Sie hinken hinterher

Acht Jahre nach der Textausgabe von Christoph Martin Wielands „Diogenes“ ist jetzt auch der Kommentarband erschienen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kritische Gesamtausgaben herauszugeben, ist keine Kleinigkeit – sondern philologische Kleinstarbeit, die absolute Präzision voraussetzt. Sie dann auch noch zu kommentieren, ist eine Aufgabe, die man nur den Wenigsten zutraut. Schon gar, wenn es um eine neue Ausgabe der Werke von Christoph Martin Wieland geht: der erste deutsche Autor, der als freier Schriftsteller leben konnte; ein eminent gebildeter, politisch aufgeklärter, stilistisch feiner Geist, Erfinder einiger Prosaformen, Übersetzer (unter anderem als erster der Werke von William Shakespeare) und Fürstenerzieher in Weimar, der älteste unter den vier großen Klassikern am dortigen Hof, vor Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. Seinen Anspielungen nachzugehen und sie zu erläutern, sodass seine Werke nicht nur mit Genuss gelesen werden können, sondern auch noch in allen Einzelheiten verstanden, ist wahrhaftig keine einfache Sache.

Dennoch ist es sehr bedauerlich, dass die Kommentare stets um mehrere Jahre den schönen Textausgaben hinterherhinken. So auch im Fall der Werke Band 9, in dem unter anderem Die Grazien, Der schöne Amadis und Sokrates Mainomenos oder Die Dialogen des Diogenes von Sinope enthalten sind. Die Oßmannstedter Ausgabe bietet Wielands Werke in der Reihenfolge ihres Entstehens, sodass auch Rezensionen und andere, kleinere Werke in den Bänden versammelt sind.

Auch wenn es unverständlich ist, dass der Kommentarband erst acht Jahre nach dem Textband erschienen ist, muss festgestellt werden, dass der Band selbst sehr sorgfältig gearbeitet ist. Er beginnt wie immer mit einem Verzeichnis der Varianten und erzählt dann die Geschichte der Entstehung, zum Beispiel des Diogenes: „Mitte Juli 1769, teilte Wieland dem befreundeten Utrechter Philologen Rijklof Michael van Goens mit, sei er auf den Gedanken verfallen, einen ‚idealen Diogenes‘ in einer Art Dialogen vorzustellen.“ Dabei „beflügelt ihn ‚eine philosophische Laune […], welche mit dem Yorickschen etwas Ähnliches hat, ohne Nachahmung zu seyn.‘“ Da Wieland zu dieser Zeit bereits berühmt ist, verlangt er ein entsprechendes Honorar, das ihm der Eisenacher Verlagsbuchhändler Michael Gottlieb Griesbach zahlt: 50 Dukaten. Am 30. Januar 1770 erhält Wieland seine Exemplare, es gibt sie in drei unterschiedlichen Ausstattungen: eine Prachtausgabe mit Kupfern, eine billigere ohne Abbildungen und eine dritte ein Jahr später als Neuauflage. Natürlich wird es nachgedruckt und in sieben Sprachen übersetzt.

Die Kommentatoren erläutern auch die Komposition des Werks, die unverkennbar von Laurence Sterne geprägt ist, sie zitieren Wieland, der meint, es bestehe „meistens aus zufälligen Träumereyen, Selbstgesprächen, Anekdoten, dialogisierten Erzählungen und Aufsätzen, worin Diogenes bloß aus Manier oder Laune abwesende oder eingebildete Personen apostrofiert“. Weiterhin arbeiten sie die triadische Struktur heraus und zeigen die Quellen auf: Diogenes Laertios, Arrian, Xenophon, Lukian und die Enzyklopädien von Pierre Bayle, Christoph August Heumann und Johann Jakob Brucker.

Auch die Erläuterungen sind sehr sorgfältig ausgeführt. Sie funktionieren auf mehreren Ebenen. Zum einen werden Wörter einfach übersetzt, zum Beispiel Wielands schwäbisches „unfürdenklichen“ als „für unvorstellbar langen“ oder „Vorfahrer“ als „Vorangehende“. Natürlich auch die griechischen und lateinischen Passagen. Zum anderen werden sie kurz erklärt, wobei man sich natürlich immer fragen muss, ob Begriffe wie „Brevier“ oder „Codicis“ inzwischen tatsächlich so unbekannt sind, dass sie erklärungsbedürftig sind.

Den Hauptteil und den brauchbarsten Abschnitt der Kommentare nehmen die längeren Erläuterungen ein. Hier werden die Anspielungen, Daten und Namen erklärt, die man nicht im Internet und oft auch nicht in normalen Lexika findet. Vor allem aber sind hier die Zusammenhänge erläutert, sodass man auch versteht, was Wieland in schwer verständlichen Passagen gemeint hat oder gemeint haben könnte. Beispielsweise wird auf Seite 5 im Bericht des fiktiven Herausgebers ein „Febronius“ erwähnt: „Ich schmählte auf den Febronius, und lobte das alberne Buch des Herrn von ***“. Haarklein erläutern die Herausgeber, dass es sich hier um den Trierer Wehbischof und Kirchenrechtshistoriker Johann Nikolaus von Hontheim handelt, der 1763 unter diesem Pseudonym den Papst und die Kurie vehement angriff. Sie stellen auch den Zusammenhang mit Wieland her: „Wieland stand den Febroniaschen Bestrebungen aufgeschlossen gegenüber; seinerzeit hatte er den Druck eines pro-febronianischen, vermutlich von Friedrich Reichsgraf von Stadion und Georg Michael Frank von La Roche gemeinsam verfasstes Flugblatt vermittelt“.

Auch der Diogenes-Text selbst wird sehr ausführlich und sicher kommentiert, die Bemerkung von den „zweybeinichten Thieren ohne Federn“ wird mithilfe einer Stelle aus Platons Politeia erläutert, wo dem Menschen diese Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Kommentatoren schreiben, dass Diogenes daraufhin ein Huhn gerupft habe, in Platons Akademie gegangen sei und gesagt haben soll: „Das ist der Mensch Platons“ – eine Stelle, die auch in Wielands Aristipp auftaucht. Die Stelle mit dem „Erdenrund, oder Erdeney, oder Erdenteller“ führt zu einem längeren Exkurs über die Vorstellungen im Mittelalter über die Gestalt der Erde. Vom 3. vorchristlichen bis zum 12. nachchristlichen Jahrhundert war die kugelförmige Gestalt der Erde bekannt, erst danach habe man gedacht, dass im Mittelalter die Menschen glaubten, die Erde sei flach. So sind die Kommentare und Erläuterungen durchweg sehr hilfreich und führen einem immer wieder zu Bewusstsein, auf welch hohem Bildungsstand Wieland seine Romane, Erzählungen und Gedichte geschrieben hat. Für die Gebildeten der damaligen Zeit war sicher vieles selbstverständlich, hingegen ist für uns heute sicherlich vieles unbekannt.

Interessanterweise wird auch die französische Übersetzung, die Wieland selbst korrigiert hat, im Anmerkungsband abgedruckt, eine Spezialität, die man wohl sonst lange hätte suchen müssen.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Werke. Band 9.2. Apparat. [Sokrates mainomenos] oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Combabus. Die Grazien. Der Neue Amadis. Gedanken über eine alte Aufschrift. Januar 1770 – Mai 1772.
De Gruyter, Berlin 2016.
1613 Seiten, 399,00 EUR.
ISBN-13: 9783110302196

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