Das Phantastische um 12 Uhr mittags

In seiner Monographie bringt Hans-Jürgen Schmitt Leben und Werk von Julio Cortázar zu gebührender Geltung

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Julio Cortázar (1914-1984) zählt zu den vier Giganten der neuen Literatur Lateinamerikas, die als „Boom“ bezeichnet werden und seit den 60er Jahren weltweit Erfolge feierten: Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa und eben Julio Cortázar, der Älteste. Über alle wurden in vielen Sprachen und Ländern zahlreiche Studien, Monographien, Dissertationen und Interviewbände publiziert, Leben und Werk gründlich oder sogar erschöpfend untersucht.

In Deutschland hatte Cortázar immer einen schwierigeren Stand als in anderen Ländern. Sein wichtigster Roman Rayuela. Himmel-und-Hölle, der 1963 in Buenos Aires erschien, zum Kultbuch für Generationen von Lateinamerikanern wurde und das Schreiben der Autoren spanischer Sprache nachhaltig veränderte, erschien erst 1981 in Deutschland: Die Übersetzung von Rudolf Freis dauerte Jahre, die Redaktion von Anneliese Botond ein weiteres – insgesamt waren es sieben, der Roman war bei seinem Erscheinen in Deutschland also schon großjährig! Kurzgeschichten haben traditionell einen schweren Stand bei uns, während sie in Nord- und Südamerika ein beliebtes Genre sind und viel gelesen werden. Erste Übersetzungen einzelner Erzählungen konnten den spielerischen, freien und hintersinnigen Umgang mit der Sprache des Autors nicht adäquat wiedergeben. Schließlich schrieb Cortázar, in Worten von Octavio Paz, „eine Prosa, die die Sprache hüpfen, tanzen und fliegen lässt“. Also war Cortázar ein „Geheimtipp“, bis der Suhrkamp-Verlag ab 1976 nach und nach alle Erzählungen in den wunderbaren Übersetzungen von Rudolf Wittkopf publizierte.

Die Übersetzung und somit die Rezeption von Cortázars Werk verlief bei uns nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen: Album für Manuel, sein politischer Roman, erschien schon 1976, also kurz nach dem Original (1973), dann folgten die Erzählbände, schließlich Rayuela. Das Interesse der Leser nahm seitdem stetig zu, immer mehr Kritiker waren fasziniert von diesem unverwechselbaren, vielschichtigen Stil, von Humor und Doppelbödigkeit, von stupender Belesenheit und der völlig anderen Phantastik, die sich nicht um Mitternacht ereignet, sondern „um zwölf Uhr mittags“, wie der Autor in einem Interview sagte.

Sehr dankenswert ist daher die Monographie, die Hans-Jürgen Schmitt jetzt vorgelegt hat und die es dem deutschen Leser ermöglicht, Leben und Werk von Cortázar endlich auch chronologisch kennenzulernen. In acht Kapiteln nähert er sich behutsam und einfühlsam, konzentriert sich vor allem auf die Entstehung und Interpretation von Rayuela, diesem Werk, das alle bislang bekannten Regeln des Romans auf den Kopf stellt, das Antiroman und zugleich spielerische Neuerfindung der Gattung ist. Sorgfältig untersucht er die einzelnen Erzählungen, insbesondere Der Verfolger, erläutert den Zeitpunkt und manchmal auch die Umstände des Entstehens und erarbeitet sich den allmählichen Zugang zum Cronopium Cortázar – ermöglicht ihn so auch dem Leser. Die Zuneigung des Biographen für diese unverwechselbaren, nonkonformistischen Geschöpfe des Autors, die Cronopien, die weltweit zum Synonym für den Autor und Erkennungscode seiner Fans geworden sind, sind deutlich spürbar.

Cortázars gesammelte Erzählungen umfassen in der deutschen Ausgabe ca. 1.300 Seiten. In der spanischen sind es noch etwa hundert mehr, da etliche Texte aus den beiden Almanach-Büchern, Reise um den Tag in 80 Weiten und Letzte Runde, aus Territorios sowie aus Ein gewisser Lukas  – in Abstimmung mit dem Autor – nicht aufgenommen wurden, weil sie teils schwer übersetzbar waren und man zudem fürchtete, der deutsche Leser fände wenig Gefallen an diesen eigenwilligen, vom argentinischen Künstler Julio Silva mit Bildern und Collagen, Fotos und Zeichnungen großartig gestalteten, ausgefallenen Bänden. Die Kurzprosa bildet jedenfalls den Kern des literarischen Werks von Cortázar, sie ist Höhepunkt und Fixpunkt, zu dem alle Leser immer wieder fasziniert zurückkehren. Schillernd wie ein Kaleidoskop, vielschichtig wie ein Baumkuchen, verwirrend wie ein Großlabyrinth, unergründlich wie der Blick auf den Sternenhimmel… das erzählerische Universum von Julio Cortázar lädt zu immer neuer Lektüre, zu immer neuen Deutungen ein, was diese Monographie verdeutlicht.

Cortázar war aber nicht nur Erzähler, sondern auch ein bemerkenswerter Dichter – was weniger bekannt ist. In Pameas y meopas hat er eine Auswahl getroffen, aber noch viele Gedichte folgten, wie H.J. Schmitt erläutert. Auch als Essayist – der zu den vier bedeutendsten des Kontinents in der zweiten Jahrhunderthälfte gezählt wird, nämlich zu Borges, Lezama Lima und Octavio Paz – sollte er noch besser entdeckt werden: Nur in den beiden Almanachbänden finden sich einige seiner prägnanten und immer originellen Essays, die ihn als unverwechselbaren Homo ludens ausweisen. Der Leser staunt und freut sich über so viele hintersinnige Ideen, desgleichen über die zum Schreien komischen Dialoge seiner alter-ego-Figuren Calac und Polanco, die in mehreren Büchern auftreten. Die Vielfalt von Cortázars Interessen, Neigungen, Fragestellungen und Themen scheint grenzenlos. Er selbst sagte einmal über sein Schreiben (in Melancholie der Koffer): „Ich möchte am liebsten nur takes schreiben“, also die Jazz-Improvisationen auf die Literatur übertragen. Von akademischen Analysen hingegen hielt er wenig.

Das politische Engagement für Kuba, für Nikaragua, sein Einsatz in den Russell-Tribunalen gegen die Diktatoren des Cono Sur, die Mitarbeit am Schwarzbuch Chile sind dem deutschen Leser vertrauter als Poesie und Essays. Der Roman Album für Manuel, in dem er die angeblich revolutionären, eher schwärmerischen Non-sense-Aktionen einer Gruppe junger Lateinamerikaner in Paris schildert, enthält viele Zeitungsausschnitte, die ihm während der Arbeit am Buch auffielen. Sie zeugen vom Zeitgeschehen, von seinem politischen Engagement, das ihm jedoch viele Kollegen vorwarfen, weil es seine exquisite literarische Arbeit schmälere, schließlich sei er doch fast sechzig Jahre lang ein universal gebildeter, einzelgängerischer Ästhet gewesen. Cortázar ließ sich nicht beirren, lebte auf seine Weise die Liebe zur Literatur und zu dem, was er für seine gesellschaftspolitische Verpflichtung hielt.

Der Leser kann Cortázar für vieles dankbar sein, sein Werk ist ungemein anregend und bereichernd, einzelne Texte bleiben  für immer unvergesslich im eigenen Alltag – ich denke z.B. an die Anleitung, eine Treppe zu steigen, an das Gefühl, wenn man im Stau steckt, an den Ärger, den man mit einem Rollkragenpulli bekommen kann. Seine Geschichten und Essays sind auch eine Einladung, mögliche eigene Einfälle doch einfach mal auszuprobieren. Scheitern kann man immer, aber man hat zumindest den Versuch gewagt… Ja, nur zu gerne würde man Schüler dieses genialen Homo ludens sein.

Über Cortázar zu schreiben, birgt viele Gefahren, weil er sich jeder Interpretation entzieht. Hans-Jürgen Schmitt ist es gelungen, das Faszinierende seines Werks und seiner Person lebendig zu machen, und so spürt man den unwiderstehlichen Drang, sofort wieder Cortázar zu lesen. Und das sollte man auch tun, denn wie Pablo Neruda sagte: „Wer Cortázar nicht liest, ist verloren. Ihn nicht zu lesen, ist eine schwere, schleichende Krankheit, die mit der Zeit schreckliche Folgen haben kann. Ähnlich wie jemand, der nie einen Pfirsich gekostet hat. Er würde langsam melancholisch werden und immer blasser, vielleicht würden ihm nach und nach die Haare ausfallen.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hans-Jürgen Schmitt: Julio Cortázar. Der phantastische Realist.
edition text & kritik, München 2017.
203 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164571

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