf das „Innenleben“, mithin also auf die „Träume, Gedanken, Erinnerungen und Spekulationen“ seiner ‚Verfasserin‘ konzentriert. Gilman hat Thora hierfür eine ausgesprochen angenehm zu lesende Sprache verliehen, reich an romantischen Metaphern, mit denen sie etwa voller Enthusiasmus den Sonnenaufgang über Iris beschreibt. Irgendwann verwandeln sich die Tagebuch-Aufzeichnungen unvermerkt in einen erzählenden Text mit Dialogen und changieren fortan zwischen beiden Textsorten.

Die zweite Identifikationsfigur, die Cappellanerin Sara Callicot, ist ebenfalls mit an Bord, gehört jedoch nicht dem eigentlichen wissenschaftlichen Team an, sondern hat vielmehr den Auftrag, dessen Arbeit zu evaluieren. Eine für sie etwas ungewöhnliche Aufgabe, denn ihr Spezialgebiet ist eigentlich „die Forschung an nichtcapellanischen wissenschaftlichen Methodologien“. Der wahre Grund für die Anwesenheit der sich gerne als Rebellin sehenden Außenseiterin ist denn auch ein anderer. Sie soll ein Auge auf Thora haben.

Unter den weiteren Weltraumreisenden sticht insbesondere Dagan Atlabatlow hervor. Er ist für die Sicherheit an Bord verantwortlich und – wie Sara meint – für diesen Job wie geschaffen, denn sie hält ihn für einen Oremanen. Diese „glauben, dass die innigste Beziehung im Leben jene zwischen Jäger und Beute ist“. Eine Form dieser Bindung ist die „gewalttätig, obsessiv und sexuell aufgeladene“ Abindo-Beziehung. Tatsächlich aber wurde Dagan auf Capella geboren, doch stammen seine Vorfahren sehr wohl von dem Planeten Orem, auf dem sich vor Zeiten eine „von Männern dominierte Gesellschaft“ etabliert hat, in der die Angehörigen des herrschenden männlichen Geschlechts „Geld und jeglichen Handel“ als Frauenangelegenheiten ablehnen und verachten. Die „Domänen“ der Herren des Planeten sind vielmehr „Krieg und Politik“. Wie sich also leicht denken lässt, entpuppt sich Dagan schnell als Antagonist Saras.

Die anderen Besatzungsmitglieder bleiben eher etwas blass, wie beispielsweise der „Leiter der deskriptiven Wissenschaft“, Magister Sarcodan, den nicht viel mehr als sein „Alphamännchengehabe“ auszeichnet. Sandhya Prem, die „Leiterin der systematischen Wissenschaften“ wiederum ist „eine Frau, die das Bild eines grauen Mäuschens angenommen hatte, um ihre außergewöhnliche Intelligenz zu verbergen“. Dabei kann sie allerdings durchaus einen „scharfe[n] Humor“ aufblitzen lassen. Der sich recht lächerlich ausnehmende „Publizist“ Mr. Gibb schließlich soll die Expedition journalistisch aufbereiten und stellt die gleichen einfallslosen Fragen nach den Gefühlen der Angehörigen des Landungsteams wie heutzutage Sportreporter den noch atemlosen SpielerInnen nach einem Match. „Die Leute haben ein Interesse an persönlichem Zeug“, versucht er sich zu verteidigen.

Dieser Trupp also erreicht den Planeten Iris. Genauer gesagt zunächst einmal das diesen umkreisende bis dato unbemannte Raumschiff mit dem sprechenden Namen Escher. Man fühlt sich in ihm, als sei man geradewegs in eines der Bilder des gleichnamigen Künstlers geraten. Auch dies ist keineswegs eine beiläufige Belanglosigkeit, sondern erhält im Laufe der Handlung seine Erklärung und seine Bedeutung.

Der Name des Planeten ist ähnlich sprechend wie der des Raumschiffes und verdankt sich seiner im Licht der Sonne weit prachtvoller noch als jeder Regenbogen schimmernden und schillernden Oberfläche. Es handelt sich um eine Welt, die allem Anschein nach keinem Terraforming unterzogen wurde, sondern ganz eigene, kristalline Lebensformen hervorgebracht hat, die für eben diese Lichteffekte verantwortlich sind. Eine Welt zudem, die nicht für das menschliche Wahrnehmungssensorium gemacht ist, wie sich herausstellt, als die ForscherInnen vor einem kristallinen Wald stehen, der wie ein Spiegelkabinett wirkt, nachdem sie ihn betreten haben. Dass er aber überhaupt als Wald bezeichnet wird, ist der „erklärenden Konvention“ anzulasten, die auch hier einmal mehr „die Realität ersetzt“.

Die eigentliche Entdeckung aber harrt der Forschungsreisenden wie so oft in den Wissenschaften erst unter der Oberfläche. Stoßen sie dort doch auf Menschen, die den Planeten offenbar zur Zeit der Ersten Diaspora besiedelten. Aufgrund der in ihrer Heimstatt ewig herrschenden absoluten Finsternis haben sie vor etlichen Generationen die Fertigkeit (nicht aber die Fähigkeit) zu sehen, verloren. Ihre Gesellschaft ist eine von Blinden, in der Sehende gerade so blind sind, wie diese in einer Welt der Sehenden, während sie selbst sich in ihr so sicher bewegen, wie die Sehenden in der ihren.

So wie Utopien Reisende in die Ideale Gesellschaft versetzen, versetzt der Roman eine Sehende in die Welt der Blinden. Dabei wird deren Welt ebenso dateireich, ja liebevoll  ausgemalt wie das UtopistInnen mit den Ihren zu tun pflegen. Doch fallen die unterweltliche Gesellschaft und ihre Kultur bis in die Organisation des Alltagslebens hinein weitaus origineller, überzeugender und stimmiger aus als die vermeintlich idealen Gesellschaften von Morus bis Morris, hat die Autorin doch selbst „linguistischen Barrieren“ erdacht, die sich aus den unterschiedlichen Lebenswelten der Sehenden und der Blinden ergeben. All dies wird noch durch verschiedene Reflexionen in Thoras Tagebuchaufzeichnungen bereichert, in denen sie erkenntnistheoretische und philosophische Fragen erörtert, die sich aus den beiden unterschiedlichen (Wahrnehmungs-)Welten ergeben. Denn diese wirken sich nicht nur auf Gesellschaft und Kultur, sondern selbst auf das Raum- und Zeitempfinden aus.

Dort, in der Unterwelt, betritt mit Motte eine dritte Protagonistin die Bühne des Geschehens. So wie Thora in die unterirdische Welt verschlagen wird, gelangt Motte später in die der Sehenden und es kommt zum „verpfuschtesten Erstkontakt aller Zeiten“, wie Sara klagt.

Motte und Thora finden sich in der Welt der jeweils anderen kaum zurecht. Die Autorin parallelisiert in gewisser Weise die Probleme, die beide in der für sie jeweils fremden Welt bewältigen müssen. Doch werden Mottes Erlebnisse stets aus der Sicht Saras, also aus der einer raumfahrenden Capellanerin, erzählt; diejenigen Thoras hingegen aus ihrer eigenen, sodass der Blick auf die Ereignisse in jedem Fall der einer Sehenden bleibt.

Gegen Ende hin wird das Geschehen mit kosmologischen Anklängen des seit der Antike bekannten Konzepts hen kai pan unterlegt. Doch geht das Alleinheitserlebnis einer der Figuren weit über das hinaus, was altgriechische PhilosophInnen oder später Nikolaus von Kues sich vorstellten.

Ob der Erstkontakt allerdings wirklich verpfuscht ist, oder aber die Unternehmung der CappelanerInnen ungeachtet all dessen, „was schief gelaufen ist“, womöglich doch als Erfolg verbucht werden kann, wird natürlich nicht verraten. Wohl aber, dass auch sympathische Figuren ihren rassistischen Vorurteilen erliegen können. – Und natürlich, dass der überaus vielschichtige Roman nicht nur SF-Fans die Lektüre danken wird.

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Carolyn Ives Gilman: Dunkle Materie.
Übersetzt von Markus Mäurer.
Cross Cult Verlag, Asperg 2016.
384 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783959811507

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