Wesenswahrheiten

Nach 85 Jahren erscheint „Elemente der Bildung“ aus dem Nachlass des großen Romanisten Ernst Robert Curtius

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur bevorstehenden Bundestagswahl im September haben sich – wie es inzwischen zum guten Ton gehört – alle großen Parteien das Schlagwort „Bildung“ auf die Fahnen geschrieben, verstärkt noch durch das Pronomen „mehr“, denn mehr ist in einer auf Wachstum ausgerichteten Gesellschaft stets erstrebenswert und daher per se gut. Nicht selten erhält Bildung allerdings eine pejorative Färbung, besonders wenn sie mit ebenjenem geforderten Mehr allzu schnell in die begriffliche Nähe von „Elite“ oder „Exzellenz“ gerückt wird – das wirkt arrogant, ja gar bedrohlich! Was sich allerdings hinter dem so strahlenden (und dadurch blendenden) Begriff der Bildung versteckt und ob man mehr Bildung überhaupt sinnvoll fordern kann, was eine Quantifizierung der Bildung voraussetzt, wie es auf andere Wahlkampfthemen – etwa mehr Arbeitsplätze, mehr Geld oder mehr Wohnraum – anwendbar ist, bleibt bei genauerer Betrachtung zumindest ungewiss. Und genau hier lässt sich Bildung verorten: Sie liegt im Ungewissen, sie umgibt etwas Geheimnisvolles, ja sie scheint von beinahe mythischer Konstitution zu sein.

„Selbstverständnis ist“, so Hans Blumenberg in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 4. Februar 1983, „was man hat, wenn man danach gefragt wird.“ Mit dem Bildungsbegriff scheint es sich anders zu verhalten: Jeder hat bereits eine vage Vorstellung davon, was unter Bildung zu verstehen ist. Wird man jedoch danach gefragt, zerfällt diese Vorstellung und man gerät ins Stocken. Vielleicht stammelt man von Klassikern, die man gelesen haben, Grundrechenarten, die man beherrschen, oder historischen Daten, die man schlicht wissen sollte; das vermeintlich so klare Territorium der Bildung löst sich beim Nachfragen recht schnell im Nebulösen auf. Konrad Paul Liessmann formuliert diese Begriffsunsicherheit polemisch in seiner Theorie der Unbildung aus dem Jahr 2006 mit den Worten: „Daß niemand mehr zu sagen weiß, worin Bildung oder Allgemeinbildung heute bestünden, stellt keinen subjektiven Mangel dar, sondern ist Resultat eines Denkens, das Bildung auf Ausbildung reduzieren und Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals degradieren muß.“ Der Bildungsbegriff bleibt vor dem Hintergrund seiner jahrhundertelangen Geschichte flexibel, spannend und – was wohl seine größte Stärke ist – auch jenseits der Pädagogik im kritischen Gespräch.

Der Titel eines Anfang 2017 bei C.H. Beck erschienenen Buches verspricht nun neues Licht in das Bildungsdunkel zu bringen: Elemente der Bildung – das zielt direkt auf die Wurzel des Begriffs! Man fühlt sich zunächst an Dietrich Schwanitz’ Bestseller Bildung. Alles, was man wissen muß (1999) erinnert, in welchem Bildung als Kanon präsentiert wird, der sich in „Wissen“ (Kenntnisse) und „Können“ (Anwendungsregeln) gliedert, und man sollte annehmen, dass man nach der Lektüre des Buches ‚gebildet(er)‘ sei. Mit Elemente der Bildung verhält es sich indes anders: Sein Verfasser, der bedeutende Bonner Romanist Ernst Robert Curtius (1886–1956), gibt keinen Überblick über „alles, was man wissen muss“; er strebt mit seinem Bildungsprojekt vielmehr eine systematische Sinnerschließung der Welt an, „einen Wiederaufbau unseres Bildungsbewußtseins“, indem er einen „Bauplan für ein neues Gebäude deutscher Bildung“ vorzulegen beabsichtigt. Dabei fußen seine Überlegungen einerseits auf den hierarchischen Wissensformen seines Freundes Max Scheler, aus dessen Werk (vor allem dem 1925 erschienenen Die Formen des Wissens und die Bildung) Curtius immer wieder wörtlich und oft unmarkiert zitiert: „Das Bildungswissen […] dient dem Werden und der Entfaltung der Person; das Herrschafts- oder Leistungswissen dient dem Werdensziel der praktischen Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke. Das Erlösungswissen dient dem Werdensziel der Teilhabe unseres Personenkerns an dem obersten Sein und Grund aller Dinge.“ Andererseits gilt Curtius Johann Wolfgang Goethe (den er häufig aus dem Gedächtnis zitiert) als Vorbild, Wegweiser und Ideal in Sachen Weltumgang und Welterkenntnis, denn: „Wir finden alles bei Goethe“. So ist Curtius’ Verständnis von Bildung recht klar definiert: Es geht ihm weniger um das Sammeln von Informationen oder das Anhäufen von Wissen als vielmehr um die individuelle Ausbildung (formatio) der Persönlichkeit getreu dem Fichte’schen Diktum: „Das Ich als Werk meiner selbst.“ Bildung ist in diesem Sinne ein anagogischer, das heißt hinaufführender, erhebender Prozess zu höherer Erkenntnis.

Einen elementaren Gedanken seiner Bildungsidee formuliert Curtius im Kapitel über „Theorie und Praxis“ in seiner Schrift:

Wir haben an einem konkreten Fall, nämlich an dem Verhältnis der Astronomie zur Technik, eine Wahrheit allgemeiner Art erschaut: die Wahrheit von dem Wesensverhältnis zwischen Praxis und Theorie: zwischen einem Tun, das auf nützliche Zwecke gerichtet ist, und einem anderen, das nutzlos und zwecklos erscheint; das aber darum doch nicht unnütz und überflüssig zu sein braucht, sondern sich letzten Endes als natürlich, ja als notwendig erweisen kann. Eine Wahrheit solcher Art dürfen wir eine Wesenswahrheit nennen.

Curtius’ essentialistische Sichtweise verfolgt das Ziel, aus natürlichen und kulturellen Entitäten qua anschauender Erkenntnis Wesenswahrheiten zu gewinnen. Curtius begnügt sich nicht allein mit der Frage nach Nutzen und Zweck, er stellt auch diejenige nach dem Sinn: „Als Beethoven die Neunte Symphonie schrieb, als Goethe den Faust dichtete, taten beide etwas, was sicher nutzlos und zwecklos und dennoch zweifellos wertvoll war. Wie soll man solches Tun bezeichnen? Wir nennen es sinnvoll.“ Der Frage, was Wissen, Kenntnisse oder Fähigkeiten nützen, liegt also eine tiefergehende Frage zugrunde, und zwar: „Welchen Sinn kann dieses Wissen, dieses Ereignis, dieses Sachgebiet für mich gewinnen?“ Curtius’ Plädoyer für ‚unnützes‘ Wissen und ‚unnütze‘ Bildung hat in Abraham Flexners Essay The Usefulness of Useless Knowledge – zuerst in der Oktober-Ausgabe 1939 des „Harper’s Magazine“ erschienen (also sieben Jahre nach Niederschrift der Elemente der Bildung), jetzt, im März 2017, bei Princeton UP herausgebracht und mit einem lesenswerten Begleittext Robbert Dijkgraafs versehen – ein mit anschaulichen Beispielen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich angereichertes Pendant. Flexner (1866–1959), Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study in Princeton, schreibt: „With the rapid accumulation of ‚useless‘ or theoretic knowledge a situation has been created in which it has become increasingly possible to attack practical problems in a scientific spirit.“ Wer vermag einzuschätzen, was gegenwärtige Neugier, Vorstellungskraft und deep thinking für die Zukunft bedeutet? Was heute unnütz und überflüssig erscheint, könnte sich morgen schon als sinn- und wertvoll erweisen.

Man darf nicht vergessen, dass sich Ernst Robert Curtius, dessen Name zumeist mit dem bahnbrechenden literaturwissenschaftlichen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter aus dem Jahr 1948 in Verbindung gebracht wird, schon seit den 1910er-Jahren immer wieder mit Fragen zur Bildung auseinandergesetzt hat; Elemente der Bildung ist also kein neues Thema in seinem Schaffen. Neu ist jedoch der warnende Ton vor dem „Abbau der Bildung“, den er prominent auch in seinem Text Deutscher Geist in Gefahr (1932) anklingen lässt. Ernst-Peter Wieckenberg erklärt:

Bildung, schreibt er [Curtius] da [am Anfang von Deutscher Geist in Gefahr], ist der „Inbegriff weltlicher Kultur“. Erst die Erfahrung Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, daß linke und rechte Ideologien mit zunehmender politischer Durchsetzungsmacht die Deutungskompetenz über die Bildung beanspruchen, mag dann eines der wesentlichen Motive für die Niederschrift seiner beiden Bildungsschriften von 1932 gewesen sein. „Deutscher Geist in Gefahr“ sollte vor den politischen und kulturellen Kräften warnen, die die deutsche Bildung gefährdeten; den „Elementen der Bildung“ dagegen war die Aufgabe zugedacht, diese Idee auf eine mitteilbare Weise zu begründen.

Curtius teilt seine Gedanken mal mehr, mal weniger wissenschaftlich fundiert mit; seine Bildungsidee ist Bildungsreligion, seine Sprache ist die Sprache der Poesie, die „eine oberste und unentbehrliche Funktion in aller Bildung hat.“ Wer sich auf diese Ansichten einlässt, dem wird klar, was Bildung wesentlich bedeutet.

Elemente der Bildung, größtenteils im Goethejahr 1932 entstanden und erst im Sommer 2008 in einem unerschlossenen Teilnachlass des Autors entdeckt, gliedert sich in 19 Kapitel, die sich mit der Grundlegung der Bildung, den Bildungsgegenständen sowie den Lebensbedingungen und den Grenzen der Bildung beschäftigen. Der eigentliche Text, bestehend aus Elemente der Bildung sowie dem im Mai/Juni 1932 während eines Sanatoriumsaufenthaltes verfassten Vortragsmanuskript Grenzen der Bildung, das sich größtenteils mit Kapitel 18, „Die Naturgrenzen der Bildung“, deckt, umfasst in der vorliegenden Ausgabe gut 200 Seiten. Das Nachwort Ernst-Peter Wieckenbergs hingegen, das mit seiner akribischen Gelehrsamkeit und seinem luziden Stil sowohl den historisch-politischen Kontext als auch die privaten Lebensumstände Curtius’ darstellt, erstreckt sich über fast 300 Seiten, inklusive eines reichhaltigen Anmerkungsapparates in Form von nicht weniger als 953 Endnoten, eines editorischen Berichts sowie einer ausführlichen Bibliografie nebst Personenregister. Allein diese Dimensionen machen deutlich, welch große, detektivische und lobenswerte Arbeit in dieser Nachlasspublikation steckt. Die Herausgeber haben mit ihrer sinn- und wertvollen Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Bildungsthematik im Allgemeinen geleistet und ein beeindruckendes Bild des intellektuellen Klimas der 1920er- und 1930er-Jahre im Besonderen gezeichnet. Ganz unabhängig vom pädagogischen oder wissenschaftlichen Gehalt der Curtius’schen Ausführungen sei Elemente der Bildung aufgrund seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung nicht nur den Wahlkampf betreibenden Bildungspolitikern eindringlich empfohlen.

Titelbild

Ernst Robert Curtius: Elemente der Bildung.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Mit einem Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
517 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783406697609

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