Irrfahrten durch die Sowjetgeschichte
Andrej Kurkows satirischer Roman „Die Welt des Herrn Bickford“
Von Manfred Roth
Im Vorwort zum bereits Anfang der 1990er-Jahre auf Russisch erschienenen Roman Die Welt des Herrn Bickford gibt der ukrainische Autor Andrej Kurkow an, sein Ziel sei es gewesen, den Sowjetmenschen darzustellen, ihn mit all seinen Widersprüchen zu zeigen, um so einen Hinweis, vielleicht sogar eine Erklärung zum gegenwärtigen Zustand Russlands zu geben. Die „Gegenwart“, die Kurkow bei der Niederschrift im Blick hatte, ist heute, 2017, da der Roman zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung vorliegt, bereits ein Vierteljahrhundert alt und man kann sich fragen, inwiefern er diese späte Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum tatsächlich verdient. Hat seine Veröffentlichung eher damit zu tun, dass Verlage momentan auch aufgrund der politischen Spannungen zu Russland besonders an Autoren aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion interessiert sind?
Der Titel des Romans verweist auf William Bickford, der als (geträumte) Figur am Rande vorkommt, den englischen Erfinder der Zündschnur für Dynamit, die er eigentlich ersonnen hatte, um die Zahl der Unfallopfer bei unkontrollierten Sprengungen im Bergbau zu reduzieren, und doch gilt die Zündschnur als ein negativ besetztes Symbol der Zerstörung, auch im Roman. Die Hauptfigur, der Untermatrose Charitonow, treibt zunächst auf einem manövrierunfähigen Frachter voller Dynamit im Japanischen Meer, bevor er sich entschließt, sich mitsamt einer nie endenden Zündschnur auf den Weg quer durch die Sowjetunion zu machen, zum einen, um in Erfahrung zu bringen, ob der Krieg vorbei ist, zum anderen, um jemanden zu finden, der sich um die gefährliche Fracht kümmert. Einen weiteren Handlungsstrang bilden eine meist nur „Fahrer“ genannte Figur und sein Begleiter Gorytsch, die auf einem Scheinwerferwagen durch eine apokalyptische Welt scheinbar ewigen Krieges und nie endender Dunkelheit fahren. Andrej Kurkow selbst schreibt im Vorwort, sein Roman spiele zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Kubakrise, doch so wirklich vorbei ist der Krieg in dieser Welt für die meisten Figuren nicht. Nicht für die Inhaftierten Orchestermusiker im Musiker-Gulag, im so genannten „Musilag“, nicht für den Oberst, der sich von Feinden umzingelt glaubt und mit einem letzten getreuen Soldaten einen Hügel hält. Natürlich wirkt das in erster Linie komisch, die Figuren schrullig und weltfremd, doch nicht erst als gegen Ende des Romans ein Gefangener exekutiert wird, zeigt sich unter der heiteren Oberfläche des Absurden die Bedrohung. Und auch Charitonow wird irgendwann seine Zündschnur entzünden und der Welt ein Ende machen wollen – die Welt des Herrn Bickford ist eine, die immer am Abgrund taumelt, eine Romanwelt, nicht unähnlich der Welt, in der unbesonnene Politiker jeden Augenblick mit einem Knopfdruck die gesamte Menschheit ausradieren können. „Der Feind schien durchsichtig und gesichtslos zu sein, mit anderen Worten: Es gab ihn einfach nicht, aber seine erfundene Präsenz rettete die Menschen vor einer Welt, von der sie sich entfremdet hatten, so mussten sie niemandem vertrauen“, heißt es an einer Stelle. Das Gefühl einer permanenten Bedrohung als Macht- und Kontrollinstrument erinnern an Georg Orwells dystopisches 1984 und an reale autoritäre Systeme – und mittlerweile auch an Staaten, die als demokratisch gelten.
Manche Handlungsstränge und Motive sind zunächst sehr präsent und verlieren sich dann, etwa Charitonows Begeisterung für Luftschiffe oder die anfänglich allgegenwärtigen Zigarettenmarken. Damit wird das Panoramatische, Episodenhafte der Handlung zusätzlich auf einer motivischen Detailebene nachgebildet. Die für die Satire typische Darstellung einer Reise, mit ihren jeweiligen Stationen, die durch räumliche Zusammenhänge in Beziehung stehen, weniger durch handlungsrelevante Bezüge, ist in allen Erzählsträngen vorherrschend. Der Roman ist Satire, indem er überspitzt und übertreibt, oft ins Fantastische und logisch Unmögliche abgleitet und damit hervorragend unterhält. Auch die für die Satire kennzeichnende, etwas naive Hauptfigur ist in Charitonow verwirklicht, der aufgrund seiner Unbedarftheit ausgesprochen sympathisch gezeichnet ist.
Vielleicht kann man an dem Roman bemängeln, dass sich bei der Lektüre hin und wieder das Gefühl einstellt, dass sich manche Allegorie geradezu aufdrängt und nicht unbedingt subtil ist, denn natürlich stellt sich bei dem Bild des Luftschiffes die Vorstellung einer „abgehobenen“ herrschenden Klasse ein und dass in ihm zwar ein Lenker sitzt, sein Flug aber hauptsächlich vom Wind bestimmt wird, ist Sinnbild für einen Staat, den eigentlich der Zufall regiert. (Im Übrigen handelt es sich bei dem Steuermann um Nikita Chruschtschow, dem ehemaligen Präsident der Sowjetunion, der 1954 in einer Art Sektlaune die Halbinsel Krim der Ukraine zugesprochen hatte.) Wenn im Roman die Stimme aus dem Radio für verschiedene Regionen der Sowjetunion unterschiedliche Jahreszahlen nennt, verweist das natürlich darauf, dass in verschiedenen Gegenden dieses Riesenreiches die Uhren anders ticken. Und doch lassen sich manche Bilder und Motive nicht so ohne Weiteres eins zu eins als politische Allegorie lesen, sondern irritieren.
Etwa kommt Charitonow, wie er selbst verkündet, irgendwann ohne Nahrung aus, oder der Scheinwerferwagen fährt ohne Treibstoff immer weiter durch die Dunkelheit. Man kann sich fragen, warum der Roman diese Losgelöstheit von den Zwängen der Wirklichkeit immer wieder so explizit ausstellt. Womöglich verweist er damit auch auf sein eigenes Medium, auf Literatur selbst, von der, vor allem wenn es sich um „realistische“ handelt, verlangt wird, ein getreues Abbild der Wirklichkeit zu liefern, wie sie etwa vom sozialistischen Realismus in der Sowjetunion gefordert worden ist. Als Kurkow den Roman verfasste, war der Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht allzu lange her. Gut möglich, dass dieser explizite Bruch mit der Realität im Roman eine Strategie ist, sich einer vereinfachenden politischen Vereinnahmung zu entziehen und sich bewusst in Opposition zur untergegangenen sowjetischen Kunstdoktrin zu stellen.
Schließlich bleibt noch die Frage zu klären, wie er denn nun ist, der Sowjetmensch, den Kurkow erklärtermaßen abbilden wollte. Bereits die Fragestellung erinnert an die ähnlich gelagerte Frage nach der viel beschworenen „russischen Seele“, die als Erklärung für so manches herhalten muss und die letztlich darauf abzielt, einen unerschütterlichen, wahren und unveränderlichen Nationalcharakter zu konstruieren, der nicht in Frage gestellt werden kann, weil von ihm behauptet wird, es handele sich um eine objektive Tatsache. Glücklicherweise konstruiert Kurkow seinen Sowjetmenschen dann doch nicht ganz so eindimensional, auch wenn die meisten Figuren im Roman einen gewissen Mangel an Eigeninitiative an den Tag legen und sich nur allzu gerne auf Obrigkeiten verlassen, die ihnen sagen, was zu tun und zu lassen ist. Und sei die Situation auch noch so grotesk und ihre Lage trostlos, lieber ertragen sie sie weiterhin, als etwas Neues zu wagen und womöglich alles nur noch schlimmer zu machen.
Dass der österreichische Haymon Verlag, der sich bereits seit einigen Jahren Andrej Kurkows Romanen und Essays annimmt, nun auch Die Welt des Herrn Bickford veröffentlicht, ist ein Glücksgriff, und zu Recht scheint das Interesse an Literatur aus den ehemaligen Sowjetstaaten momentan besonders groß, finden sich doch zahlreiche lesenswerte Romane unter den Neuerscheinungen der letzten Zeit, etwa Die Welpen des vergessenen russischen Expressionisten Pawel Salzman, Andrej Platonows Die Baugrube oder auch Mova des weißrussischen Gegenwartsautors Viktor Martinowitsch.
Andrej Kurkows Die Welt des Herrn Bickford gehört mit Sicherheit zu dieser Riege lesenswerter Romane und ist vor allem deswegen eine Entdeckung, weil es sich um einen vielschichtigen, klugen Roman handelt, der einerseits gut unterhält, andererseits ausgesprochen politisch ist, aber Literatur nicht als bloßes Sprachrohr zur Verbreitung politischer Ideen versteht, sondern bewusst die Irritationen und Brüche einer Kunst nutzt, die mehr sein will und kann als bloß Sklavin einer vermeintlichen Wirklichkeit zu sein.
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