Tödliche Pädagogik

Kanae Minato inszeniert in „Geständnisse“ die Rache einer japanischen Lehrerin

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine literarische Zeitdiagnostik zum Werteverfall der japanischen Gesellschaft und zur Verrohung der jüngeren Generationen im Zuge einer Ausrichtung an Leistung und Konsum kam seit den 1990er-Jahren zum Tragen. In „Bubblonia“ (Natsuo Kirino), dem „Land der großen Seifenblase“, war Adoleszenz ein Alptraum, die seelische Gesundheit gefährdet, und nicht selten entstanden hier „Mörderkinder“, die ihren Hass auf den oft abwesenden Vater oder die fordernde, neurotische Mutter in drastischen Taten ausagieren. Bekannte Texte zum Thema stammen von Ryû Murakami, Natsuo Kirino, Miri Yû, Kôshun Takami oder Akira Kuroda. Die literarischen Repräsentationen sozialer Psychopathologie stehen in engem Bezug zu einer scheinbar wachsenden Jugendkriminalität (shônen hanzai) und beziehen sich auch auf Makrosoziologie und Kulturdiskurs, die sich ihrerseits vermehrt mit problematischen Soziotypen wie Freeter, NEET und hikikomori (Soziophobe) auseinandersetzen.

Inhaltlich ist Kanae Minatos Geständnisse diesem Diskussionsfeld zuzuordnen. Der Roman wurde 2008 im Original veröffentlicht. Er bietet dem Leser ein Mordszenario im Schülermilieu, in dessen Mittelpunkt die Tötung der kleinen Tochter der alleinerziehenden Lehrerin Moriguchi steht. Das Kind, ein Hasenfan, wird von zwei Schülern ihrer Klasse mit einem Kuschelhasen-Täschchen angelockt, um dann ein trauriges Ende im Schwimmbad der Schule zu finden – sozusagen ein Opfer der „Cutie“ (kawaii)-Industrie und der Verführung durch den alltäglichen Imperativ des Haben-Wollens. Moriguchi tritt nun an, ihre Rachepläne in die Tat umzusetzen, und sie erweist sich dabei als äußerst erfolgreich. Den Verlauf der Ereignisse erzählt die Autorin in fünf Kapiteln, die jeweils aus der Sicht eines Protagonisten berichten. Insofern könnte man den Text unter das Motto „Mord in fünf Akten“ stellen, erläutert er doch in einzelnen Szenen die Gedanken der Mitspieler in diesem Dramolett, das mit der Bestrafung des von seinem Mutterkomplex zu falscher Genialität verleiteten Täters ganz auf den Überraschungseffekt am Ende baut.

Kanae Minatos Agenda, die sie durch ihre Figuren verhandelt, bleibt auf einer schematischen Ebene und ist im Vergleich zu den Vorgängerwerken nicht allzu raffiniert gestaltet. Sie greift Ryû Murakamis Thema vom Kind als gefährdetem „Versuchskaninchen“ auf, das den Ideen und Ideologien der Eltern und des Staates ausgeliefert ist, um letztlich an falschen Vorstellungen zugrunde zu gehen. Gelungen wird dies mit dem Milchexperiment an der Mittelschule Moriguchis veranschaulicht, die „für die Kampagne des Gesundheitsministeriums zur Förderung von Milchprodukten“ ausgewählt wurde – die japanische Regierung lässt dann bei der Schuluntersuchung prüfen, ob Wachstum und Knochendichte ihres Humankapitals über dem landesweiten Durchschnitt liegen. In Teilen erweist sich der Text geradezu als weltanschauliche Lektüre, die Erkenntnisse über den „Sinn des Lebens“ zusammenträgt beziehungsweise sich – aus der Sicht der Lehrerin und aus der der Schüler – mit Fragen nach der menschlichen Natur und der Moral befasst. Während sich mancher wohlmeinende Lehrer um eine ethisch ausgerichtete Pädagogik der „zweiten Chance“ bemüht, ein anderer sich gegen Allesversteher-Erziehung wendet und um Grenzen ringt, die die Zöglinge einzuhalten hätten, kultivieren einige Schüler in ihren Denkvorgängen ein kindliches Moratorium und suhlen sich im jugendlichen Nihilismus: „Nichts als langweiliger Mist wie alles andere. Es ist langweilig weiterzuleben, aber genauso langweilig sich umzubringen“.

An eine „faszinierend-verstörende Geschichte“, wie sie die Verlagswerbung ankündigt, wären sicher größere Erwartungen heranzutragen. Die Autorin ist, wie es wohl aus diesen wenigen Darlegungen bereits ersichtlich geworden ist, keine Vertreterin der ersten Schriftstellerriege im Land. Dennoch könnten die „Geständnisse“ eine solide Lektüre bieten, würde der Lesegenuss bei diesem Text der japanischen Unterhaltungsliteratur, die der deutsche Buchmarkt seit kürzerem entdeckt hat, weniger durch sprachliche Defizite der Übersetzung beeinträchtigt. Übersetzt wurde nicht direkt aus dem Japanischen, sondern aus der amerikanischen Version, was der etwas hölzernen Diktion kaum anzumerken ist, kann man doch von einer leichteren Übertragbarkeit des Englischen ausgehen.

Für diejenigen, die sich für die japanische Gegenwartskultur interessieren, bietet die Lektüre aber einige weitere Erkenntnisse dahingehend, wie man auch in Japan die „Matrix“ der gesellschaftlichen Orientierung im 21. Jahrhundert mit Skepsis betrachtet. Mag Minatos einigermaßen altbackene Reflexion von Erziehung nur leidlich überzeugen, bleibt die vom Sohn einer Physikerin konstruierte „Schockgeldbörse“, respektive sein Grundmodell einer „Exekutionsmaschine“ als Allegorie auf die naturwissenschaftlich-technischen Sünden der Moderne und auf kapitalistische Strukturen doch in Erinnerung.

Titelbild

Kanae Minato: Geständnisse. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Lohmann.
C. Bertelsmann Verlag, München 2017.
270 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783570102909

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