Die Qualen einer Autorin

Sarah Khans „Das Stammeln der Wahrsagerin“ ist ein misslungenes Experiment

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Stammeln der Wahrsagerin lautet der kryptische Titel des neuen Buches von Sarah Khan. Erst der Untertitel lässt erkennen, was der Leser erwarten darf: Unglaubliche Geschichten hinter Kleinanzeigen. Der Klappentext erläutert weiter, dass die Autorin rege eBay-Kleinanzeigen nutze, und „sie stellt fest: Hinter diesen Anzeigen verbergen sich Menschen.“ Diese Feststellung ist so trivial und mit unfreiwilliger Komik behaftet, dass sie Neugierde auslöst. Hernach berichtet Sarah Khan von zu verschenkenden Sofas, Fliesen oder Edelstahlpfannen, neuen Schuhen, einem ungetragenen Brautkleid und einer Pferdebuch-Sammlerin. Sie wird „von einer Mutter durch das Schlafzimmer ihres toten Sohnes geführt“. Seit Monaten verkauft diese Stück für Stück den Besitz des Verstorbenen. Sie trifft auf geizige, neugierige oder verschlossene, verlassene und gescheiterte Menschen.

Sarah Khan wird so Zeugin von Verzweiflung, Trauer und Einsamkeit. Ganz im Sinne Walter Benjamins erkennt sie den Phänotyp des Sammlers als zutiefst melancholische Figur, dem „das Sammeln eine Strategie ist, um der Melancholie zu entgehen.“ Doch sogleich verliert sie die soziale Sensibilität und ulkt: „Ein elegantes Wort, Melancholie, in Berlin heißt das wohl eher ‚den Depri schieben‘“. Ohne Empathie beobachtet sie die Leidenschaft derer, die Tant über eBay kaufen und verkaufen. Die Autorin fragt sich, warum es so schwierig für die Pferdebuch-Sammlerin ist, einmal Urlaub zu machen und Berlin zu verlassen, obwohl ihre Sammlung ihr Leben zu ersticken droht. Bevor die Überlegungen an Tiefe gewinnen können, wird die Abfolge der Kleinanzeigen-Kurzgeschichten nach 66 Seiten jäh unterbrochen: Es beginnt die Geschichte von „Affen-Walter“. Auf den folgenden 57 Seiten erzählt Sarah Khan vom Leben des Affenwärters Kurt Walter vom Berliner Zoo. Den Ausgangspunkt stellen zwar zum Verkauf angebotene Fotos aus „Affen-Walters Privatnachlass“ dar, weshalb dann Sarah Khan jedoch stakkatohaft durch das komplette Leben des Tierwärters springt, chronologisch nach Jahreszahlen sortiert und immer wieder unterbrochen von kurzen Blicken auf die deutsche Geschichte vom Nationalsozialismus über Grundgesetz und Mauerbau bis heute, bleibt völlig unklar. Die bizarre Mischung von Tierwärter-Geschichte, dem Berliner Menschenaffenhaus als einem „Zentrum der westlichen Welt“ und erschreckend oberflächlichen Blicken auf die Politik („Der Bundeskanzler und ‚Kommunistenfresser‘ Konrad Adenauer fährt nach Moskau, um wieder diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen.“) hat mit „Unglaublichen Geschichten hinter Kleinanzeigen“ nichts zu tun. Immer weiter entfernt sich die Autorin nach dem narrativen Bruch von den Kleinanzeigen, von den Fotos, die „Affen-Walter“ und seine Frau mit prominenten Zoo-Besuchern zeigen. Der Einschub „Der Affenwärter von Westberlin“ gleicht dem ersten, groben Konzept eines separaten Buches über die Geschichte des Berliner Zoos, darüber, welche prominenten Besucher das Affenhaus sah und über deren Bedeutung für die deutsche Geschichte.

Als das Manuskript noch nicht zur Hälfte fertiggestellt war, überließ sich die Autorin einer Wahrsagerin, weil das Buchprojekt „seelisch immer aufwühlender“ wurde. Auch über den Besuch bei der Wahrsagerin und das Legen der Tarotkarten folgt ein ausführlicher Bericht. Der Leser wird gezwungen, die Probleme, mit denen die Autorin während der Arbeit an ihrem Buch zu kämpfen hatte, nachzuempfinden. Denn sie kehrt immer wieder zu den Qualen zurück, die ihr Recherche und Schreiben bereiteten, sowie zu dem Druck, den ihr das „unfertige Buch […] mit Verlagsvertrag“ machte. Das ihrem Buch den Titel gebende letzte Kapitel „Das Stammeln der Wahrsagerin“ lässt einen Blick auf die ungeschriebenen Geschichten zu. Sarah Khan betont, sie habe noch viele weitere „trauernde, rachsüchtige, interessante, großartige, einsame Menschen“ getroffen. Von diesen Geschichten hätte das Buch mehr verdient. Doch die Autorin konnte sie nicht schreiben. Was beispielsweise hinter dem Mann steckt, der seine Sammlung von Andenken aus der ganzen Welt verkaufte, bleibt im Verborgenen, denn „er lebte inmitten dichtester Räucherstäbchen-Schwaden, die mich vertrieben“.

Das Stammeln der Wahrsagerin weist letztlich eine zirkuläre Struktur auf. Die narrative Verbindung der einzelnen Geschichten ist die Beschreibung der Recherchetätigkeit Khans – und das Klagen. Es beginnt damit, dass die Autorin den Verkäufer eines Sofas – sattsam mit Ironie ausgestattet – als „bestürzend emotional“ wahrnimmt. Für interessante Geschichten brauche es Nähe, aber diese sei „so tückisch“ und „höllisch anstrengend“, klagt die Autorin im letzten Kapitel. Das Experiment, ein Buch über die Geschichten zu schreiben, die sich hinter Kleinanzeigen verbergen, muss daher als gescheitert betrachtet werden. Dass eBay-Kleinanzeigen aber die Möglichkeit bieten, spannende Geschichten aufzuspüren, ist nach der Arbeit Sarah Khans offenkundig. Die wahren Schätze bleiben verborgen. Ob sie je gehoben werden und wem ein wirklich intensiver und kundiger Blick hinter die Kulissen der eBay-Angebote gelingt, bleibt abzuwarten.

Titelbild

Sarah Khan: Das Stammeln der Wahrsagerin. Unglaubliche Geschichten hinter Kleinanzeigen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
173 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783518467312

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