Genialität und Wahnsinn

Zum 225. Todestag von J.M.R. Lenz

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Jakob Michael Reinhold Lenz war ein hervorragender Vertreter des Sturm und Drang, vor allem als begnadeter Dramatiker ist sein Ruf heute unbestritten. Er stand jedoch zeitlebens im Schatten Johann Wolfgang Goethes und blieb seinen Zeitgenossen weitgehend unbekannt. Zu Unrecht wäre er fast dem Vergessen anheimgefallen, hätte sich Georg Büchner 1835 mit seiner Novelle Lenz nicht seinem tragischen Schicksal gewidmet und dem „unglücklichen Poeten Namens Lenz“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Das novellistische Porträt beginnt mit dem klassischen (fast schon legendären) ersten Satz „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg“ und ist ein Psychogramm des psychisch kranken Dichters. Büchner beschreibt dabei den 20-tägigen Aufenthalt von Lenz im elsässischen Steintal, wo er sich bei dem Pastor und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin aufhält, um einen Ausbruch seiner Schizophrenie zu verhindern. Zunächst bessert sich sein Zustand, auch durch die beruhigende Atmosphäre in dem Pfarrhaus. Nachdem der Unglückliche aber mehrfach rastlos durch das Gebirge auf beschwerlichen Wanderungen streift, entfernt er sich wieder von der Realität. Als sein Wahnsinn endgültig ausbricht, schickt Oberlin den „bedauernswürdigen Patienten“ wieder nach Straßburg zurück. In seinem grandiosen Seelengemälde lässt Büchner neben der fortschreitenden psychischen Erkrankung aber auch die Genialität des verwirrten Dichters durchblitzen.

Doch zurück zu J.M.R. Lenz, der am 12. Januar (23. Januar greg.) 1751 in Seßwegen in Livland (heute Cesvaine, Lettland) – 150 km östlich von Riga – als viertes Kind des deutschstämmigen Pfarrers und späteren Superintendenten Christian David Lenz (1720–1798) und der Pfarrerstochter Dorothea, geb. Neoknapp († 1778), zur Welt kam. Russland hatte Livland während des Großen Nordischen Krieges (1700–1725) von Schweden erobert und zu einem Gouvernement des Russischen Reiches gemacht. Während der Provinzadel mit der Rückgabe der Güter Selbstverwaltungsrechte erhielt, gerieten die Geistlichen und Bauern wieder in die Gutsuntertänigkeit.

Der Vater ist ein angesehener Theologe des Pietismus, aber ein rechthaberischer Gläubiger, der in seinen Amtsjahren ständig in Streitigkeiten mit der Stadt und seinen Bürgern, die er „Rebellen und Meutereymacher“ nennt, liegt. Von seinen Kindern verlangt er ebenfalls mit harter Knute unbedingten Gehorsam, widmet sich aber aufopferungsvoll ihrer Erziehung und Bildung. Dieses väterliche Über-Ich, das die gottgewollte Ordnung repräsentierte, sollte den sensiblen Jungen ein Leben lang verfolgen. 1759 siedelt die Familie Lenz nach Dorpat (heute Tartu, Estland) über, wo der Vater Oberpastor wird und der Junge die dortige Lateinschule besucht. Der frühreife Schüler schreibt bereits erste Gedichte und Dramenversuche, zum Beispiel Der verwundete Bräutigam (1766) zur Hochzeit eines Bekannten.

Mit einem beschränkten Stipendium der Stadt Dorpat in der Tasche (aber trotzdem auf väterliche Zuschüsse angewiesen) geht Lenz im Herbst 1768 zum Theologiestudium nach Königsberg. Er beschäftigt sich dort aber mehr mit Literatur und übersetzt William Shakespeare und den römischen Dichter Plautus. Darüber hinaus besucht Lenz die Vorlesungen Immanuel Kants über Logik und Metaphysik, der ihn auch zur Lektüre der Schriften des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau anregt. Während des Studiums entsteht sein erstes dichterisches Werk Die Landplagen, ein Gedicht in sechs Büchern (Krieg, Hunger, Pest, Feuers- und Wassernot, Erdbeben) über die Katastrophen im bäuerlichen Leben. Lenz hat das Versepos mehrfach überarbeitet und 1769 in Königsberg als Buch herausgebracht. Ein besonders schön gebundenes Exemplar schickt er (oder der Vater) mit einer Widmung versehen an Katharina die Große.

Der Vater indes drängt (vor allem aus finanziellen Gründen) auf einen schnellen Abschluss des Studiums, auf eine sofortige Rückkehr nach Livland (er setzt dem Sohn sogar einen Termin), um dort mittelfristig eine Landpfarre zu übernehmen. Doch Jakob hat inzwischen andere Zukunftspläne – die Literatur steht ihm längst näher als die Bibel. Er packt die erstbeste Gelegenheit beim Schopfe, um sich der Bevormundung des Vaters zu entziehen, bricht das Theologiestudium ab, kehrt aber nicht nach Livland zurück, sondern begleitet im Frühjahr 1771 die beiden livländischen Adligen Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist als „Mentor“ (Gesellschafter) nach Südwestdeutschland. Dem Vater gegenüber spricht er von einer Fortsetzung des Studiums in Straßburg, doch dieser ahnt oder weiß längst, dass Jakob ein „verlorener Sohn“ ist. Diesen Ungehorsam wird er dem Sohn, in den er so viel Hoffnung gesetzt hat, später nie verzeihen.

Gegen Ende Mai in Straßburg angekommen, trifft Lenz auf Gleichgesinnte, den um eineinhalb Jahre älteren Goethe und andere Sturm-und-Drang-Dichter wie Heinrich Leopold Wagner oder Johann Heinrich Jung-Stilling. Obwohl die Bekanntschaft mit Goethe nur etwa zehn Wochen dauert (Goethe kehrt Anfang August zu den Eltern nach Frankfurt zurück), wird er nicht nur zu einem vertrauten Freund sondern auch zu seinem großen Vorbild. Goethe nennt Lenz später „einen trefflichen Jungen, den ich wie meine Seele liebe“. Nach Goethes Abreise bleiben beide in intensiver brieflicher Verbindung, wobei der Briefwechsel nur noch bruchstückhaft überliefert ist. Lenz umwirbt die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion (1752–1813), die vormalige Freundin Goethes, die aber seine Gefühle nicht erwidert.

Mit seinen beiden Dienstherren von Kleist reist Lenz von einer Garnison zur nächsten (Landau, Fort Louis und Weißenburg), unterbrochen von Aufenthalten in Straßburg. Dennoch sind diese Jahre der Beginn einer äußerst produktiven Phase, in der sich sein ganzes literarisches Schaffen zusammendrängen wird. Sein programmatischer Essay Anmerkungen übers Theater nebst angehängtem übersetzten Stück Shakespears (1774) wird zu einer Hauptschrift des Sturm und Drang. Die Bearbeitungen Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater erscheinen in Leipzig und Frankfurt. Auch die Tragikomödie Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung entsteht, wobei erste Fassungen wahrscheinlich auf die Königsberger Zeit zurückgehen, denn zahlreiche Details sind seiner eigenen Hauslehrertätigkeit in Königsberg nachgebildet. In dem gesellschaftskritischen Stück, das 1774 bei Goethes Verleger Weigand in Leipzig anonym erscheint, wendet sich Lenz gegen das in Adelskreisen verbreitete Hofmeistertum (Hauslehrer) und plädiert für die Einrichtung öffentlicher Schulen. Geschildert wird das Schicksal des devoten und schlecht bezahlten Hofmeisters Läuffer, der sich mit Selbstkastration straft, weil er die Tochter des müßiggängerischen Gutsherrn Major von Berg geschwängert hat.

Erst vier Jahre später (1778) wird der Hofmeister in Hamburg (in einer Bühnenfassung des Theaterdirektors Friedrich Ludwig Schröder) uraufgeführt, später folgen Aufführungen in Berlin und Mannheim. Von der Kritik wird das Stück – übrigens die einzige zeitgenössische Aufführung eines Lenzʼschen Dramas – begeistert aufgenommen und sogar Goethe zugeschrieben, der sich ebenfalls 1774 mit seinem Götz von Berlichingen den Ruf eines „deutschen Shakespeare“ erwirbt. Beide Stücke sind die wichtigsten dramatischen Werke der frühen Sturm-und-Drang-Dramatik. Im Gegensatz zu Goethe hat es Lenz jedoch gewagt, die sozialen und kulturellen Verhältnisse seiner Zeit schonungslos auf die Bühne zu bringen. Diese konkrete Gesellschaftskritik findet in der deutschen Dramatik des 19. Jahrhunderts (Schiller, Kleist, Grillparzer, Grabbe, Hebbel, Wagner) jedoch kaum eine Fortsetzung – mit Ausnahmen wie Georg Büchner und später Gerhart Hauptmann.

Im Herbst 1774 kehren die Brüder von Kleist nach Livland zurück, und für Lenz setzen sich damit die materiellen Sorgen fort. Er arbeitet zwar als freier Autor, aber von der Schriftstellerei allein kann er nicht leben, und so muss er seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht verdienen. Trotz dieser Misere entstehen weitere Werke wie die Komödie Der neue Mendoza (1776), die Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie (1776) oder die autobiografische Arbeit Moralische Bekehrungen (1775).

Das ebenfalls im Jahr 1775 verfasste Drama Die Soldaten ist ein zweiter Höhepunkt in seinem kurzen literarischen Schaffen, mit dem er auf drastische Weise die Wirklichkeit auf die Theaterbühne holt. Das realistische Zeitstück ist ein satirischer Angriff auf die Sittenlosigkeit des adligen und hochmütigen Offizierskorps, in dem Lenz auf eine authentische Geschichte aus seiner Zeit als Hofmeister bei den Kleist-Brüdern zurückgreift. Mit dem entehrten Bürgermädchen Marie Wesener, die zu einer gewerbsmäßigen Dirne herabsinkt, prangert Lenz die damalige Sexualmoral an. Dabei wird dem Zuschauer drastisch vor Augen geführt, wie der „ehlose Stand der Herren Soldaten“ zwangsläufig Männer hervorbringt, die viele Mädchen ins Unglück stürzen, weil sie in ihnen lediglich Objekte ihrer Begierde sehen. In einer Denkschrift Über die Soldatenehen (1776) fordert er daher die Aufhebung des Eheverbots für Soldaten, um ihnen ein bürgerliches Leben zu ermöglichen.

Ein großer Haufen Unglücklicher, die mehr wie Staatsgefangene als wie Beschützer des Staates behandelt werden, denen ihr Brod und ihre Schläge täglich zugemessen sind, denen außer den verbotenen Freuden – die ihr am Ende doch bestrafen müßt, um nicht aus eurem Staat eine Mördergrube zu machen, das heißt seinen und euren Untergang vor Augen zu sehen – fast keine unschuldige Freude des Lebens übriggelassen ist –: aus denen wollt ihr eure Verteidiger machen?

Während der Straßburger Jahre entsteht neben einigen theologischen, moralphilosophischen und sozialreformerischen Schriften auch der Briefroman Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden – das literarische Gegenstück zu Goethes Bestseller. Kritiker glauben, dass Lenz hier die Entfremdung zwischen Goethe und ihm thematisiert hat. Übrigens wird Goethe das Fragment 1797 – fünf Jahre nach dem Tod des Dichters – in der Zeitschrift „Die Horen“ veröffentlichen. Außerdem wird Lenz Mitglied der 1775 gegründeten Straßburger „Deutsche Gesellschaft“, die das Nationalbewusstsein durch die Beförderung der deutschen Sprache stärken will. Mitte März 1776 verlässt der 25-jährige jedoch Straßburg. Sind es finanzielle Sorgen („Ich sitze mitten in der Noth“) oder Enttäuschungen? Eine Rückkehr nach Livland kommt für ihn nicht in Frage. Er will nach Weimar – zu Goethe. Im aufgeklärten Weimarer Fürstenhof, der den schönen Künsten gewogen ist, sieht er einen Ausweg aus seiner misslichen Lage. Über die Stationen Mannheim, Darmstadt, Frankfurt am Main (einige Tage bei Goethes Eltern), Gotha und Erfurt kommt er Anfang April mit der Postkutsche in der Ilmstadt an.

Alles beginnt verheißungsvoll. Lenz wird freundschaftlich, ja begeistert in Weimar aufgenommen, man reicht ihn regelrecht herum. Goethe stellt sein „Lenzchen“ – so nennt er Lenz wegen dessen zierlicher Figur – Christoph Martin Wieland, Frau von Stein und dem jungen Herzog Karl August vor. Lenz ist voller Zuversicht („Wieland, Goethe und ich leben in einer seligen Gemeinschaft“) und hofft insgeheim auf eine Offiziersstelle in der Armee des Herzogs, der ihn vorerst finanziell versorgt. Um Ruhe für seine schriftstellerischen Arbeiten zu finden, zieht sich Lenz im Sommer aufs Land in das kleine Städtchen Berka zurück, besucht aber regelmäßig die Weimarer Freunde. Ende November 1776, ein halbes Jahr nach seinem herzlichen Empfang in Weimar, kommt es zu Spannungen zwischen Goethe und Lenz. Was ist passiert? Bis heute wird darüber spekuliert. Ist der Feuerkopf Lenz der gerade beginnenden feudalbürgerlichen Karriere Goethe im Weg? Dieser vermerkt in seinem Tagebuch nur lapidar „Lenzens Eseley“. Goethe lässt beim Herzog die sofortige Ausweisung verfügen. Alle Rechtfertigungen helfen nicht, Lenz muss am 1. Dezember Weimar verlassen.

Doch wohin? Seine Hoffnungen sind jäh zerplatzt, er fühlt sich „ausgestossen aus dem Himmel“. Gedemütigt und völlig mittellos. Er ist seelisch krank, es zeigen sich erste Anzeichen einer geistigen Verwirrtheit. Mitten im Winter geht es retour auf dem Weg, auf dem er im Frühjahr hoffnungsvoll nach Weimar gekommen ist. Bei Goethes Schwester Cornelia und ihrem Mann Georg Schlosser in Emmendingen findet er zunächst Aufnahme und schreibt in wenigen Wochen die Erzählung Der Landprediger, die mit den Worten beginnt: „Ich will die Geschichte eines Menschen erzählen, der sich wohl unter allen möglichen Dingen dieses zuletzt vorstellte, auf den Flügeln der Dichtkunst unter die Gestirne getragen zu werden.“

Vielfach wird der Text mit seinen biografischen Bezügen, der noch 1777 im „Deutschen Museum“ erscheint, als literarische Abrechnung seiner Ausweisung aus Weimar interpretiert. Von Mitte August bis November weilt Lenz bei dem Schweizer Schriftsteller und Theologen Johann Kaspar Lavater. Der Aufenthalt endet mit Meinungsverschiedenheiten. Wieder kein Boden unter den Füßen, es kommt zu neuen schizophrenen Schüben. Im Januar 1778 versucht der psychisch kranke Lenz bei Pfarrer Oberlin im elsässischen Waldersbach Ruhe zu finden. Der Unglückliche, gerade einmal 27 Jahre alt, unternimmt zahlreiche Selbstmordversuche und wird immer rastloser: Straßburg – Emmendingen (Cornelia ist inzwischen verstorben). Die Anfälle sind jetzt so heftig, dass ihn Schlosser sogar ans Bett ankettet und in Erwägung zieht, Lenz ins Frankfurter Tollhaus zu bringen. Lenz wird zur Belastung, er wird für einige Monate bei einem Arzt in Hertingen untergebracht. Schlosser, inzwischen wieder verheiratet, nimmt Kontakt mit dem Vater in Livland auf, der jedoch ausweichend („mit langen Predigen“) antwortet. Schließlich wird Jakob von seinem jüngeren Bruder Karl abgeholt, der ihn unter großen Schwierigkeiten (darunter längere Fußmärsche) zunächst nach Lübeck und dann per Schiff nach Riga (Ankunft am 23. Juli 1779) bringt, wo der Vater gerade zum Generalsuperintendent von Livland berufen wird. Da die Mutter bereits ein Jahr zuvor verstorben ist, hat sich der Vater wieder vermählt. Vor über zehn Jahren hatte Jakob sein Elternhaus verlassen, nun die glückliche Rückkehr des verlorenen Sohnes. Doch mitnichten: Was hat Lenz denn vorzuweisen? Dramen, Erzählungen, Gedichte und Essays … das zählt in den Augen des Vaters nicht. Vielmehr sieht er in der Krankheit seines Sohnes die Strafe Gottes für seinen Ungehorsam.

Lenz ist jetzt nicht einmal 30 Jahre alt, innerhalb von sechs Jahren hat er ein Werk geschaffen, einzigartig in der deutschen Literatur – ihm bleiben noch weitere zwölf Jahre. Eine Fortsetzung der Genialität? Getrennt von den literarischen Mitstreitern und mit seiner psychischen Erkrankung? Zunächst verbessert sich sein Gesundheitszustand und Lenz entschließt sich im Januar 1780, nach Petersburg zu gehen. Der Versuch, dort eine Anstellung als Hofmeister zu finden, schlägt jedoch fehl – ebenso der Plan, Seekadett in Kronstadt zu werden. Wieder eine Enttäuschung. Und so ist er im Herbst 1780 wieder in Livland und erhält tatsächlich eine Anstellung als Hofmeister auf einem Landgut. Aber bereits einige Wochen später schleicht er sich davon. Danach verliert sich seine Spur für Monate, wahrscheinlich ist er in dieser Zeit ziellos herumgeirrt. Ein flüchtiger Gast, in den Dörfern seiner Kindheit, in Gutshäusern, und immer weiter. Lenz ist ein „Landläuffer“ geworden.

Im März 1781 taucht Lenz wieder für ein Vierteljahr in Petersburg auf, kann dort aber nicht Fuß fassen. „Von allen Seiten“ rät man dem Verzweifelten, nach Moskau zu gehen. Petersburg ist die Zarenmetropole an der Newa, Moskau dagegen hat sich seit der Gründung der Universität (1755) zu einem Geisteszentrum der beginnenden Aufklärung in Russland entwickelt. Lenz hat Glück und wird im Haus des Historikers Gerhard Friedrich Müller aufgenommen. Sein Leben scheint in etwas ruhigere Bahnen zu kommen. Es folgen verschiedene Hofmeistertätigkeiten sowie eine Stelle an einer öffentlichen Schulanstalt, wo er pädagogische Reformvorschläge (darunter auch fixe Ideen) macht. Sogar literarisch betätigt er sich wieder, meist überarbeitet er frühere Arbeiten. 1782 erscheint sein Drama Die Sizilianische Vesper (mit der Gattungsbezeichnung „Ein historisches Gemälde“) im „Liefländischen Magazin der Lektüre“. In der Zeitschriftenredaktion schätzt man inzwischen seine Mitarbeit. Lenz lernt Russisch und wagt sich an Übersetzungen (zum Beispiel Übersicht des Russischen Reiches von Sergei Plechtschejew). Weiterhin erscheinen in Moskau Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti und Shakespeares Julius Cäsar in der russischen Übersetzung von Lenz.

Wiederholt versucht Lenz, Kontakte zu den einstigen Mitstreitern in Deutschland zu knüpfen. Vergebens – so werden in den Moskauer Jahren die Freimaurer und der junge Dichter Nikolai M. Karamsin zu wichtigen Bezugspersonen. Letzterer sucht auf einer Westeuropa-Tour (1789–90) Dorpat und einige Lebensstationen seines Freundes in Deutschland auf. Lenzʼ Aktivitäten und Bekanntschaften in Moskau täuschen jedoch, seine Krankheit kennt keinen Stillstand. Zu den Krankheitsschüben ist eine allgemeine körperliche Schwächung gekommen: Angstzustände, Verwirrtsein und ständig wechselnde Wohnstätten. Die Zeugnisse aus den letzten Jahren sind äußerst rar. Er soll in den Dörfern rund um Moskau herumvagabundiert sein, von Almosen adliger Gönner abhängig.

In der Nacht vom 23. zum 24. Mai (4. Juni greg.) 1792 wird Lenz auf irgendeiner Moskauer Straße gefunden. Der Dichter des Hofmeisters und der Soldaten tot im Straßendreck. Die Umstände sind bis heute nicht bekannt – ebenso wenig, wo er begraben wurde. Wahrscheinlich ist niemand seinem Sarg gefolgt. Ein unbekannter russischer Adliger soll die Kosten übernommen haben – für einen deutschen Dichter.

Von Wieland 1775 noch ein „Genie“ genannt, war J.M.R. Lenz und sein Werk in Deutschland bereits zu Lebzeiten in Vergessenheit geraten. Goethes Urteil, ein „vorübergehendes Meteor“, in Dichtung und Wahrheit trug dazu ebenso bei. So gab es Lenz-Veröffentlichungen im 19. Jahrhundert lediglich in bescheidenem Umfang. Erst 1909 kamen zwei Ausgaben seiner Gesammelten Schriften (vier beziehungsweise fünf Bände) heraus. Aber selbst nach dieser doppelten Resonanz blieb Lenz noch lange eine Randfigur in der deutschen Literaturgeschichte, meist abgetan mit wenigen Sätzen. Der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf nannte ihn 1911 sogar eine „Kuriosität“. Schließlich blieb es Bertolt Brecht vorbehalten, mit einer Bearbeitung des Hofmeisters für das Berliner Ensemble (1949/50) wieder auf den Dichter aufmerksam zu machen. 1968 folgte Heinar Kipphardt mit einer modernen Bearbeitung der Soldaten. Seitdem wird Lenz wieder verstärkt an deutschen Bühnen aufgeführt, auch das Musiktheater hat ihn entdeckt. In den letzten Jahren sind einige Lenz-Biografien erschienen, darunter von Herbert Kraft (2015) und von Sigrid Damm (1989), die auch als Herausgeberin einer dreibändigen Ausgabe seiner Werke und Briefe 1987 (Taschenbuchausgabe 2005) fungierte.

Jakob Michael Reinhold Lenz gehört zu den großen Unvollendeten der deutschen Literatur, zu den Gescheiterten, jung Verstorbenen. Er war wohl einer der Begabtesten unter den „Stürmer und Drängern“, der Klarsichtigste, aber auch der Tragischste. Der Wertschätzung seines letzten Vertrauten Karamsin „Wer sieht nicht … was er bis zum fünfundzwanzigsten Jahre geschrieben hat, die Morgenröte eines großen Genies? … Andere Umstände, und Lenz wäre unsterblich!“ ist nichts hinzuzufügen.