Schreie von der Insel

Die Romane der Haitianischen Autoren Gary Victor, Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillot kreisen um Voodoo, Gesellschaftskritik und Dekulturation

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Von den Inseln träumen, ob mit Angst oder mit Freude, heißt davon träumen, daß man sich trennt, bereits getrennt ist, fern von den Kontinenten, daß man allein und verloren ist – oder aber träumen, daß man wieder bei Null beginnt, daß man neu erschafft, daß man von vorne anfängt.“

Als Gilles Deleuze über die Ursachen und Gründe der einsamen Inseln schrieb, hatte er dabei bestimmt nicht vorausschauend Haiti im Blick, doch treffen seine Worte auch auf den gebeutelten Karibikstaat zu. Nach dem Erdbeben 2010, dem erneuten Ausbruch der Cholera und Hurrikan Matthew im vergangenen Oktober steht Haiti tatsächlich allein und verloren vor einem Neuanfang und träumt lieber von seiner Vergangenheit: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der Inselstaat, damals hieß er noch Saint Domingue, nämlich dank Kaffee- und Zuckeranbau die reichste Kolonie Frankreichs. Bald darauf folgte die Unabhängigkeit als zweites Land Amerikas, nach den USA. Im 20. Jahrhundert stand Haiti vor neuen Herausforderungen: Nach einer Besetzung durch die USA errichtete François Duvalier, als „Papa Doc“ bekannt, ein diktatorisches Regime mit Privatmiliz. Protestschreie kamen auch aus literarischen Kreisen. So formierte sich 1961 die Widerstandsgruppe „Haïti littéraire“, ein Kreis von Poeten, der sich um die Autorin Marie Chauvet entwickelte: Daverige, Roland Morisseau, René Philoctète, Anthony Phelps, Serge Legagneur. Diese Autoren brachen mit literarischen Strömungen wie dem Indigenismus und brachten Surrealismus und Marxismus zusammen. Ihr Ziel war eine „poésie pour survivre“ (Phelps) und die Suche nach einer „richtigen“ poetischen Sprache. Doch Papa Docs Folterkammer ließ einige Autoren die Flucht ergreifen. Viele kehrten erst Jahre nach der Duvalier-Ära in ihre Heimat zurück.

Heute ist Haiti nicht nur eines der ärmsten Länder; es zählt auch zu den korruptesten. Das Kriminalitätsniveau ist hoch und das Auswärtige Amt rät von Reisen ab. Doch die Literaturszene blüht – dank Autoren wie Gary Victor (*1958), Louis-Philippe Dalembert (*1962) oder Lyonel Trouillot (*1956). 

Gary Victor: Der Voodoo-Krimi

Schon Georges Simenon hat das Potential der Insel als Schauplatz für eine Kriminalgeschichte erkannt: In Mon ami Maigret schickt Simenon seinen Protagonisten auf die Insel Porquerolles an der Côte d‘Azur und lässt ihn den Mord an einem Inselbewohner aufklären. Als isolierter Raum scheint die Insel dank ihrer „Überschaubarkeit“ und dem für den Krimi charakteristischen geschlossenen Personenkreis wie geschaffen für die Aufklärung eines Verbrechens.

Auch die Romane eines der derzeit populärsten Haitianischen Autoren, Gary Victor, sind Insel-Krimis, allerdings sind sie mehr als das. Sie werden – wenigstens die zwei ersten der drei ins Deutsche übersetzten Romane – als „Voodoo-Krimis“ deklariert. In Haiti gehören Voodoo-Praktiken zum Alltag. Der Glaube an Geister und Hexerei verbindet sämtliche Gesellschaftsschichten und streng rational zu bleiben, widerspricht der Kultur des Landes, einer sogenannten „Kultur des Imaginären“, wie es in Victors Roman Soro heißt. Doch rationale Ermittlungen gepaart mit Voodoo – wie passt das zusammen? 

Victors Krimis kreisen um seinen Protagonisten, den Inspektor Dieuswalwe Azémar, der nicht nur zu den wenigen nicht korrupten Personen in Haiti zählt, sondern ein massives Alkoholproblem hat. Dieuswalwe, die kreolische Version von Dieu soit loué / Gott sei gelobt, ist dem Soro, einem mit den Blättern der Bittermelone aromatisierten Zuckerrohrschnaps, verfallen. Er wird regelrecht zu seinem Partner, zu seinem Assistenten, der alle Ermittlungen begleitet – ohne Soro kein Erfolg. Nur mit diesem hochprozentigen Schnaps lässt sich der Alltag in Haiti, zwischen Hitze, Elend in den Slums wie Cité Soleil, der Kluft zwischen Arm und Reich, dem Krieg zwischen verschiedenen Gangs, Korruption und Gewaltbereitschaft ertragen. Und Gewalt lässt sich tatsächlich doch nur mit Gegengewalt bewältigen, wie der stellenweise recht brutale Dieuswalwe – die Wahl des Vornamens ist also pure Ironie  – immer wieder beweist.

Die Krimis des Haitianischen Autors, denen ein Glossar mit der Erklärung kreolischer Begriffe folgt, lesen sich selbstverständlich auch als harsche Kritik am Inselstaat. Victor, der neben verschiedenen anderen politischen Ämtern auch Generalsekretär des Senats der Haitianischen Republik war, lässt immer wieder wie zufällig staats- und regierungskritische Passagen in seine Romane einfließen:

In diesem praktisch sich selbst überlassenen Land war eine Regierung nur eine Schauspielertruppe, die ein makabres Stück aufführte, um sich selbst fette Gehälter zu genehmigen, während die Bevölkerung alle Launen der großen Haie aus dem Norden wortlos ausgeliefert war. Kliniken und Krankenhäuser arbeiteten ohne wirkliche Kontrolle. Bestimmte Gesundheitszentren standen im Dienst obskurer Interessen, und Leute ohne jegliche ethischen Bedenken nutzten dort den Bankrott des Staates aus, um alle möglichen Experimente anzustellen.

Schreiben auf Haiti, so der Autor in einem Gespräch, gleiche einem Schrei, um auf sich aufmerksam zu machen.

Suff und Sühne

In Victors jüngstem ins Deutsche übersetzten Krimi Suff und Sühne, der auf Französisch bereits 2013 unter dem Titel Cures et châtiments erschien, ist Azémar auf Entzug. Der Inspektor, der gerne selbst zur Waffe greift und abdrückt sowie unbestraft bleibt, – hier kommt es also zu einem Bruch mit dem klassischen Kriminalroman –, versteht sich als Auserkorener, der die Sühne einer ganzen Gesellschaft übernimmt. Dies legitimiert auch sein Töten: „

Es gab keine Justiz. Die Gesellschaft, in der er lebte, katzbuckelte vor einer Ansammlung von Mördern. Er tötete, um denen, die auf diesem Inseldrittel geblieben waren, eine Chance zu geben, so winzig sie auch sein mochte. Das Prinzip der Sühne durfte aus dem Gedächtnis der Lebewesen und der Dinge nicht verschwinden.

Azémars zwei Motti klingen bereits im Titel des Krimis an, dessen Anspielung auf Dostojewskis ersten großen Roman kaum zu übersehen ist. Dann ist auch noch die Rede von einem Bandenchef mit dem Namen Raskolnikow, der für die Entführung eines Industriellen-Sohns verantwortlich zu sein scheint. Und Azémar wird in seinen durch den Entzug ausgelösten Wahnvorstellungen von einer Brasilianerin aufgesucht, die ihn für den Tod an ihrem Vater, einem Kommandant des militärischen Anteils der UN-Mission in Haiti, verantwortlich macht. Hat Kommandant Racelba doch nicht Selbstmord begangen, sondern wurde er von Azémar, wie Beweisfotos zeigen, per Kopfschuss kaltblütig ermordet? Merkwürdigerweise kann sich Azémar an keine Begegnung mit dem General erinnern – hat der Soro ihn nun völlig verwirrt? Während er selbst noch vor Polizei und UNO-Kräften auf der Flucht ist, beginnt Azémar mit den Ermittlungen.

Als schließlich noch seine geliebte Tochter Mireya entführt wird, bleibt ihm nur der Besuch bei einem bòkò, einem Magier, der ihm ein Amulett – einen garde – unter die Haut näht. Der Voodoo spielt in diesem Krimi nur eine kleine Rolle, anders als in seinen Vorgängern, vermutlich fehlt deswegen diesem Roman auch der Untertitel „Ein Voodoo-Krimi“. Doch tatsächlich verleiht Azémar der eingenähte garde neue Energie und er löst den Fall, der sich als wesentlich komplexer gestaltet als angenommen.

Am Ende wird klar: Man kann niemandem vertrauen, selbst den besten Freunden nicht. In einem Land, in dem es keine kollektive Moral mehr gibt, bleibt Azémar nur eines, der Soro: „Er trank in bedächtigen Schlucken und entdeckte in der Bitterkeit des soro ein unbekanntes Aroma. Eine Sehnsucht. Eine Depression. Einen Endzeitgeschmack. Einen Geschmack der Lächerlichkeit. Der Ohnmacht.“

Wie auch seine Vorgänger, Schweinezeiten (2009) und Soro (2011) ist Suff und Sühne bis zur letzten Seite überaus spannend geschrieben und gibt Einblicke in die Machtstrukturen eines Lands, über das man viel zu wenig weiß. Da mag man auch die – wenigstens in der deutschen Übersetzung – stellenweise etwas abgedroschen anmutenden Redewendungen entschuldigen.

Schweinezeiten

Ist Suff und Sühne kein Voodoo-Krimi (mehr), so erreicht das Genre den Höhepunkt in dem 2013 übersetzten Roman Schweinezeiten, in dem rationales Denken Azémars Ermittlungen regelrecht behindert: 

Er musste alle Elemente des Falls auf sich wirken lassen und durfte sie nicht gemäß der westlichen Auffassung von Objektivität sortieren. Im Laufe seiner Erfahrungen hatte er sich davon überzeugen können, dass oft das, was zunächst am abstrusesten, am irrationalsten wirkte, der Schlüssel zu einer Realität war, die man sich nur schwer hätte vorstellen können.

Das Thema Sühne spielt auch in diesem Krimi, dem komplexesten und besten der drei ins Deutsche übersetzten, eine Rolle, stammt das Motto des Romans doch aus dem Brief an die Hebräer: „Und es wird fast alles mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung.“ Blut wird gleich zu Beginn vergossen: Es ist Azémar höchstpersönlich, der einen geldgierigen bòkò erschießt, als dieser sich weigert, die kranke Tochter von Marthe zurückzugeben. Marthe hatte sie dem Magier Marasa anvertraut, konnte aber die Kosten für seine Behandlung nicht bezahlen. Mit Marasas Tod ist das Problem allerdings nicht gelöst: Marthe und ihre Tochter werden von Marasas Zwillingsbruder, einer auf allen Vieren laufenden tierähnlichen Kreatur, bis ins Krankenhaus verfolgt, wo der Sicherheitsmann sich weigert, ihr zu helfen. Marthe solle sehen, wie sie klar komme, denn sie sei „engagiert“, was so viel bedeutet wie, dass sie einen Pakt mit bösen Geistern geschlossen hat. Erst am Ende des Romans bekommt der Inspektor diese Kreatur aus der Nähe zu Gesicht: „Der Schädel des Geschöpfs war vollständig kahl und hatte Höcker, die wie Hörner aussahen. Aus seinem haarigen Gesicht leuchtete der zugleich hasserfüllte und irre Blick seiner lidlosen Augen.“

Darauf tauchen weitere merkwürdige Zwitterwesen auf: Azémars ehemaliger Kollege Colin bittet ihn um Hilfe und Colin ist kaum wiederzuerkennen. Bestimmte Körperteile haben sich tatsächlich in die eines Schweines verwandelt. Colin scheint in dunkle Geschäfte verwickelt und der Korruption verfallen zu sein. Waren es tatsächlich medizinische Experimente an Schweinen oder nicht viel eher Zauberei, die ihn zum Schwein werden ließ? Warum ist Colin Azémars Tochter Mireya, die über einzigartige Kräfte verfügt, im Traum mit Schweineohren erschienen? Und warum findet sich Mireyas verlorenes Armband bei Colin wieder?

In Haiti, wo Schweine frei herumlaufen und wo im Hinblick auf kriminelle Geschäfte im wahrsten Sinne des Wortes „Schweinezeiten“ herrschen, verwundert Zauberei als Ursache kaum – weiße und schwarze Magie, also Wunderheilung und Schadenzauber, gehören zum Alltag. Dem schwarzen Haitianischen Schwein wird außerdem eine besondere Bedeutung zugesprochen: Es wird mit der Gottheit Ezili Dantor verknüpft, der man dieses Tier bei der Voodoo-Verschwörung von Bois Caïman 1791, einem zugleich religiösen und spirituellen Treffen der Sklaven zur Vorbereitung des legendären Aufstands, opferte. Diese Voodoo-Verschwörung gilt als Gründungsmythos Haitis, folgte ihr schließlich die Haitianische Revolution und die Unabhängigkeit Haitis. Das Schwein ist damit auch Symbol für die Unabhängigkeit der Haitianer geworden.

Azémars Ermittlungen führen ihn schließlich in das Pensionat seiner Tochter Mireya, das von der Sekte „Kirche vom Blut der Apostel“ geführt wird. Die Sekte ist in Organhandel involviert und plötzlich ist auch Azémars Tochter bedroht. In letzter Minute befreit er sie aus einem unterirdischen OP-Saal am Strand.

Logisch ist, dass es zur Lösung dieses Falls mehr bedarf als detektivischen Scharfsinns wie im klassischen Krimi. Ohne den Glauben an übersinnliche Kräfte wäre eine Auflösung kaum möglich. Der Voodoo-Krimi vereint also genau das, was kaum vereinbar scheint: Einerseits analytische Rationalität, andererseits den Glauben an Hexerei und göttliche Geistwesen. Damit ließe sich von einem neuen Sub-Genre sprechen, das eine klassische Gattung mit kreolischen Spezifika mixt.

Soro

Der Voodoo-Krimi Soro, der direkt mit dem Erdbeben beginnt, erschien als Buch der Stunde, nämlich nur ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben von Haiti, das als schwerstes Beben in der Geschichte Nord- und Südamerikas gilt. Inspektor Azémar, wieder einmal vom titelgebenden Soro betäubt, erlebt die Katastrophe in einem Stundenhotel mit der Frau seines Vorgesetzten Solon. Für den schmächtigen Inspektor wird ihr üppiger Körper zu einem Puffer, der die einstürzende Decke auffängt und ihm damit das Leben rettet. Ausgerechnet Azémar wird von Solon beauftragt, den Liebhaber seiner Frau zu finden und dummerweise gibt es Zeugen. Kann hier vielleicht ein Giftmittelchen eines bòkò dem Inspektor helfen? 

Nicht nur Solons Frau, auch der Künstler Jacques Philostène ist angeblich durch das Erdbeben umgekommen, war aber zu dieser Zeit eigentlich bei Marie-Marthe, wir kennen sie bereits aus Schweinezeiten, deren Viertel vom Erdbeben verschont wurde. Hat also ein Zombie die Nacht mit Marie-Marthe verbracht? In Haiti scheint dies kaum abwegig: „Hierzulande ist man nicht darauf gefasst, dass jemand die Existenz von Zombies anzweifelt.“ Merkwürdigerweise sind Bilder des bekannten Künstlers mit seinem Tod verschwunden und fraglich wird, ob wirklich das Erdbeben für seinen Tod verantwortlich ist.

Beim Anblick des zerstörten Port-au-Prince überkommen den Inspektor Hass und Ekel, weiß er schon, dass auch dieses Mal das Volk zu leiden hat. Das Erdbeben wird zum Auslöser für erneute heftige Kritik am Haitianischen System: „Die Reichen würden, selbst wenn die blinde Gewalt des Naturphänomens auch sie getroffen hatte, bald Profit aus der Katastrophe schlagen. Armut und Leid waren das Gold Haitis“, wo die „Macht in der Hand von Komödianten lag“, wo ausländische „Geier“ einfallen und Profit aus der Not des Volkes schlagen und wo man vergeblich auf internationale Solidarität wartet. Und tatsächlich liegt hier die Lösung des Falls: Die Naturkatastrophe wurde für ein Verbrechen ausgenutzt, einer „unserer besten Künstler“ – wie Azémar erklärt – skrupellos getötet.

Zeigt sich der Voodoo-Krimi als exotische Variante des Kriminalromans, so ähnelt er hinsichtlich der Spannung den konventionellen Krimiserien: Die Romane, die um Inspektor Azémar kreisen, sind fesselnd und atemraubend geschrieben, nach der Lektüre stellt sich unmittelbar die Frage nach dem nächsten Krimi. Sie scheinen über eine magische Kraft zu verfügen  – vielleicht sind es auch deswegen Voodoo-Krimis.

Louis-Philippe Dalembert: Die Götter reisen in der Nacht

Anders als Victors Voodoo-Krimis spielt die Insel in Dalemberts erst kürzlich übersetzten, aber bereits 2006 erschienenen Roman Die Götter reisen in der Nacht nur in der Erinnerung eine Rolle. Es ist eine schlaflose Nacht, die zu einer Reise in die Vergangenheit wird, nämlich zum „unversiegbaren Nährboden“ der Kindheit. Der vermutlich autobiografisch inspirierte Protagonist besucht mit seiner, wie er ebenfalls aus Haiti stammenden, Freundin Caroline in New York ein Voodoo-Ritual und blamiert sich vor der kleinen Gemeinde. Und zwar noch bevor der Geist, der Iwa, Besitz ergreift: Den Schluck aus der kreisenden Lambrusco-Flasche verweigert er schlicht aus Hygiene- und Qualitätsgründen, worauf er die Blicke der Anderen „wie lauter Kalaschnikows und M1-Gewehre“ spürt. Ihm wird bewusst, dass er eigentlich nicht viel über diese Religion weiß, noch nicht einmal bei der Schreibweise ist er sich sicher.

Nach der Zeremonie ist Caroline, die nicht nur mit ihrer Zwillingsschwester Carolina regelmäßig telepathisch Kontakt aufnimmt, sondern auch ein „wöchentliches amouröses Stelldichein mit ihrem Iwa mèt tèt“ praktiziert, enttäuscht: Wie konnte sie sich auf einen Landsmann einlassen, der überhaupt nichts von Voodoo versteht?

Während Caroline in einen tiefen Schlaf fällt, kreisen die Gedanken des schlaflosen Protagonisten bis zum Morgengrauen um seine Kindheit auf Haiti. Bewusst wird ihm dabei, dass der Voodoo für ihn als Kind tabu war, nur mit „versprengten Echos dieses Kults“ ist er aufgewachsen. Er weiß nicht, mit welchem Fuß man den Voodoo zu tanzen beginnt und meint zu hören, wie man ihn als „Parisäer“, als „maskierten Neger“ oder als schwarze Haut mit weißer Maske bezeichnet. Er scheint ein Dekulturierter zu sein und dies hat er seiner Großmutter Grannie, einer überzeugten Christin, die aber dennoch über eine Sehergabe verfügt und unheilbare Krankheiten heilt, zu verdanken:

Es ist allein ihre Schuld, denn sie hat dir immer verboten, dich frommem Kitsch, einem religiösen Symbol oder einem Heiligenbild auch nur zu nähern. Einem ounfo [Name, der einem Voodoo-Tempel gegeben wird]. Oder einem Tempelgehöft. Nicht einmal der Cour Blain, die eine Tempeltrutzburg wie keine zweite ist und in der die Mysterien der Familie mit allem Pomp ihre Pferde geritten haben. Nur der Jerusalemer Tempel ist heilig, verflucht noch mal!

Die Großmutter zeigt, wie schwierig es ist, Haitianische Kultur auf einen Nenner zu reduzieren: Transkulturalität gehört zum Haitianischen Alltag.

Letztlich zentrieren sich die Erinnerungen doch alle um den Voodoo, auch wenn der Zutritt zum Tempel des Voodoo-Götzendienstes dem Protagonisten verboten war. Selbst die von ihm als „erotischster Moment“ deklarierte Begegnung mit der von einem wilden Geist gerittenen, splitterfasernackten, eine scharf geschliffene Machete und Fahne schwenkenden Marie ist dem Voodoo zu verdanken. Ebenso die Erinnerung an eine „über und über mit blauen, rosa und goldenen Zuckerkügelchen“ verzierte Cremetorte, die schließlich als Opfergabe in einem Loch unter einem Oleanderbaum mit weiteren kulinarischen Köstlichkeiten verschwindet.

Dalemberts Roman ist ein anstrengender Roman. Dies liegt nicht nur an der konsequent eingehaltenen Du-Perspektive – spricht der Protagonist also zu sich selbst? – , sondern an einer rastlosen Erzählweise, die mal onomatopoetisch verfährt, so wenn Worte des stotternden (?) Cousins Fanfan wiedergegeben werden, mal stakkatoartige Sätze mit poetischem Gehalt regelrecht hinausschleudert: „Die Stimme der Trommel damals. Schwer und ernst. Gegenwärtig. Noch heute in deinem Gedächtnis widerhallend. Und in deinem Leib.“ Und tatsächlich scheint auch die Trommel – ein zentrales Motiv des Romans – die Erzählweise zu prägen. Vielleicht hat sich Dalembert hier von Alejo Carpentier inspirieren lassen, zu dem er in Paris promovierte. Dalembert, der sich selbst gerne als „Vagabunden“ bezeichnet, beherrscht sieben Sprachen, reist viel, lebt zwischen Paris, Rom, und Port-au-Prince. Das Vagabundieren, das auch Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Dekulturation bedeutet, setzt er nicht nur thematisch um: Zu Vagabundieren bedeutet für Dalembert auch, sich zwischen den Literaturen zu bewegen – dies belegen Verweise auf Georges-Arthur Goldschmidt, Patrick Chamoiseau, Jean-Claude Charles, Victor Hugo und nicht zuletzt Frantz Fanon.

Lyonel Trouillot: Kannjawou

Auch Lyonel Trouillots zehnter Roman erzählt von einer Dekulturation: Im Kreolischen bezeichnet „Kannjawou“ ein großes, in Gemeinschaft ausgetragenes Fest. In Trouillots noch nicht ins Deutsche übertragenen Roman trägt eine Bar diesen Namen, die jedoch vor allem für reiche Nicht-Haitianer reserviert ist – das Fest mit kreolischem Namen findet nicht für den Haitianischen Protagonisten und seine vier Freunde statt, die in einem Armenviertel in der Nähe des Friedhofs von Port-au-Prince, in der Rue de l’Enterrement, leben.

Geschildert wird die Situation in Haiti während der militärischen und humanitären Besetzung durch die internationale Gemeinschaft: den Militärs der Vereinten Nationen, die seit dem Sturz des Präsidenten Aristide das Land besetzen, aber auch vieler NGOs, die sich nach dem Erdbeben von 2010 im Land aufhalten. Ihre Anwesenheit verbessert die prekäre Situation des Landes kaum und obendrein scheinen sie aus dem Notstand Profit zu schlagen. Während für die Protagonisten der internationalen Besatzung die Bar abends die Türen öffnet, bleibt dem erzählenden Protagonisten nur der beobachtende Blick von seinem Mäuerchen aus – ein kannjawou gibt es für ihn und seine Freunde, Popol, Wodné, Sophonie und Joëlle nicht mehr. Nur Sophonie erhält Zutritt, als Kellnerin muss sie die Bar allerdings wie die Hausangestellten früher durch einen separaten Eingang betreten.

Der Roman zeichnet sich vor allem durch Beobachtungen aus. Der Protagonist beschreibt die Jugend in einer besetzten Stadt, den Alltag in der Rue de l’Enterrement mit ihren wenigen Protagonisten, wie dem „petit professeur“, der regelmäßig ins Viertel kommt, um sich für den Unterricht armer Kinder einzusetzen und den lesehungrigen Protagonisten mit Büchern zu versorgen, Mit Jeanne, der Ältesten in der Straße, die immer wieder auf die Missstände des Landes hinweist oder Wodné, der mit seiner Bande gegen Diskriminierung und Chancenungleichheit rebelliert. Das stellenweise etwas monoton und schleppend anmutende deskriptive Verfahren spiegelt aber vielleicht genau die Alltagsmonotonie der Jugendlichen wider.

Aus den Beschreibungen entstehen kleine Geschichten: So wird aus der sogenannten „petite brune“, einer Französin, die für eine internationale Organisation zu arbeiten scheint und verzweifelt einem Haitianischen Gigolo hinterherrennt, doch eine eigenständige Frau, die ihren Tanz im Kannjawou alleine tanzt. Oder der Erzähler berichtet von einem Kader, der sich nach einem Abend im Kannjawou betrunken ans Steuer setzt und einen Passanten überfährt. Auch die anfangs eher marginale Person des „petit professeur“ erwacht am Ende regelrecht zum Leben, nämlich kurz bevor er stirbt: Aus Liebe zu Joëlle, Sophonies Schwester, verbrennt er sich in seiner bourgeoisen, mit Büchern gefüllten Wohnung. Diese Passage stellt wohl einen Höhepunkt des Romans dar, werden hier Titel und Autoren, die zum Bestand der Bibliothek des „petit professeur“ zählten, mit der Beschreibung des Brandes kunstvoll verwebt.

Erklärt Gary Victor das Schreiben auf Haiti als Schrei, um auf sich aufmerksam zu machen, so wurde Trouillots Roman als „Wutschrei“ bezeichnet. Mehr Aufmerksamkeit kann Haiti gebrauchen, ganz einfach, um die Wut zu minimieren und nicht den missverständlichen Eindruck einer marginalen, einer „Insel“-Literatur zu erwecken.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Gary Victor: Schweinezeiten. Ein Voodoo-Krimi.
Aus dem Französischen übersetzt von Peter Trier.
Litradukt, Trier 2013.
130 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783940435118

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Gary Victor: Soro. Ein Voodoo-Krimi.
Aus dem Französischen übersetzt von Peter Trier.
Litradukt, Trier 2015.
143 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783940435149

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Louis-Philippe Dalembert: Die Götter reisen in der Nacht.
Aus dem Französischen übersetzt von Bernadette Ott.
Litradukt, Trier 2016.
200 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783940435194

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Lyonel Trouillot: Kannjawou.
Actes Sud, Paris 2016.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9782330058753

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Gary Victor: Suff und Sühne.
Aus dem Französischen von Peter Trier.
Litradukt, Trier 2017.
160 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783940435200

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