Von ungeschickt getragener Armut

Die „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ von Christine Lavant sind in beispielhafter Edition erschienen

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich könnte überhaupt nichts mehr als schreiben“, berichtete Christine Lavant 1946 in einem Brief, nachdem sie in dem knappen Jahr nach Kriegsende drei autobiografische Texte abgeschlossen hatte. Während Das Kind und Das Krüglein immerhin in den Folgejahren erscheinen sollten, blieben die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus unpubliziert und galten lange Zeit als verschollen. Das Manuskript wurde in den 1990er-Jahren im Nachlass der österreichisch-britischen Schriftstellerin Nora Purtscher-Wydenbruck entdeckt; erstmals in Druck ging es 2001. Mit der Ausgabe des Wallstein Verlages liegt dieser einzigartige Prosatext nun in einer mustergültigen Edition vor, sowohl was die Aufmachung, die sensible Textgestaltung als auch das Nachwort von Klaus Amann betrifft. Oft ist Skepsis angebracht, wenn – wie hier – 80 Seiten literarischem Text 50 Seiten philologischer Kommentar nachgestellt sind, nicht aber in diesem Fall: Amann klärt dort auf, wo es notwendig ist, bietet Vertiefung bei den Stellen, die bereits bei der Lektüre des Textes die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und belässt die Schriftstellerin doch in ihrem Recht, indem Korrekturen ihres zuweilen eigenwilligen, höchst individuellen Stils nur mit höchster Vorsicht durchgeführt werden – und so im Zweifel ihr Geheimnis gewahrt bleibt. Beispielsweise wird das Wort „unbeschwört“ von Amann nicht auf eine Bedeutung hin zurechtkorrigiert, sondern im Glossar mit mehreren Deutungen aufgeführt: „unbeschwert? ohne sich zu beschweren? ohne sie zu beschwören?“

In Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus schildert die Erzählerin ihren Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, die sie nach einem Selbstmordversuch freiwillig aufgesucht hat. Bereits die ersten Sätze geben die Grundmotive vor: „Ich bin auf Abteilung Zwei. Das ist die Beobachtungsstation für die Leichteren und man kommt eigentlich von Rechts wegen nur hinein, wenn man Drei schon hinter sich hat. Ich habe Drei noch nicht hinter mir und das nehmen mir hier die meisten übel.“ Es ist zu großen Teilen ein Text über Macht, verfasst aus der Perspektive einer Machtlosen, die dennoch versucht, sich Handlungsmöglichkeiten zu erhalten oder neu zu schaffen. Sie registriert das Gefälle der Macht, das nicht nur zwischen Ärzten, Personal und Patientinnen besteht, sondern auch innerhalb der Gruppe der Insassinnen selbst. Dass der Zeitraum der Erzählung nur sechs Wochen umfasst, ist dem Erzählten nicht anzumerken. Der Hospitalisierungseffekt überträgt sich auf den Leser, die Zeit lässt sich genauso wenig fassen, wie der Raum, denn obwohl die Erzählung eigentlich nur in einigen wenigen Zimmern spielt – dem Aufenthaltsraum, dem Gang, dem Schlafzimmer, dem Bad und zwei Untersuchungsräumen – entwickelt sich kein Plan der Anstalt vor dem Auge des Lesers. Die vom Text erzeugte Orientierungslosigkeit bedeutet aber nicht, dass Lavant in literarische Unbestimmtheit abdriftet, im Gegenteil, ihre Sprache ist höchst konkret und klar.

Die Aufzeichnungen unterziehen die Unbarmherzigkeit der Ökonomie einer scharfen Kritik, ist die Stellung der Patientinnen doch durch ihren finanziellen Hintergrund bestimmt. Im Falle der Erzählerin heißt es aber: „Mir wächst leider nichts am Leib als Armut, ungeschickt getragen, beschämend für mich und andere.“ Ihr Aufenthalt wird von ihrer Heimatgemeinde bezahlt, womit ihr Schicksal zugleich ein öffentliches ist und der Erzählerin bewusst ist, dass die Kinder in ihrem Dorf „schon wissen, woher ich komme, und es laut zueinander sagen werden, dass dies die ‚Verrückte‘ ist, die, für die ihre Väter so viel Steuern zahlen müssen“. Nicht nur an diesen Stellen ist die Gefährdung latent spürbar, der die Patientinnen ausgesetzt waren. Nur wenige Jahre nach dem Aufenthalt der jungen Christine Lavant in der ‚Landes-Irrenanstalt‘ am Klinikum Klagenfurt 1935 wurden Patientinnen, die sie wahrscheinlich dort getroffen hatte, aufgrund der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus getötet. Auch die daran beteiligten Ärzte und das medizinische Personal waren der Schriftstellerin bekannt. Die Erzählerin registriert mit schmerzendem Erstaunen, dass „die, welche hier dazu berufen sind, zu beruhigen und zu lindern, nicht die nötige Zeit dafür aufwenden, um sich in die seltsamen Gedankengänge der Kranken so einzufühlen, dass sie die Stelle herausfinden, an welcher sie einzusetzen haben.“

Lavants Aufzeichnungen lassen sich nicht auf die zweifellos vorhandene Psychiatriekritik beschränken, ist ihnen doch auch ein eigenwilliger Humor nicht fremd. So wird die Erzählerin etwa immer wieder in der Nacht von einer Mitpatientin geweckt: „‚Gehen Sie schlafen‘ bat ich sie aufsitzend, aber sie wollte unbedingt meinen Kopf. Es fiel mir schwer ihr dies vernünftig abzuschlagen.“ Zudem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Autorin und der Erzählerin, denn nur letztere ist bereits eine Schreibende, während die junge Lavant während ihres Aufenthaltes nichts geschrieben haben dürfte. Gerade dieser Anspruch trifft auf die härteste Restriktion, meint doch ein Gutachter zur Erzählerin: „Also mein Kind, das Düchten überlass du schön anderen Leuten und wenn dich der Herr Primarius wieder zur Vernunft gebracht hat, so nach ein zwei Jahren, dann sei froh, wenn du eine Gnädige bekommst, die dich zu allen häuslichen Arbeiten ordentlich abrichtet!“ Das sich hier äußernde, brutale de facto-Schreibverbot für ökonomisch benachteiligte Frauen sollte selbst nach dem Krieg noch seine Wirkung zeigen. Die Reaktionen auf die ersten beiden Prosaveröffentlichungen von Lavant beziehungsweise deren Ausbleiben sowie die ablehnenden Reaktionen ihres Umfeldes brachten die Schriftstellerin dazu, die Publikation der Aufzeichnungen für unmöglich zu halten. Sie beschränkte sich in der Folge auf Lyrik, wobei auch ihre Gedichte einen bedeutenden Beitrag zur österreichischen Literatur darstellen. Das Widerständige ist ihnen genauso zu eigen, wie ihren Prosatexten. In den Prosatexten heißt es an einer Stelle: „‚Hat Ihnen der Teufel auch einen Strick gebracht?‘ … ‚Nein‘, sagte ich unbesonnen, ‚er hat mir bloß einige Gedichte ins Herz gestreut, wollen Sie sie hören?‘“ Die verspätete Veröffentlichung von Lavants letztem Prosatext beweist einmal mehr, dass es sich lohnt, der Schriftstellerin zuzuhören.

Titelbild

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Amann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
120 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319677

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