Zur produktiven Unschärfe des Mediävalismus

Richard Utz‘ Plädoyer für eine undisziplinierte Mediävistik

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

‚Medievalism‘ ist ein Wort, das recht glatt von der Zunge geht, und über 450.000 Treffer in der weltgrößten Suchmaschine sowie über 250 Einträge im RI OPAC deuten auf eine solide Position des damit bezeichneten Phänomenkomplexes in der anglophonen Welt. Im deutschsprachigen Raum, folgt man dieser zugegeben etwas kruden Erhebung, kann davon keine Rede sein: Rund 2.500 Treffer ergibt das sperrige Konstrukt ‚Mediävalismus‘ bei Google, der RI OPAC listet gerade einmal 7 Einträge, bei einer Dopplung; Alternativformen wie ‚Mediävismus‘, vorgeschlagen 2008 von Valentin Groebner in Das Mittelalter hört nicht auf, haben derzeit einen noch schwereren Stand. Und dann erscheint alles noch ex negativo angesprochen, als Unschärfe und Undiziplin?

Es ist zunächst nicht so, als sei ein solcher Mediävalismus eine jüngste Wortschöpfung; in Otto Gerhard Oexles Studien zum Historismus etwa findet sich der Terminus bereits in den 1990er Jahren. Man wird aber Jutta Schloons Bemerkung von 2012 (in Herwegs & Keppler-Tasakis Rezeptionskulturen) weiterhin zustimmen dürfen, der Begriff ‚Mediävalismus‘ sei „in der germanistischen Forschung bisher noch nicht fest etabliert“; Schloons Verweis auf Ludolf Kuchenbuchs einschlägigen Beitrag im Handbuch der Kulturwissenschaften von 2004, „Mediävalismus und Okzidentalismus“, kann ich dann hingegen gerade nicht als Beleg einer vermeintlich intensiveren geschichtswissenschaftlichen Übernahme der angloamerikanischen Forschung verstehen. Vielmehr steht dieser Mediävalimus/Mediävismus terminologisch und damit offenbar auch inhaltlich doch weiterhin am Anfang – oder vielleicht schlicht am Rande – der Wahrnehmung in der deutschsprachigen Mittelalterforschung generell.

Diese Momentaufnahme ist, wie gesagt, eine Vereinfachung. Sie gewinnt dennoch an Gewicht, wirft man einen Blick auf das Oeuvre des Mannes, der nun im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert eigener Forschungstätigkeit ein so genanntes Manifest über Notwendigkeit und Nutzen der intensivierten Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚medievalism‘ vorgelegt hat. Seit den frühen 1990er Jahren hat sich Richard Utz (*1961), Präsident der International Society for the Study of Medievalism, sehr regelmäßig zu Wort gemeldet zu, wie er selbst Mediävalismus umreißt, „the ongoing and broad cultural phenomenon of reinventing, remembering, recreating, and reenacting the Middle Ages“. Entsprechend selbstbewusst verkündet er nun „nothing less than a foundational change in the way we conceptualize what it means to be a member of the academy“, und der angenehme Umfang seines Aufrufs von 100 Seiten sowie der kleine Preis von 15 $ dürften dazu beitragen, dass diese Botschaft zunächst einmal Verbreitung erfährt, im akademischen wie im nichtakademischen Umfeld. Was jeder Einzelne dann daraus macht, ist eine andere Frage, zumal jenseits des angloamerikanischen Raums. Utz selbst bemerkte jüngst nüchtern in einem Interview: „many colleagues will continue to investigate and write on what they consider the ‚real‘ Middle Ages“.

Mit der darin angedeuteten Frontstellung ist umrissen, worum es in diesem Manifest grundsätzlich geht: das Brückenbauen über die seit dem 19. Jahrhundert gewachsene Kluft zwischen professionellen Mittelalterstudien und der Mittelalterrezeption einer breiten Öffentlichkeit. Die Existenz einer solchen Kluft ist zunächst keine neue Einsicht, und das Plädoyer für einen intensivierten Austausch dieser Sphären ist auch andernorts immer mal wieder zu vernehmen; erinnert sei an Groebners Schrift von 2008, in der es, mit den Worten Kuchenbuchs in einer Besprechung, um „die programmatische Verklebung von Mediävismus und Mediävistik“ geht (Utz erwähnt die Publikation im Anhang). Im vorliegenden Manifest – das in einem halben Dutzend Kernsätzen mündet – erscheint dieses Plädoyer aber ungewohnt intensiv, und das liegt vor allem daran, dass Utz sich nicht zum vermeintlich objektiv-neutralen Kommentator emporschwingt, sondern seinen Werdegang als ‚medievalist‘ und ‚medievalism-ist‘ eng mit seiner privaten Biographie verknüpft. Dabei gereicht ihm zum Vorteil, dass er auf lange Erfahrung einerseits im deutschen, andererseits im US-amerikanischen Universitätssystem und auf entsprechende Einsicht auch in beide Gesellschaften blicken kann. In Fallstudien weiß er dieses Potenzial dann eloquent zuzuspitzen – auch wenn seine wuchtigen Schlussfolgerungen zur „ethical obligation“ des Mittelalterspezialisten den raffenden Charakter dieser Beispiele weit hinter sich lassen; im Detail bleibt vieles nur angedeutet, anderes wird abgeschnitten, aber an solchen Dingen hat sich ein Manifest wohl nicht zu stören. So trifft es dann durchaus zu, wenn Utz selbst sein jüngstes Buch unter dem Schlagwort „meta-perspective“ verortet, aber eben eine, die keine Universalverkündung anstrebt, sondern die stark auf das subjektive Element des historischen Denkens abhebt.

Darin liegt fraglos die Stärke dieses Beitrags: Einerseits hält Utz dem internationalen Kollegium den Spiegel vor, ohne sich selbst aus der Reflexion auszublenden, andererseits nimmt der unprätentiöse Blick über konstruierte Grenzen hinweg auch ein Laienpublikum ernst. Kuchenbuch sprach 2004 von einer „sublimierten Spiegelbildlichkeit von Mediävalismus und Mediävistik“, im Sinne der „Kopplung des gesellschaftlich relevanten ‚Forschungsinteresses‘ (Thema) mit der operativ angemessenen ‚Fragestellung‘ (Methode)“. David Matthews bezeichnete ‚medievalism‘ 2015 schlicht als „undiscipline“. Auch für Utz ist die „productive uncertainty“ des Zusammenspiels von Mittelalterstudien und Mediävalismus eine Kernidee – eine Unschärfe, die über alle Disziplin- und Kulturgrenzen hinweg wirkt, ohne die interessierte Öffentlichkeit einseitig zu bevormunden oder der Wissenschaft ihre Wissenschaftlichkeit zu nehmen. Nur zulassen muss man diese Unschärfe eben.

Dieses Zulassen und Einlassen zum gegenseitigen Nutzen von Fachwelt und Öffentlichkeit als Dokument persönlicher Überzeugung vorgelegt zu haben, ist Utz anzurechnen. Mag man sein Manifest als genuine Streitschrift verstehen oder als souveräne Zusammenfassung, einen weiteren Gedanken ist es fraglos wert. Denn Utz‘ Fallstudien streuen zwar räumlich und zeitlich, sein daran anknüpfendes Plädoyer lässt sich aber mühelos für das Hier und Jetzt aktualisieren. Die Stimme der deutschsprachigen Geschichtsspezialisten, die die gesellschaftliche Orientierungsfunktion ihres Tuns ja doch irgendwie stolz-schweigend voraussetzen, scheint mir angesichts der herausfordernden letzten Jahre doch meist sehr leise oder sehr verklausuliert gewesen zu sein. Utz‘ Manifest liefert nun all jenen etwas im wahrsten Sinne Handgreifliches, die auf ihre alten oder jungen Tage den Ausbruch aus erstarrten Denk- und Verhaltensmustern versuchen wollen. Bleibt zu hoffen, dass die deutschsprachige Mediävistik daran anzuknüpfen weiß.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Richard Utz: Medievalism. A Manifesto.
PDF.
Arc Humanities Press - Medieval Institute Publications, Kalamazoo 2017.
95 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9781942401025

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