Logiken eines Menschheitsverbrechens

Über Christian Gerlachs „Der Mord an den europäischen Juden“

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Götz Aly, der damals schon anerkannte und streitbare Historiker des Holocausts, jubelte 1997 in einem Artikel für die „Berliner Zeitung“: Die alte Frage, wann der Befehl für die Judenvernichtung gegeben wurde, sei endlich „genial“ beantwortet worden. Die Antwort habe Christian Gerlach, ein junger Historiker, in einem entlegen erschienenen Aufsatz gegeben. Hitler hätte am 12. Dezember 1941 in einer geheimen und internen Rede den Befehl erteilt. Knapp 20 Jahre nach Alys zustimmendem Artikel legt Gerlach, nunmehr seit Jahren an der Universität Basel Professor für Geschichte, seine Gesamtdarstellung des Holocaust vor. Sie ist zuerst 2016 auf Englisch erschienen und liegt seit kurzem unter dem Titel Der Mord an den europäischen Juden auf Deutsch vor.

Gerlachs Buch ist in drei Teile gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung, welche die Hauptthesen und die Argumentationsrichtung des Werks umreißt, stellt Gerlach zuerst die Genese und Durchführung der vom „Dritten Reich“ verantworteten „Endlösung der Judenfrage“ dar. Im zweiten und umfangreichsten Teil untersucht er von ihm so genannte „Logiken der Verfolgung“ wie Rassismus, Zwangsarbeit, die Ökonomie der Enteignung und so weiter Im dritten Teil geht Gerlach auf die europäische Dimension des Judenmords ein und vergleicht die antijüdische Gesetzgebung sowie die Gewaltpolitiken gegen Juden in unterschiedlichen Ländern. In einem letzten Kapitel zieht der Autor schließlich unter Heranziehung seiner Theorie über Gruppenvernichtung in extrem gewalttätigen Gesellschaften ein Resümee seiner Darstellung.

Im ersten Teil rekapituliert der Autor letztlich den aktuellen Forschungsstand zur nationalsozialistischen Judenverfolgung. Gerlach verweist anfangs kurz sowohl auf die Lage und Struktur der jüdischen Bevölkerung Deutschlands als auch darauf, dass es keine von Anfang an feststehenden Pläne der Nationalsozialisten und Nationalisten in den europäischen Ländern zum Umgang mit dem jeweiligen jüdischen Bevölkerungsteil gab. Es konkurrierten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielmehr eine Reihe unterschiedlicher, halb oder gar nicht ausgegorener Vorstellungen miteinander. Der geografische Fokus liegt in diesem Teil insgesamt auf der Entwicklung im „Dritten Reich“, die von den erste Maßnahmen zur Ausgrenzung und Entrechtung 1933 über die bekannten (und teilweise weniger bekannten) Schritte der darauffolgenden Jahre bis hin zur Deportation und Ermordung der Juden nachgezeichnet werden. Gerlach wiederholt dabei seine These vom mündlich gegebenen Befehl Hitlers, den er „Grundsatzentscheidung“ nennt und auf – oder um – den 12. Dezember 1941 datiert und mit mehreren Zitaten, Äußerungen und Anweisungen von Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg, Hans Frank und Heinrich Himmler sehr plausibel machen kann.

Soweit wartet das Buch demnach mit keinen revolutionär neuen Erkenntnissen auf, sondern ist eher eine solide Zusammenfassung des Forschungsstandes. Die Teile zwei und drei haben dafür umso eher das Potenzial, in manchen Kreisen für Aufregung zu sorgen. Ist doch erst wenige Jahre her, dass Thomas Schmid, der Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, 2014 dem Historiker Krisztián Ungváry widersprach, als dieser in einem Interview von der „Rationalität“ der Judenverfolgung in Ungarn sprach. Dies bedeute, so der damalige Vorwurf Schmids an die Adresse Ungvárys, dem er übrigens die Möglichkeit einer Antwort verwehrte, dass man den Tätern „Vernunft“ bescheinige, was angesichts der Verbrechen nicht möglich sei. Gerlach seinerseits breitet nun ein großes, „Logiken der Verfolgung“ genanntes Panorama aus, dem manche Leser sicher ebenfalls ablehnend gegenüber stehen werden, wenn sie den Holocaust als ein in eine metaphysische Irrationalität gesteigertes, historisch einmaliges Phänomen begreifen. Dabei geht es dem Autor letztlich darum, darauf hinzuweisen, dass man, um dieses Ereignis adäquat zu verstehen, eine Vielfalt von (lokalen wie überregionalen) Motivationslagen, Interessen, Ressentiments und sozial- sowie gesellschaftspolitischen Zielen kennen muss. Diese Lagen und Interessen entstanden einerseits in der einmaligen historischen Situation des Weltkriegs in Zeiten knapper Ressourcen, als Essen, Wohnraum, die psychische Ausnahmesituation der Kriegsumstände und so weiter im Zusammenhang mit der Partisanenbekämpfung eine in den Augen vieler deutscher Entscheidungsträger notwendige und rationale Ökonomie der Absonderung, Enteignung und Deportation der Juden entstehen ließ.

Andererseits zeigt Gerlach im dritten Teil seines Buchs anhand einer beinahe ermüdend langen Beispielserie, wie in so gut wie allen europäischen Ländern antisemitische Pläne, Vorhaben, Verbände und Bewegungen bereits in der Zwischenkriegszeit und erst recht im Verlauf des Krieges antisemitische Forderungen erhoben. Journalisten- und Ärzteverbände, Anwaltskammern, Studentenvereinigungen, Wirtschaftsorganisationen: unendlich ist die Liste der Einrichtungen, die in Frankreich, Polen, Ungarn, Rumänien und so weiter die Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben, ihren Ausschluss oder die Einführung einer Numerus-Clausus-Regelung aufgrund besonderer nationaler Umstände forderten. Traf ein solcher gesellschaftlicher Druck auf Widerhall in Regierungskreisen, entstanden nicht nur so genannte „Judengesetze“, sondern sie bildeten im Falle regierungsamtlicher Pläne zu ethnischer Homogenisierung etwa im Zuge von Bevölkerungsumsiedlungen und -austauschen ein weiteres Motiv und einen nächsten Grund für den Mord an den Juden. Diese nationalen Motive und Gründe führten dann zu einer aktiven und bereitwilligen Mitarbeit an der Judenvernichtung. Insbesondere der Nachweis dieser nationalen Motivlagen in einer Vielzahl europäischer Länder ist das Verdienst des vorliegenden Buchs, denn was bislang allenfalls disparat in entlegenen Aufsätzen und Lokalstudien zu lesen war, führt Gerlach auf eine imponierende und neue Weise zusammen. Zwar gerät die Darstellung im dritten Teil mitunter fast zu einer Aufzählung antisemitischer Verordnungen, Pläne und Maßnahmen, so dicht und teilweise ohne Kontext und Zusammenhang werden sie hintereinander abgehandelt. Dennoch ist gerade dieser Teil spannend und bietet sicherlich auch jenen Lesern viele neue Erkenntnisse, die bereits fundierte Kenntnisse zum Thema besitzen. Man mag zwar Gerlach vorwerfen, er schreibe hier eine internationale Tätergeschichte und vernachlässige die Perspektive der Opfer. Eine histoire totale des Holocaust war von ihm jedoch nicht intendiert, eher eine funktionalistische Erklärung seiner Logik und von dessen Vorgeschichte sowie der Ablauf im internationalen Rahmen. Dies ist ihm hervorragend gelungen und daher ist sein neues Buch vorbehaltlos zu empfehlen.

Titelbild

Christian Gerlach: Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Richter.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
576 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783406707100

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