Der Symphilologe

Ein umfangreicher Kommentarband setzt das Erscheinen der Kritischen Ausgabe von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen fort

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das bleibende Bild des Romantikers August Wilhelm Schlegel ist das des Vortragenden, des Lehrenden, dem es mit weltmännischem Flair gelingt, die Hörer in seinen Bann zu ziehen. Von seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Jena 1798 bis kurz vor seinem Tod 1845 trat er immer wieder hinter das Rednerpult. Viele hundert Studenten hat er in Bonn seit 1818 in die Geschichte der schönen Künste eingeführt, in das Sanskrit oder gar in die Etruskologie. Seine öffentlichen Vorlesungen in Berlin von 1801 bis 1804 sowie in Wien von 1808 bis 1809 sind Legende. Im zahlenden städtischen Wiener Publikum saß der halbe Hofadel bis hin zu Fürst Metternich. Über viele der prominenten Berliner Hörerinnen und Hörer – Frauen waren im nichtakademischen Rahmen zugelassen – sind wir nun genauer informiert. Neben zwei Hohenzollern-Prinzen waren Wissenschaftler wie der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen, der Kunsthistoriker Aloys Hirt, der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im Saal. Doch auch die Salonnière Rahel Levin und ihr späterer Mann Karl August Varnhagen von Ense waren anwesend – eine Vorlesung zu Ästhetik und Literaturgeschichte als Straßenfeger für die Gebildeten und als Einfallstor für einen Sinneswandel, was die Bewertung der beliebten, etablierten Autoren der Zeit anging.

Die Kritische Ausgabe von Schlegels Vorlesungen ist ein von Ernst Behler begonnenes Langzeitunternehmen, dessen erster Band vor knapp 30 Jahren erschien. Die ersten drei (Teil-)Bände, deren letzter nun vorliegt, enthalten eines von Schlegels Hauptwerken, die oben bereits genannten Jenaer und Berliner Vorlesungen. Lesen muss sie jeder, der die exoterische, genauer: die philologische und literaturhistorische Variante frühromantischen Symphilosophierens kennenlernen möchte. Nun ist endlich auch ein ausführlicher Kommentar dazu verfügbar, editorische Fehler des Textbandes werden korrigiert sowie Textkritik und vor allem Stellenkommentare im Umfang von insgesamt 500 Druckseiten kommen hinzu. Fielen die zahlreichen Druckfehler in jenem ersten, noch von Behler selbst verantworteten Band auch dem flüchtigen Leser auf, so werden sie nun in der auf mühsamer Kleinarbeit beruhenden Errata-Liste zur Kenntnis gebracht. Eine künftige digitale Ausgabe sollte die Korrekturen auch in den Text selbst einarbeiten und mühsames Kollationieren überflüssig machen.

Anders als den geschmeidigeren, durch Schlegel selbst für den Druck eingerichteten Text der Wiener Vorlesungen zeichnen sich die hier in Frage stehenden Vorlesungstexte durch eine ausgesprochen problematische Überlieferung aus, sind wir als Leser von der Rezeptionssituation der damaligen Hörer denkbar weit entfernt. Der Text der Jenaer Vorlesungen zur „Kunstlehre“ beruht auf einer von dem Philosophen Karl Christian Friedrich Krause abgeschriebenen und kommentierten Vorlesungsmitschrift des damaligen Studenten (und späteren Landshuter Philosophie-Professors) Friedrich Ast – doch auch Krauses Handschrift ist verschollen und die Textkonstitution musste sich auf die 1911 erschienene Erstausgabe berufen. Die 1827 in Berlin gehaltenen Vorlesungen über Theorie und Geschichte der bildenden Künste wiederum sind in der Mitschrift Friedrich Försters überliefert, die dieser in Absprache mit Schlegel zeitnah publizierte. Die umfangreichen Berliner Vorlesungen basieren hingegen auf Schlegels vielfach selbst annotiertem Vorlesungsskript – das zweifellos vom tatsächlich vorgetragenen Text vielfach abweicht. Diesen textgenetisch schwierigen Umständen begegnet Herausgeber Stefan Knödler etwa dadurch, dass er die von Schlegel mutmaßlich vorgetragenen Auszüge aus Primärtexten von Homer bis hin zu dem eigenen, Fragment gebliebenen Rittergedicht „Tristan“ ausführlich zitiert.

Wenn uns auch die syntaktischen und semantischen Übergänge zwischen Schlegels mündlich viel ausführlicheren Redetexten fehlen, so benennt und erschließt der Stellenkommentar doch erstmals ausführlich Schlegels Lektüren. Knödler weist wohl auch als Erster darauf hin, dass anders, als man Schlegel immer wieder vorgeworfen hat, die Vorlesungen über weite Strecken auf eigenen Studien und Vorarbeiten beruhen. Knödler bekräftigt, was die Forschung in den vergangenen Jahren teils schon zeigen konnte: Der Nukleus von Schlegels Ästhetik und Gattungspoetik liegt schon in Jena vor. Zugleich werden seine Gewährsleute so präzise und detailreich benannt wie noch nie zuvor. Ohne die Leistungen August Wilhelm Schlegels geringschätzen zu wollen, kann man seine Vorlesungen in gewisser Weise als Gemeinschaftsprodukt des Jenaer Freundeskreises lesen. August Wilhelm ist nicht der Nachbeter seines Bruders, sondern sein Text entsteht vor dem Hintergrund vielfältiger Diskussionen und wechselseitiger Anregungen, bei denen Friedrich neben Schelling, Ludwig Tieck und dem viel gescholtenen Sprachwissenschaftler August Ferdinand Bernhardi Hauptrollen spielten. In den Berliner Vorlesungen liegt die ‚Summe‘ der Jenaer Frühromantik nach deren Ende vor.

Stefan Knödler hat unter Georg Braungarts Leitung das schwere Erbe Behlers übernommen und nach langwierigen Vorarbeiten einen Band vorgelegt, der uneingeschränktes Lob verdient. Nach dieser editorischen Großleistung, der drei weitere Bände mit den Bonner Vorlesungen hoffentlich bald folgen, wären die Wege der Rezeption und Bewertung von Schlegels Thesen zu verfolgen, das also, was der Romantikforscher Josef Körner bereits 1929 vor allem hinsichtlich der in viele Sprachen übersetzten, europaweit bekannt gewordenen Wiener Vorlesungen als Botschaft der deutschen Romantik an Europa bezeichnet hatte. In Berlin hatte Schlegel, sieht man von Bernhardi, vom Nordsternbund um Varnhagen und Friedrich de la Motte Fouqué einmal ab, wohl mehr Feinde als Anhänger – Feindschaften und Fehden, deren prominenteste die mit August von Kotzebue ist, gehörten freilich zum romantischen Geschäft. Neben Selbstrepräsentation und Selbsthistorisierung ist die polemische Ausgrenzung und Vernichtung eine heute gar nicht so romantisch anmutende Strategie der Romantiker. August Wilhelm Schlegel hätte sich vor lauter Polemik beinahe selbst abgeschafft, doch jetzt steht einer fairen Würdigung seiner Person kaum mehr etwas im Wege.

Titelbild

August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik 1798-1827. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Band II/2.
Hrsg. von Georg Braungart und Stefan Knödler, kommentiert von Stefan Knödler.
Schöningh Verlag, Paderborn 2016.
1003 Seiten, 189,00 EUR.
ISBN-13: 9783506757005

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch