Eine Literaten-WG um 1800

Der Sammelband Dirk von Petersdorffs und Ulrich Breuers bietet Close-Ups zum Jenaer Romantikertreffen im Jahr 1799

Von Olivia VarwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olivia Varwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein paar Homies hängen ’ne Weile in ’ner WG in Jena ab, chillen, feilen an ihren Lyrics und batteln sich darüber. – Und über 200 Jahre später tut sich eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen und schreibt ein ganzes Buch über ebendieses Treffen. Und die deutsche Literaturgeschichte teilt in ein Davor und ein Danach. Zumindest was die Gruppe der Frühromantiker betrifft. Denn diese Freunde waren keine geringeren als Friedrich von Hardenberg, auch bekannt als Novalis, Ludwig Tieck und Friedrich Wilhelm Schelling, die in der Wohngemeinschaft der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel zu Gast waren. Die Tage im November 1799 waren strukturiert von gemeinsamen Mahlzeiten, zwischen denen vormittags und nachmittags Individualarbeitsphasen an der Tagesordnung waren. Abends traf man sich zum geselligen Beisammensein mit literarischen und/oder philosophischen Diskussionen, wo eigene oder fremde Werke – meist von der „Lesemaschine“ Ludwig Tieck – vorgelesen und kritisch besprochen wurden. Es wurde streitfreudig polemisiert und manchmal entstand sogar unter großem Gelächter ein gemeinsames Spottgedicht. Sehr kontrovers diskutierte man insbesondere über Hardenbergs Rede Die Christenheit oder Europa und Schellings in direkter Reaktion darauf entstandenes Spottgedicht Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens. Der Streit darüber und ob man die beiden Texte im Athenaeum, der Zeitschrift der Brüder Schlegel, drucken solle, eskalierte derart, dass man Johann Wolfgang von Goethe als Schiedsrichter hinzuziehen musste. Über die Diskussionen selbst ist wenig bekannt. Nur aus einigen Briefen, insbesondere von Dorothea Veit (der Lebensgefährtin und späteren Ehefrau von Friedrich Schlegel) wissen wir einiges über den Ablauf. Die Texte wurden erst sehr viel später gedruckt – und die Gruppe hat sich durch dieses Treffen nachhaltig verändert.

Dirk von Petersdorff und Ulrich Breuer haben nun gemeinsam einen Sonderband des Athenäums (nicht der Schlegel-Zeitschrift, die von 1798 bis 1800 erschien, sondern des heutigen Jahrbuchs der Friedrich Schlegel-Gesellschaft) herausgegeben. Er ging aus einem Jenaer Workshop von 2014 hervor und befasst sich ausschließlich mit diesem singulären Ereignis der deutschen Literaturgeschichte. Dieses wird von allen Seiten und aus allen denkbaren Perspektiven beleuchtet. In der Einleitung beschreiben Petersdorff und Breuer die Versuchsanordnung des Experiments und reißen die Relevanz und Tragweite des Treffens an. Es folgen einzelne Abhandlungen, in denen zunächst die räumliche und gesellschaftlich-literarische Bedeutung der Schlegel-WG beschrieben wird. Anschließend bekommt jeder der am Treffen Beteiligten einen Anwalt an die Seite, der für ihn spricht und versucht, seine Position bei dieser Begegnung nachzuvollziehen und zu erläutern. Im Anhang kommen die Kontrahenten auch wirklich selbst zu Wort: Man hat sich dankenswerter Weise dafür entschieden, die beiden Texte, die auf dem Romantikertreffen so kontrovers diskutiert wurden, hier nun erstmalig gemeinsam abzudrucken. Das erleichtert den Lesern das Verständnis der Aufsätze und Positionen, aber nicht nur das: Schön daran ist auch, wie Petersdorff und Breuer schreiben, dass die Rede und das Gedicht, deren Veröffentlichung 1799 abgelehnt wurde, „gut zweihundert Jahre später doch noch gemeinsam im Athenäum erscheinen“, entgegen Goethes Rat – eine sehr weise Entscheidung. Auch August Wilhelm Schlegels Gedicht Der Bund der Kirche mit den Künsten wurde abgedruckt – dieses ist damals zeitnah entstanden und steht exemplarisch für Schlegels geradezu ästhetisierende Sichtweise auf das Thema, wodurch sich seine Position in der Debatte erahnen lässt. Durch diese verschiedenen Perspektiven und die im Anschluss gegebenen Originale (es empfiehlt sich selbstredend, diese zuerst zu lesen und sich damit bewaffnet in die Diskussion zu stürzen), erhalten die Leser ein umfassendes und vielschichtiges Bild der damaligen Geschehnisse. Man kann den Herausgebern zu dieser Idee des „Close-Ups“ eines solitären und zentralen Ereignisses in der Entwicklung der romantischen Strömung nur gratulieren.

Die Beiträge selbst sind so unterschiedlich wie ihre Gegenstände. Im ersten Text beleuchtet Betty Pinkwart die äußeren Umstände des Zusammentreffens. Dabei baut sie auf Vorarbeiten von Peer Kösling auf, der die Jenaer Wohnung der Brüder Schlegel zweifelsfrei identifizierte. Daraufhin versucht Pinkwart, das Haus als „Kontext von Sozialisation“ und „Vergemeinschaftung“ mithilfe eines soziologischen Ansatzes einzuordnen. Der Erkenntnisgewinn dieses Versuchs bleibt allerdings fraglich, denn er geht nicht über Allgemeinplätze hinaus. Die Beschreibung des Zusammenlebens im Haus anhand von Briefzeugnissen ist dagegen sehr überzeugend und schafft den Rahmen für die einzelnen im Band folgenden Perspektiven. Dies macht die Umstände des Treffens und dessen Atmosphäre fast plastisch erfahrbar: Vor dem geistigen Auge entsteht ein eindringliches Bild des Alltags, der Arbeitsweisen und des geselligen Zusammenlebens.

Ludwig Stockinger übernimmt die Position Friedrich von Hardenbergs (Novalis), der mit seiner Rede Die Christenheit oder Europa und damit seinem „provokanten Christentum“ die Diskussion ins Rollen brachte. Stockinger beleuchtet die komplizierte Überlieferungsgeschichte des Textes – er wurde gerade nicht bereits 1799/1800 gedruckt, sondern erst postum in mehreren divergierenden Teildrucken. Die Handschrift ist nicht erhalten. Interessant ist, welche Passagen die jeweiligen Herausgeber wegließen und warum. Der Text, den wir heute durch die historisch-kritische Ausgabe kennen, ist ein „editorisch problematische[r] ‚Mischtext‘, von dem man nur mit einiger Plausibilität sagen kann, dass er dem Text der Handschrift, den Hardenberg beim Jenaer Treffen wahrscheinlich vorgetragen hat, nahe kommt.“ Es folgt eine sehr überzeugende Interpretation und differenzierte Einordnung von Hardenbergs Herangehensweise mit einigen Seitenblicken auf Vorlagen und Repliken zu seiner Rede.

Oliver Koch befasst sich mit Schellings polemischem Antwortgedicht in Knittelversen, dem Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens. Neben der Analyse ordnet er Schellings Text in dessen Gesamtwerk und damit in seine naturphilosophische Entwicklung ein. Erhellend sind die aufgezeigten Parallelen zum Pantheismus sowie die Erläuterungen zu Schellings Rechtsbegriff. Koch fällt es jedoch sichtlich schwer, komplexe philosophische Theorien in klare Worte zu fassen – und allzu häufig werden die interessantesten Diskurse in Fußnoten versteckt.

Ludwig Tieck fungierte beim Romantikertreffen nicht nur als „Lesemaschine“, sondern stellte auch sein eigenes Werk, das Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva zur Debatte. Claudia Stockinger liefert eine fundierte und kritische Analyse von Tiecks Stellung im Kreis der Frühromantiker und seinem durchaus problematischen und oft von Konkurrenzkämpfen geprägten Verhältnis zu den Brüdern Schlegel, wobei allerdings die Vehemenz, mit welcher sie sich auf die Seite des „vermeintlich schwächeren Tieck“ gegen die scheinbar übermächtigen Brüder Schlegel – insbesondere Friedrich – stellt, teils nicht nachvollziehbar ist.

Sodann kommen die beim Romantikertreffen anwesenden Frauen (Caroline Schlegel, spätere Schelling und Dorothea Veit, spätere Schlegel) zu Wort, vertreten durch Christiane Klein. Klein überprüft, inwieweit das theoretische Frauenideal Eingang in die Lebenspraxis der Frühromantiker fand und wie groß der Anteil speziell dieser zwei so unterschiedlichen Frauen am frühromantischen Diskurs ist. Deren Einflussnahme und Mitarbeit an den Werken und insbesondere den Übersetzungen der Brüder Schlegel lassen sich im Nachhinein schwer aufdecken, da sie kaum namentlich hervortraten. Klein gelingt es trotz aller Hürden, den Lesern eine Ahnung davon zu geben, wie hoch ihr Anteil gewesen sein muss. Es empfiehlt sich, hierzu als Ergänzung Berbeli Wannings Beitrag im unlängst erschienenen Friedrich Schlegel-Handbuch über die Familienbande zu lesen – der noch differenzierter auf die gesellschaftlich prekäre Stellung der beiden Frauen und ihr schwieriges Verhältnis zueinander eingeht.

Friedrich Schlegel hatte während des Romantikertreffens eine Lebens- und Schreibkrise. Kurz danach scheint diese überwunden zu sein und sein Gespräch über die Poesie erscheint. In diesem Text, so Ulrich Breuer „kulminiert das Treffen“. Es schafft ein „Modell romantischer Geselligkeit“ (Bianca Theisen) und macht „Literatur zu einem Gegenstand von Kommunikation und Interaktion“. Breuer zeigt mit besonderem Augenmerk auf mediengeschichtliche Aspekte, wie das im März 1800 im Athenaeum veröffentlichte Gespräch „die Spuren der Vorträge am Abend des 15. Novembers 1799 fixiert und literarisch transformiert“.

Zum Schluss übernimmt Stefan Knödler die Verteidigung August Wilhelm Schlegels. Über dessen Beteiligung an den Diskussionen ist wenig bekannt – allerdings war er es, der im Nachhinein die beiden zur Debatte stehenden Texte Goethe vorlegte und ihn nach dessen Empfehlung bezüglich der Publikation fragte – womit er ihn zum unparteiischen Schiedsrichter ernannte. Knödler erläutert überzeugend die inhaltlichen sowie die literaturpolitischen Aspekte dieser Entscheidung und rekonstruiert geschickt Schlegels „Position sowohl im Mikrokosmos Jena als auch im literarischen Deutschland im November 1799“. Anhand des mit abgedruckten Gedichts Der Bund der Kirche mit den Künsten verdeutlicht Knödler, dass Schlegels Interesse an theologisch-philosophischen Diskussionen wahrscheinlich vornehmlich auf die ästhetische Seite der Religion, insbesondere des Katholizismus, abzielte. Religion fungiert für ihn in erster Linie als Motiv-Fundus für die Kunst.

Einige wichtige Fakten werden in fast allen Aufsätzen wiederholt, was vermeidbar gewesen wäre – es führt im Gegenzug jedoch dazu, dass die Texte auch einzeln ohne den Gesamtkontext lesbar sind. Der Band stellt einen interessanten Beitrag zum Verständnis des frühromantischen Kreises dar. Ein singuläres Ereignis wird näher betrachtet und liefert dadurch neue Hinweise zum besseren Verständnis des romantischen Phänomens insgesamt. Die weiterführenden Überlegungen dazu werden allerdings den Lesern selbst überlassen. Man hätte sich nach den einzelnen Nahaufnahmen vielleicht noch einen fazitartigen Ausblick gewünscht, der das Romantikertreffen in den Kontext der Zeit und der literarischen und gesellschaftlichen Debatten um 1800 stärker einbindet. Zum Beispiel ist die Wahl des zentralen Themas Religion nicht willkürlich – sie schließt an den damals hochaktuellen und brisanten „Atheismusstreit“ an, aufgrund dessen kurz zuvor Johann Gottlieb Fichte die Jenaer Universität verlassen musste. Darauf geht beispielsweise Cornelia Ilbrig in ihrem Beitrag über Jena im demnächst erscheinenden Ausstellungskatalog Aufbruch ins romantische Universum: August Wilhelm Schlegel näher ein. Die Frage „Wie hast du’s mit der Religion?“ war damals in aller Munde. Apropos – auch das Verhältnis der (Früh-)Romantiker zu Goethe wäre einer weiterführenden Betrachtung wert gewesen. Mittlerweile wird der Band allerdings sinnvoll ergänzt durch das dieses Jahr erschienene Friedrich Schlegel-Handbuch, dort insbesondere durch die Texte von Wanning und Breuer.

Titelbild

Ulrich Breuer / Dirk von Petersdorff (Hg.): Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799. Ein romantischer Streitfall.
Athenäum – Jahrbuch der Friedrich Schlegel Gesellschaft, 25. Jahrgang 2015.
Schöningh Verlag, Paderborn 2015.
234 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783506781086

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