Negative Leidenschaften

Mit „Rückkehr nach Reims“ liefert Didier Eribon eine Selbsterkundung aus der Täterperspektive

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1993 die deutsche Ausgabe des Interviewbands Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen erschien, fand Ernst Gombrich lobende Worte für seinen Gesprächspartner: „Ich freute mich auf seine Besuche, da ich bald merkte, wie gründlich er meine Schriften gelesen hatte und wie sehr es ihm darauf ankam, Unklarheiten aufzuklären“. Damals hatte sich Didier Eribon, der junge Journalist um den es hier ging, schon einen einflussreichen Platz im französischen Kulturleben gesichert. Durch die erwähnte Gründlichkeit, aber auch durch Humor und Unerbittlichkeit hoben sich seine Rezensionen im „Nouvel Observateur“ von der etwas gefälligen und oberflächlichen Pariser Literaturkritik ab. Darüber hinaus hatte er mit einer bis heute unübertroffenen Biografie den Grundstein der Foucault-Forschung gelegt. Trotzdem war es für viele französische Beobachter erstaunlich, wie sich die Karriere Eribons in den Neunzigern und nach der Jahrtausendwende weiterentwickelte. Hatte er bis dahin vor allem die Werke der anderen analysiert, so trat er immer selbstbewusster als eigenständiger Denker auf. Wie jeder Statuswechsel wurde auch dieser nicht allerseits akzeptiert. Mit der Berufung auf einen Lehrstuhl an der Universität Amiens konnten aber selbst seine Gegner schwer übersehen, dass der ehemalige Journalist sich erfolgreich neu erfunden hatte. Kurz darauf vollzog er eine erneute Wende, die das Publikum dazu zwang, ihn noch einmal mit ganz anderen Augen zu betrachten.

In einem der ersten Kapitel des autobiografischen Berichtes Rückkehr nach Reims (Original 2009) wird folgender Dialog wiedergeben: „‚Wer ist das?‘, fragte ich meine Mutter. ‚Na dein Vater, erkennst du ihn nicht?‘“ Nicht nur, weil dessen Gesicht durch Krankheit gezeichnet ist, vermag Eribon es auf einer der letzten Fotoaufnahmen nicht zu identifizieren. Seit Jahrzehnten hat er das Elternhaus in der französischen Provinz nicht mehr betreten. Seine Liebe zum eigenen Geschlecht hatte den Vater immer abgestoßen. Keineswegs soll das Buch aber die psychoanalytische Beleuchtung einer schwierigen Vater-Sohn Beziehung liefern – vielmehr werden Fragen erörtert, die sich Eribon in den Tagen nach dem Tod des Vaters immer stärker aufdrängten: War die Abkehr von seiner Familie wirklich nur eine Reaktion auf die Ablehnung, die er erfahren hatte? Aus welchem Grund hatte er, der ziemlich frei über seine sexuelle Orientierung schrieb, immer so hartnäckig verschwiegen, dass er der Sohn eines Arbeiters und einer Putzfrau war?

Vordergründig handelt es sich hier also um den Versuch, den eigenen Widersprüchen mit der größtmöglichen Unerbittlichkeit – diesmal eben gegen sich selbst – auf den Grund zu gehen. Diese Selbsterkundung wird in eine allgemeine Betrachtung über die französische Gesellschaft und ihre Unterdrückungsmechanismen eingebettet, die nicht ganz neu ist. Ähnliche Gedanken konnte man bereits 1988 in Lothar Baiers Essay Firma Frankreich lesen. Es werden jedoch viele Phänomene mit einer gewissen Intensität sichtbar gemacht. Weit in die Vergangenheit geht Eribon zurück, um die Lebensläufe eines bekannten französischen Intellektuellen und seiner eher glücklosen, ihm lange Zeit peinlichen Angehörigen zu beleuchten. Seinen uneingestandenen, unreflektierten Widerwillen gegenüber der Welt seiner Kindheit hat er überwunden, ohne sie im Gegenzug zu idealisieren. Selten wurde mit solcher Klarsicht über das geschrieben, was Eribon die „negativen Leidenschaften“ großer Teile der Arbeiterklasse nennt: ihre rassistischen Ressentiments, ihre Verachtung für die Bevölkerung maghrebinischer Herkunft.

Nur zu sich selbst findet Eribon nicht immer die richtige Distanz. Mehrmals hebt er die Umformung der Vergangenheit in autobiografischen Berichten hervor – und doch tappt er genau in diese Falle. Über seine Mitarbeit beim „Nouvel Observateur“ ist zu lesen, dass jeder seiner Artikel, jedes seiner Interviews neokonservative Kollegen „in Rage“ gebracht hätten. In Wahrheit gab es wenigstens zeitweise einen Konsens, den er heute nicht mehr wahrhaben will. Ganz auf der Linie der Zeitschrift prangerte er Anfang der 1990er-Jahre den Minderheitendiskurs an, der sich in Anlehnung an Jacques Derrida in der akademischen Welt der USA etablierte – das Wort „Minderheiten“ setzte Eribon übrigens in Anführungszeichen, als ob es ihm suspekt wäre. Seinen Lesern erklärte er, es handle sich dabei um eine „obskurantistische Bewegung“. Er ging sogar so weit, den amerikanischen Uni-Betrieb in die Nähe der ungarischen Räterepublik von 1919 zu rücken, in der vermeintliche „Deserteure“ an die Wand gestellt wurden. Umso lobenswerter eigentlich, dass Eribon ein paar Jahre später einige der profiliertesten Vertreter dieses Minderheitendiskurses auf ein Pariser Symposium einlud. Man hätte in der sonst doch recht detaillierten Beschreibung seines intellektuellen Werdegangs gerne etwas über den Lernprozess gelesen, der zu einer solchen Kehrtwende führte.

Noch problematischer als solche Auslassungen und die manchmal extrem positive Selbstdarstellung (zum Beispiel, wenn der Autor seine eigene Foucault-Biografie in den höchsten Tönen lobt) bleibt allerdings, dass Eribon nur selten eine Sprache findet, um seine Erfahrungen und Einsichten zu vermitteln. In einem Interview erklärte er seine Absicht, mit diesem Buch „die Grenzen zwischen Literatur und Theorie zu verwischen“. Wenn man den Ausführungen Eribons Glauben schenkt, sollten die Verweise auf andere Werke eine übertriebene, ungefilterte Emotionalität verhindern und produktive Reibungsflächen zwischen „feinsten Bestandteilen des Alltags“ und den „pointiertesten Äußerungen der wissenschaftlichen und literarischen Kultur“ schaffen. Mit den unzähligen Zitaten von Autoren wie beispielsweise James Baldwin gesteht Eribon aber letztlich sein erzählerisches Unvermögen. Mehrmals leitet er sie mit Formulierungen wie folgender ein: „Dieselben Wörter, dieselben Sätze kann auch ich verwenden“. Dort, wo die Beschreibung eigentlich gerade erst ansetzen müsste, bricht sie ab und Eribon übergibt das Wort an berühmte Schriftsteller. Wenn er von der grausamen Strafe erzählt, die seine Großmutter nach dem Ende der deutschen Besatzung wegen einer vermeintlichen Affäre mit einem deutschen Offizier ereilte, beruft er sich auf die „rohen, brutalen Fakten“, kann es sich aber doch nicht verkneifen, innerhalb von wenigen Absätzen viermal die Goncourt-Preisträgerin Marguerite Duras heranzuziehen und Verse aus einem kanonischen Gedicht von Paul Eluard zu zitieren (sogar der französische Staatspräsident hat es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen deklamiert). Neben der selbsterklärten literarischen Ambition unterläuft diese Schreibweise auch die politische Dimension von Eribons Programm: Während er die Distanz zu seinem Herkunftsmilieu zumindest teilweise überbrücken wollte, wird sie im Text durch die peinlich genaue Einhaltung aller Standards der Hochkultur auf subtile Weise noch einmal bekräftigt.

Es sind aber gerade solche Widersprüche, die letztendlich die Originalität der Rückkehr nach Reims ausmachen. Ein deutscher Rezensent schrieb, man solle vor allem „Eribons Porträt seiner tapferen Mutter anerkennen“. Wenn man es recht bedenkt, ist die Schlüsselfigur des Buches wohl eher die bereits erwähnte Großmutter des Autors. Sie war ein Opfer der Umstände, gleichzeitig hat sie aber auch viele Menschen in ihrer nächsten Umgebung verraten und verletzt. Ihre eigene Tochter zum Beispiel hat sie während des Krieges im Stich gelassen und einem fast sklavischen Dasein ausgeliefert. Auf beeindruckende und beängstigende Art verkörpert sie eine Freiheit, die mit dem soziologischen oder dem psychologischen Instrumentarium nicht zu greifen ist. Hier betreten wir die „‚Hölle‘ der menschlichen Negativität“, die den jungen Michel Foucault so stark beschäftigte und auf die auch Eribon im Laufe seines Berichts verweist. An diesem Ort wird den „negativen Leidenschaften“ nachgegangen, aber auch eine Energie freigesetzt, die dem Individuum die Erfindung neuer Identitäten ermöglicht. In dieser Hölle lebt der junge Eribon, der einen angeblich „verweiblichten“ Kameraden gnadenlos schikaniert und später zum Verteidiger der Schwulenrechte wird. Hier treffen wir den Journalisten Eribon, der einen Frontalangriff auf die Political Correctness startet und sich dann zu einem renommierten Denker der Minderheiten entwickelt. Nicht zuletzt findet man hier auch den Privatmenschen Eribon, der seiner Familie drei Jahrzehnte lang den Rücken kehrt und dann ein Buch über sie schreibt. Sein schlechtes Gewissen ist oft nicht sehr glaubwürdig, aber genau das macht Rückkehr nach Reims zu einem großen Dokument über Gefühlskälte und Kreativität. Es kommt nicht so oft vor, dass man eine Selbsterkundung aus der Täterperspektive lesen darf.

Titelbild

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Haberkorn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
238 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518072523

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