Ein wenig zu viel von allem

Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“ schockiert und wirft Fragen auf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle paar Jahre erscheint ein Buch wie „Ein wenig Leben“, angepriesen von Kritikern wie Buchhändlern, das zu kontroversen Diskussionen einlädt, den Leser nicht mehr loslässt, auch lange, nachdem er es beiseite gelegt hat. Im Grunde müsste man ein solches Buch ja lieben und jedem anpreisen, den man kennt, denn genau so soll Literatur ja auch funktionieren: Als gemeinschaftlicher Akt, der sich von Debatten und Auseinandersetzungen nährt und uns erlaubt, die Welt künftig mit anderen Augen zu sehen. Doch irgendwas stört an dem Buch, etwas, das, glaubt man den jüngsten Aussagen der Autorin, durchaus beabsichtigt ist. Was Ein wenig Leben wiederum zu einem interessanten Experiment im Bereich der Lesermanipulation macht. Warum?

Der Roman beginnt wie der klassische Creative-Writing-Schule-New-York-Roman: Vier unfassbar sympathische, junge, kluge, attraktive, erfolgreiche, hippe New Yorker zelebrieren bei einem gemeinsamen Abendessen ihre langjährige Freundschaft, die auf dem College ihren Anfang genommen hat. Einer ist schwarz, der zweite hat haitianische Wurzeln und ist homosexuell, der dritte ist, wie wir erfahren, von „unbestimmter Ethnie“, weil er als Baby ausgesetzt wurde und seine Eltern nicht kennt, und der vierte ist ein schöner Frauenheld skandinavischer Abstammung, der auf dem Weg zum Hollywood-Star ist. Alles also am Platz wie es in einem zeitgenössische New York Roman sein muss; denkt man zumindest.

Zunächst erfahren wir abwechselnd von der Jugend unserer Protagonisten, etwa wie Willem, der Schönling, mit einem geistig behinderten Bruder aufwuchs, der ihm alles bedeutete, bis er an mit seiner Krankheit verbundenen Komplikationen starb. J.B., der Künstlertyp aus Haiti, wird irgendwann drogenabhängig. Malcolm ist glücklicherweise nicht der Klischee-Schwarze, der es aus schwierigen Verhältnissen ans College geschafft hat, um später ein berühmter Architekt zu werden, sondern stammt aus einem sehr noblen, äußerst gut betuchten Elternhaus, ist aber bescheiden geblieben. Nur der in sich gekehrte Jura-Student (und spätere Staranwalt) Jude – das Waisenkind, das im Kloster aufwuchs, dann scheinbar jahrelang auf der Straße und in Waisenhäusern lebte und aufgrund eines Erlebnisses, über das er nicht sprechen möchte, gehbehindert ist – hat sich alles erkämpft. Nach einigen Dutzend Seiten wendet sich die – zugegebenermaßen etwas inkongruente – Erzählperspektive eben jenem Jude zu und lässt ihn fortan nicht mehr los. Die anderen drei Figuren mutieren nach und nach zu Randfiguren, während die grausamen Erlebnisse aus Judes Kindheit langsam vor dem Leser ausgebreitet werden. Und, dies sei als Warnung verstanden, so genau hätte man das alles gar nicht wissen wollen.

Im Zuge dieser Konstruktion entwickelt der Roman zwei grundlegende Probleme: Das eine ist seine etwas wirre Struktur. Eher halbherzig bricht Hanya Yanagihara mit der Ausbreitung vierer Schicksale – eigentlich sogar fünf, zählt man Judes Mentor und späteren Adoptivvater Harold hinzu – zugunsten eines einzigen, denn bisweilen kehrt sie – oft etwas unmotiviert – wieder zu einer anderen Figur zurück. Während wir aber sehr viel über J.B.s Drogensucht erfahren, bleibt etwa die Figur Malcolm nahezu unbeleuchtet. Willem, der Judes bester Freund ist und mit ihm zusammenwohnt, tritt wiederum automatisch wieder in den Fokus, wenn auch oft nur als Stichwortgeber.

Diese Inkonsequenz im Aufbau ist störend, aber nicht elementar. Viel erstaunlicher ist das, was die Autorin selbst als gewollt bezeichnet, nämlich die überbordende Emotionalität, sei sie negativer oder positiver Art, die sie auf den Leser einprasseln lässt. Es wird sich kaum jemand finden, der diesen Roman nicht irgendwann, so spannend er auch geschrieben ist, zur Seite legen musste, um durchzuatmen. Andererseits wird man getrieben von einem hemmungslosen Voyeurismus, der von Yanagihara auch bewusst gesteuert wird. Die immer schlimmeren, kaum noch zu fassenden Missbrauchsszenarien werden konterkariert mit einer ebenso überbordenden Darstellung von Güte und Herzlichkeit. Kurz gesagt: Während Judes Kindheit die Hölle ist, ihm nur moralisch verkommene, absolut böse Menschen begegnen, sind seine zwischenmenschlichen Begegnungen als Erwachsener (mit einer entscheidenden Ausnahme) geprägt von einer solch übertriebenen Herzlichkeit, dass man als Leser dieses Schwarz-Weiß-Spiel irgendwann einfach als bewusste Inszenierung und Manipulation der eigenen Gefühle interpretieren muss. Hanya Yanagihara treibt alles auf die Spitze, Gutes wie Böses, um ihre Leser emotional völlig zu überwältigen. Sieht man das, gerade nach der Lektüre des 900-Seiten Buchs, auch mal rational, kann das nichts Gutes sein.

Literarisch lässt der Roman, rational betrachtet, nämlich Einiges zu wünschen übrig. Neben der missglückten Konstruktion zählt dazu auch die Charakterisierung der Figuren. 900 Seiten eine Figur wie Jude so intensiv zu begleiten und am Ende trotzdem immer noch kein optisches Bild von ihr vor sich zu sehen, ist äußerst unbefriedigend. Auch die zwischenzeitliche Verwirrung in Bezug auf die verschiedenen Erzählstimmen wird zwar am Ende aufgelöst, aber auf eine Art, die eher Fragen nach dem Zweck dieser wechselnden Erzähler über das Stiften besagter Verwirrung hinaus aufkommen lässt.

Es gibt aber auch literarisch gelungene Schachzüge. Dazu gehört der Verzicht auf jeweilige Zeitangaben, konkrete historische Ereignisse oder Dinge wie Filme, Musik oder Literatur, die dem Leser einen Hinweis geben könnten, in welchem Jahr wir uns gerade befinden. Das ist für den Verlauf des Romans sehr wichtig, denn zu Beginn können wir noch längst nicht absehen, wo uns das Ganze hinführt und vor allem wann es endet. Daher auch der Verzicht auf Jahreszahlen.

Emotional ist es natürlich eine andere Geschichte. Die Fragen, die sich jeder potentielle Leser vor der Lektüre des Buches stellen muss, lauten: Bin ich bereit – und sei es für einen guten Zweck, nämlich dem radikalen Aufrütteln in Bezug auf gesellschaftliche Missstände – mich manipulieren zu lassen? Und wenn ja: Welches Maß an Darstellung körperlichen und vor allem seelischen Leids kann ich verkraften? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Kleiner.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
960 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254718

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