Wohl und Wehe der Heimat

Eine Anthologie vereint zeitgenössische und kanonische Lyrik und lotet Facetten eines spannungsreichen Konzeptes aus

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur wenige Begriffe dürften einen derart ambivalenten Eindruck machen wie der Heimat-Begriff. In Deutschland hat er spätestens seit der Zeit des Nationalsozialismus und völkischer Bewegungen seine Unschuld verloren. Doch rufen Flüchtlingsdebatten und die Bedrohungen durch terroristische Aktivitäten auch heute wieder Fragen auf, die mit Aspekten von Herkunft, Nationalität, Identität und Zugehörigkeit verwoben sind. „Heimat“ fungiert als Schlüsselwort, in dem diese Aspekte enthalten sind. Im Falle von Gedichten zum Thema Heimat lässt sich nun weniger eine definitorische Begriffsklärung erwarten. Vielmehr findet eine reflexive Auseinandersetzung mit Aspekten statt, die das gedankliche Konzept der Heimat begründen und ihre positiven wie negativen Seiten beleuchten.

Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in Form von Nora Gomringers Heimat, eines der ersten Gedichte in Anton G. Leitners eigens zusammengestellter Gedicht-Anthologie zum Thema Heimat. Die Verbundenheit zu den Menschen in der eigenen Heimat erzeugt Nähe, bedingt aber auch Observation. Es werden Erwartungen an das Subjekt gestellt. Neben dem Hinweis auf gefühlsbetonte Beziehungen ist von Momenten der Gewalt die Rede, etwa wenn auf die christliche Tradition und die Tötung und Auferstehung Jesu Christi verwiesen wird. Sie wird indes nicht nur selbst als von Gewalt geprägte Geschichte zitiert, sondern vom lyrischen Ich unmittelbar erlebt, sodass Gewalt Bestandteil der eigenen Kultur ist, aber zugleich die Gegenwart grundiert und prägt. Ferner finden sich dialektale Einschübe wieder – Sprache erscheint als etwas, das miteinander geteilt wird und Gemeinschaft stiftet, aber auch unzugänglich für außenstehende Personen bleiben muss. Als eine Essenz von Gomringers Gedicht können die Verse „Da leb ich nimmer/ Und bin doch immer da“ verstanden werden. Trotz aller kritischen Kommentare, die das Gedicht beinhaltet, lassen sich Herkunft und Verbundenheit nicht auflösen.

Zeitgenössischer Lyrik stellt Anton G. Leitner in seiner Auswahl kanonische Gedichte an die Seite, etwa Heinrich Heines berühmte Nachtgedanken zu Deutschland, Friedrich Nietzsches Vereinsamt, das als Klage des isolierten Philosophen-Subjekts gelesen werden kann, oder Verse von Joseph von Eichendorff und Bettina von Arnim. Damit wird eine literaturgeschichtliche Kontinuität in der Reflexion über Heimat ersichtlich. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob ein emphatischer Blick auf Heimat, wie ihn von Arnim mit den Versen „Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!“ entwirft, heutzutage nicht anachronistisch erscheinen muss. Landschaft und eigene Liebe sind hier von einer Unschuld, die zugleich staunen macht und die entfalteten Gedanken seltsam entrückt wirken lässt. Eine solche Beobachtung dient weniger als Beleg für eine Kritik an der Auswahl, sondern vielmehr als Hinweis auf eine historische Verschiebung – auf diese Weise ließe sich heutzutage wohl nicht mehr über Heimat schreiben.

Der Kontrast zwischen von Arnims Gedicht und einer zeitgenössischen Wahrnehmung, wie über Heimat zu schreiben sei, spricht vielmehr für eine gelungene Gegenüberstellung älterer und gegenwärtiger Texte. Schließlich wird mit den Bezügen zum Nationalsozialismus auch eine historische Zäsur im Umgang mit Heimat als Bestandteil mehrerer Gedichte erkennbar. Anne Breitenbach dichtet in Alte Geschichten: „SCHINDLER TRANSPORTE/ steht auf dem Lastwagen/ Worte und nichts weiter/ Namen Schall und Rauch“. Im Gedicht wird der Versuch offenkundig, die Gräuel des Nationalsozialismus zum Vergangenen zu rechnen und sich so von ihnen zu lösen. Die wörtliche Bezugnahme auf Oskar Schindler und Transporte, die an die Fahrten in die Konzentrationslager gemahnen, entlarvt den Modus des Sprechens als Vergessenheits-Rhetorik, in den die historische Referenz eingebettet ist und aus der sie zugleich monolithisch herausragt. Damit wird klar, dass Worte ihre Unschuld verloren haben und die historische Vergangenheit unhintergehbar ist. Anton G. Leitners eigener Beitrag KZ-Rosl knüpft daran an, wenn das Gedicht die persönlichen Verstrickungen in die nationalsozialistische Vergangenheit thematisiert. Auch hier gestalten sich die Versuche der Relativierung als Fehlschlag, da die Kontexte, die für Sprache, Namen und Personen entstanden sind, nicht aufzulösen sind.

Es ist ein Verdienst von Leitners Anthologie, dass der literaturgeschichtliche Querschnitt derartige Charakteristiken hervortreten lässt. Andererseits fällt auf, dass die Auswahl erst mit der Epoche der Romantik ansetzt und auch eine Innenperspektive auf nationalistisch gesinnte Literatur – die nicht beworben werden soll, aber immer auch kritisch gelesen werden kann, gerade im Gegensatz zu stark reflexiven Texten – hätte die Auswahl vollständiger erscheinen lassen. Stattdessen bilden die ausgewählten Texte Geschmack und Vorlieben des Herausgebers ab; die Sammlung lebt mehr von ihren Schwerpunkten und Akzenten als vom Bestreben, einen konsistenten Überblick über Gedichte zur Heimat zu liefern. Der intensive Blick in den Einzeltext fördert denn auch interessante Wendungen und Gedanken zutage und wer querliest, wird sein Vergnügen an der Anthologie haben. Vereinzelt stellt sich die Frage, ob der Originalität mehr Gewicht beigemessen wurde als dem Beitrag zum Thema Heimat. Dies gilt etwa für In Betrachtung eines Teppichs und Wie mag er aussehn? von Joachim Ringelnatz, deren Originalität und Komik unbestreitbar sind, die jedoch auch gut durch andere Dichtungen mit einem stärkeren Bezug zum Thema Heimat hätten ersetzt werden können, zumal Ringelnatz noch mit vier weiteren Gedichten vertreten ist. Der intensive Blick in den Einzeltext lohnt in jedem Fall, eine umfassende Textsammlung zur Heimat wäre hingegen anders zu konzipieren.

Titelbild

Anton G. Leitner (Hg.): Heimat. Gedichte.
Reclam Verlag, Stuttgart 2017.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150110997

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