Pfarrer, Lehrer, Dichter, Publizist und Herausgeber

Zum 225. Geburtstag von Gustav Schwab

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

In den 1960er Jahren waren die Abenteuerbücher von Karl May für einen ostdeutschen Jungen ohne Westverwandtschaft gewissermaßen tabu. Man musste mit den „Lederstrumpf-Erzählungen“ von James F. Cooper, mit Friedrich Gerstäcker, Daniel Defoe oder Robert Louis Stevenson „vorliebnehmen“. Sie waren aber weit mehr als ein „Karl-May-Ersatz“, sie boten spannende Lektüre, die man verschlang – nicht selten mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Ein ähnliches Leseabenteuer waren die „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab, die schon Generationen von jungen Lesern mit Begeisterung verschlungen haben. Die Heldentaten des Herakles, der Kampf um Troja, die Irrfahrten des Odysseus und viele weitere bekannte Heldenfiguren … kurzum der „Schwab“ ist seit seinem Erscheinen 1838-1840 längst zu einem Standardwerk, zum Einstieg in die antike Mythen- und Sagenwelt geworden.

Zum 225. Geburtstag des Autors dieses Erfolgsbuches seien daher Leben und Werk dieses Mannes hier kurz umrissen. Gustav Benjamin Schwab wurde am 19. Juni 1792 als sechstes von sieben Kindern in Stuttgart geboren. Er stammte aus einer angesehenen württembergischen Beamtenfamilie. Sein Vater, der Theologe Johann Christoph Schwab, war Hofmeister, Geheimer Hofrat und Professor an der Hohen Karlschule, wo er u.a. auch Philosophie- und Stilistik-Lehrer des Karlsschülers Friedrich Schiller war. Er prägte den Bildungsweg seines Sohnes entscheidend.

Nach dem Besuch eines Stuttgarter Gymnasiums immatrikulierte der junge Gustav sich 1809 an der Universität Tübingen und trat in das berühmte Tübinger Stift ein. Er studierte Philosophie, Klassische Philologie und später Theologie. Während des Studiums entstanden zahlreiche Bekanntschaften und er fand Anschluss an den „schwäbische Dichterkreis“ um Justinus Kerner und Ludwig Uhland, der stark biedermeierlich geprägt war. Der junge Schwab wurde zur Mitarbeit an ihren Almanachen „Poetisches Almanach“ (1812) und „Deutscher Dichterwald“ (1813) herangezogen und konnte hier eine Anzahl von eigenen Gedichten veröffentlichen. 1813 rief er mit anderen Gesinnungsgenossen die ästhetisch-literarische Studentenverbindung „Romantika“ ins Leben. „Gewandt, geistig beweglich, liebenswürdig und gesellig“ wurde er schnell zu deren Mittelpunkt. Hier setzte man sich auch mit der patriotischen Erhebung gegen die napoleonische Fremdherrschaft auseinander, was Schwab veranlasste, sich neben der schwäbischen auch mit der norddeutschen Romantik (Schlegel, Tieck, Fouqué, Novalis u.a.) zu beschäftigen.

Nach der Beendigung seines Studiums verbrachte Schwab das Winterhalbjahr 1813/14 im ländlichen Bernhausen (südlich von Stuttgart) als Pfarrvikar, ehe er sich im Frühjahr 1815 auf eine mehrmonatige Bildungsreise durch Mittel- und Norddeutschland begab. Über Nürnberg und die Wartburg ging es zunächst nach Weimar, wo es neben einer freundlichen Aufnahme bei Schillers Witwe Charlotte auch zu einem Empfang bei Johann Wolfgang von Goethe kam. Über Jena, Naumburg, Leipzig und Dresden erreichte er Berlin, wo er sich drei Monate aufhielt und die Bekanntschaft zahlreicher Persönlichkeiten machte (Chamisso, Tieck, E.T.A. Hoffmann, Schleiermacher, Varnhagen und Fouqué). Auf der Rückreise machte er Station in Kassel bei den Gebrüdern Grimm.

Wieder in Tübingen, nahm Schwab zunächst eine Tätigkeit als Repetent am Stift auf und erhielt bereits mit 25 Jahren 1817 eine Professur für alte Sprachen am Stuttgarter Obergymnasium (dem heutigen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium). Ein Jahr später heiratete er die Professorentochter Sophie Caroline Gmelin, mit der er drei Söhne und zwei Töchter haben sollte. Das gastfreundliche Haus der Eheleute entwickelte sich zu einem literarischen Mittelpunkt nicht nur von Stuttgart, sondern von ganz Südwestdeutschland – gewissermaßen ein „Schwabscher Salon“. Schwab war zudem durch seinen lebhaften Unterricht sehr beliebt bei seinen Schülern. Während seiner Gymnasialjahre unternahm er zahlreiche Reisen (Heidelberg, Bodensee, Paris, Köln und mehrfach in die Schweiz). Überall suchte er dabei den Kontakt mit bekannten Zeitgenossen.

Neben seinem Lehramt blieb Schwab genügend Zeit für dichterische und redaktionelle Arbeiten und er entfaltete eine überaus rege Produktivität als Schriftsteller, Herausgeber, Publizist und Übersetzer. So stellte er zahlreiche kommentierte Auswahlbände deutscher Dichter zusammen – z.B. der beiden Barock-Dichter Paul Fleming („Erlesene Gedichte von Paul Fleming, mit Flemings Leben“, 1820) und Andreas Gryphius (Trauerspiel „Carl Stuart“, in reimlosen Jamben von Schwab bearbeitet, 1828). Gemeinsam mit Ludwig Uhland brachte er 1826 eine erste Auswahl von Hölderlin-Gedichten heraus. Die zweite Auflage erschien 1843, im Todesjahr Hölderlins, versehen mit einer biografischen Einleitung von Schwab und seinem Sohn Christoph Theodor. Dieser besorgte dann 1846 im Cotta Verlag „Friedrich Hölderlins sämtliche Werke“.

Ab 1825 wirkte Gustav Schwab zwanzig Jahre an den bei F. A. Brockhaus Leipzig erscheinenden „Blättern für literarische Unterhaltung“ mit. Drei Jahre später wurde er ein geschätzter Lektor und Redakteur im traditionsreichen Stuttgarter Verlag von Johann Friedrich Cotta und wirkte in dieser Funktion als Förderer und Mäzen jüngerer Autoren. Er unterstützte nicht nur schwäbische Literaten wie Eduard Mörike, Wilhelm Hauff und Gustav Pfizer sondern auch Talente aus anderen deutschen Ländern, darunter August von Platen, Nikolaus Lenau, Wilhelm Müller, Anastasius Grün oder Ferdinand Freiligrath. Seine zahlreichen Editionen ihrer Werke– meistens mit einer Biografie begleitet – bei Brockhaus oder Cotta dienten der Förderung des literarischen Nachwuchs. Heute würde man von einem Literaturmanager sprechen. Aus pädagogischem Interesse sah es Schwab außerdem als „fromme Pflicht“ an, durch „Mustersammlungen“, die vielfach aufgelegt wurden, einen Beitrag zur Verbreitung und Bewahrung deutscher Prosa und Lyrik („mit Rücksicht auf den Gebrauch in Schulen“) zu leisten.

Zu den „jungdeutschen“ Strömungen nach der französischen Julirevolution von 1830 ging Schwab jedoch aus glaubensstarkem Protestantismus auf Distanz. In dieser literarischen Fehde, die Schwab 1828 mit einer teilweise vernichtenden Rezension von Heines „Buch der Lieder“ eröffnet hatte, steckte der Angegriffene nicht zurück. In seiner Satire „Der Schwabenspiegel“ (1838) über die „Schwäbische Dichterschule“ unterstellte Heine deren Mitgliedern Provinzialität und Borniertheit, wobei Schwab noch glimpflich davon kam: „Der Bedeutendste von ihnen ist der evangelische Pastor Gustav Schwab. Er ist ein Hering im Vergleich mit den anderen, die nur Sardellen sind; versteht sich, Sardellen ohne Salz.“ Er hat einige schöne Lieder gedichtet, auch etwelche hübsche Balladen; freilich, mit einem Schiller, mit einem großen Wallfisch, muss man ihn nicht vergleichen.“

Zu Schwabs umfangreichen literarischen Tätigkeiten gehörten auch Übersetzungen. So übertrug er Uhlands Gedichte ins Lateinische und mit den Übersetzungen französischer Autoren (Alphonse de Lamartine, Auguste-Marseille Barthélemy, Joseph Mery und Victor Hugo) machte er diese für das deutsche Lesepublikum zugänglich. Daneben veröffentlichte Schwab einige Reisehandbücher, die sich durch poetische Landschaftsbeschreibungen und eingestreute Romanzen auszeichneten: „Die Neckarseite der Schwäbischen Alb“ (1823), „Der Bodensee nebst dem Rheinthale“ (1827) und „Wanderungen durch Schwaben“ (1837). Landschaft war für Schwab nicht nur Kulisse, sondern ein tiefer Erfahrungsraum.“ 1840 erschien außerdem „Schillers Leben in drei Büchern“ – eine für die damalige Zeit verdienstvolle Schiller-Biografie, die in der zeitgenössischen Kritik große Anerkennung fand. Weiterhin war Schwab Leiter (1827-1837) des literarischen Teils des Cottaschen „Morgenblatts für gebildete Stände“, der führenden belletristischen Zeitschrift der ersten Jahrhunderthälfte. Mit Adelbert von Chamisso gab er von 1833 bis 1838 den einflussreichen „Deutschen Musenalmanach“ heraus.

Hatte Schwab durch seine guten Kontakte zum Verlagswesen junge Schriftsteller, vor allem Lyriker, tatkräftig unterstützt, so war auch seine eigene lyrische Produktivität umfangreich und fand zu seiner Zeit große Verbreitung – zum Beispiel sein volkstümliches Studentenlied „Burschenabschied“ („Bemooster Bursche zieh ich aus“). Die Nachwelt urteilte jedoch anders, fand seine Gedichte zwar liebenswürdig, aber betulich und anspruchslos. Schwab fehlte einfach das lyrische Empfinden und die Musikalität der Sprache. Seine Gedichte waren häufig Nachahmungen seiner geschätzten Vorbilder Uhland und Platen. Gelegenheitsgedichte nahmen einen großen Raum ein. Stark geprägt von romantischen Themen und Formen waren die meisten nur prosaische Anekdoten in gereimten Versen. So gerieten seine „Romanzen aus dem Jugendleben Herzog Christophs von Württemberg“ (1819) und die zweibändige Ausgabe seiner „Gedichte“ (1828/29) nach seinem Tode schnell in Vergessenheit. Heute findet man in Lyrik-Anthologien kaum noch ein Gedicht von Schwab, vielleicht mit Ausnahme seiner Sagenballade „Der Reiter und der Bodensee“ oder der Schauerballade „Das Gewitter“, die mit der schaudervollen Strophe endet:

Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind,
Vier Leben endet ein Schlag –
Und morgen ist’s Feiertag.

Das Gedicht beruhte auf einer wahren Begebenheit: Am 30. Juni 1828 hatte ein Blitz in der württembergischen Stadt Tuttlingen zehn Bewohner eines Hauses getötet, darunter Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin.

Nach zwei Jahrzehnten im Lehramt und unzähligen Aufgaben neben seiner beruflichen Tätigkeit, gab Schwab 1837 seine Stellung als Gymnasiallehrer und als Redakteur beim „Morgenblatt“ auf und zog sich nach Gomaringen bei Tübingen zurück, wo er für vier Jahre Landpfarrer wurde. In Stuttgart hatte er inmitten des kulturellen Lebens gestanden, aber selbst in dieser ländlichen Abgeschiedenheit führte er ein gastfreundliches Haus, in dem er oft anregenden Besuch empfing. In diesen vier Gomaringer Jahren entstand Schwabs „Hauptwerk“, mit dem er Eingang in die deutsche Literaturgeschichte fand. Bereits 1835 hatte er mit die „Dichter des alten Griechenlands und Roms“ eine für die Jugend bearbeitete Darstellung der literarischen Antike vorgelegt.

Nun begann Schwab mit einem aufwändigen Projekt: Aus griechischen und lateinischen Dichtungen, aus verstreuten Chroniken und Fragmenten wollte er mit einer mehrbändigen Nacherzählung ein farbenprächtiges Bild der Antike schaffen. Der erste Band widmet sich den Sagen vor dem Trojanischen Krieg (hierzu zählen u.a. Prometheussage, Argonautensage und Heraklessage), während der zweite Band ausführlich die Sage um Troja (Ilias) bis zum Niedergang der Stadt und zum Sieg der Griechen behandelt. Der Abschlussband vereinigt dann die Heimkehr der griechischen Helden einschließlich der Irrfahrten des Odysseus und des Aeneas und der Gründung Roms.

Diese einzelnen Sagenkreise setzte Schwab zu einem großartigen Mosaik zusammen. Nach eigenen Angaben verwendete er Texte von Homer, Vergil sowie von den „berühmtesten Dichtern des griechischen und römischen Altertums, Sophokles, Euripides, Horaz, Ovid u.a.“ Aus all diesen Quellen filterte er eine einheitliche, geschlossene Darstellung, die nie trocken oder gelehrsam wirkt. Seine Bemühungen um die Darbietung des antiken Sagengutes waren geprägt von einem pädagogischen Anliegen: Er wollte die Stoffe, ihre vielschichtige Gestaltung und deren oft komplizierte mythologische Verknüpfungen vor allem einer jugendlichen Leserschaft zugänglich machen. Außerdem entfernte er alles, was in seiner Zeit anstößig wirken konnte. Schwab wählte die Prosaform, die es ihm gestattete, die Handlung und die Personen äußerst plastisch vor dem inneren Auge des Lesers erstehen zu lassen. Schwab verzichtete bewusst auf ausführliche Erörterungen, um den Lesefluss nicht zu stören.

Obwohl Schwab in seinen „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“ nicht auf altertümliche Wendungen und (heute ungewohnte) Schachtelsätze verzichtete, sind sie längst selbst zu einem Klassiker geworden. Hermann Hesse drückte 1910 die Begeisterung vieler Generationen so aus: „Hier können wir harmlos, und unbeirrt von den Händeln und Stänkereien der Philologen, im Land der Griechen und Trojer wandeln und vom Zorn Achills wie vom Unglück des Ikarus in gutem Deutsch ohne Noten und Kommentare lesen.“

Mitten unter den Dahineilenden bewaffnete sich Achill, mit den Zähnen knirschend und Glut in den Augen wie feurige Lohe. Er ergriff das Göttergeschenk, legte zuerst Schienen und Knöchelbedeckung an, dann bekleidete er die Brust mit dem Harnisch, warf das Schwert um die Schulter und ergriff den Schild, der dem Vollmond ähnlich durch den Äther glänzte. Hierauf setzte er den schweren Helm mit dem hohen goldenen Busch, strahlend wie ein Gestirn, aufs Haupt, und die Mähne flatterte aus gesponnenem Golde von ihm herab.

1841 gab Schwab schließlich das Pfarramt in Gomaringen auf und kehrte nach Stuttgart zurück, wo er das Pfarramt von St. Leonhard übernahm. Ein Jahr später wurde er zum Dekan der höheren Schulen in Württemberg ernannt. 1845 folgten die Berufung zum Oberkonsistorialrat und Oberstudienrat und damit die Oberaufsicht über die höheren Schulen in Württemberg. 1847 wurde Schwab schließlich die Ehrendoktorwürde der Theologie der Universität Tübingen verliehen. Trotz dieser mannigfaltigen beruflichen Pflichten blieb Schwab literarisch tätig. 1843 veröffentlichte er die zweibändige Mustersammlung „Die deutsche Prosa von Mosheim bis auf unsere Tage“ und 1846 mit Karl Klüpfel, seinem Schwiegersohn, einen „Wegweiser durch die Litteratur der Deutschen. Ein Handbuch für Laien“. Mit nur 58 Jahren starb Gustav Schwab am 4. November 1850 an einem schweren Herzanfall und wurde auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof beigesetzt. Sein Schwiegersohn brachte 1858 eine erste Schwab-Biografie heraus, der sein Sohn Christoph Theodor 1883 eine weitere folgen ließ.

In dem Schwäbischen Dichterkreis um Uhland, Kerner, Schwab, Hauff und Mörike nimmt Gustav Schwab sicher die literarisch schwächste Stellung ein. Er war der Schulpolitiker, Publizist, Rezensent und Herausgeber – und das auf hohem Niveau. Damals drängte das Bürgertum nach umfassender Entwicklung und Bildung. Der umtriebige Schwab zeigte hierin Verantwortung, wobei ihm die literarische Bildung, vor allem der Jugend, besonders am Herzen lag. Mit seinen „Sagen des klassischen Altertums“ war er nicht nur der wichtigste Vermittler bei der Aneignung dieser Dichtung der Weltliteratur, sondern hat auch manchen aus dem Dichterkreis in der Nachwirkung übertroffen.