Familienangelegenheiten und Religionsfragen

Zum Briefwechsel zwischen August Wilhelm Schlegel und Albertine de Broglie, geborene de Staël

Von Claudia BambergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Bamberg

August Wilhelm Schlegels Beziehung zu den Kindern der Madame de Staël war von Beginn an eine familiäre. Als er im Jahr 1804 ihr Erzieher wurde, war Auguste dreizehn (geb. 1790), sein Bruder Albert elf (geb. 1792) und die kleine Albertine gerade einmal sechs Jahre alt (geb. 1797). Schlegel selbst war und blieb kinderlos; seine Stieftochter Auguste Böhmer, die Tochter seiner Ex-Frau Caroline aus erster Ehe, die für ihn wie ein eigenes Kind war, war im Jahr 1800 mit nur 15 Jahren an der Ruhr gestorben. Ihr plötzlicher Tod hatte ihn ebenso wie Caroline in tiefe Verzweiflung gestürzt. Viel später, als alter Mann, wird er Albertine einmal über die einschneidende Erfahrung dieses Verlusts schreiben.[1]

Aufgewachsen unter einer großen Geschwisterschar, war Schlegel ein lebendiges Familienleben von klein auf gewohnt. Bis zu seinem 51. Lebensjahr unternahm er wiederholt den Versuch, selbst eine Familie zu gründen; alle Bemühungen jedoch scheiterten. Die Korrespondenzen seiner eigenen Familie, also jene mit den Eltern und den Geschwistern, Schwagern und Schwägerinnen sowie mit den Neffen und Nichten, belegen nicht nur die große Bedeutung, die Familie und damit auch das Bedürfnis nach Privatheit und Intimität für ihn hatten. Sie zeigen auch, dass es neben dem geschäftlich-distanzierten Briefschreiber Schlegel, als der er heute vor allem wahrgenommen wird, einen sehr privaten und familiären ‚Briefsteller‘ gegeben hat.

Auch die Korrespondenz mit Albertine, die bis zu ihrem recht frühen Tod 1838 anhält und damit auch noch über 20 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter fortgeführt wird, verrät Einiges über den privaten Briefschreiber Schlegel. Zudem legt sie offen, wie sehr er in das Familienleben der de Staëls eingebunden war und als Familienmitglied angesehen wurde. Bei Roger Paulin heißt es in seiner Biografie über August Wilhelm Schlegel, dass „there is no doubt that Auguste de Staël and Albertine de Broglie, née Staël, later saw him as a kind of second father“ und dass beide „never ceased to show affection for him to the end of their lives“. Ganz im Gegenteil: „The Staël children, Auguste and Albertine, still saw him [August Wilhelm Schlegel; C.B.], with Fanny Randall [der englischen Gouvernante Albertines; C.B.], as part of the extended family and had no wish to exclude him after his long and sometimes selfless service to their mother“[2]. So überrascht es kaum, dass ein wichtiges Thema im Briefwechsel mit Albertine die Familie ist, nach der Schlegel immer wieder fragte. Allerdings mag dies auf den ersten Blick doch verwundern, wie Paulin für die Briefe aus Albertines Familie, in die sie im Februar 1816 einheiratete – in die herzogliche Familie de Broglie –, an Schlegel feststellt:

These are letters from a grand family – Victor de Broglie was to hold various important ministerial posts under Louis-Philippe from 1830 to 1834 – but with no pretensions to grandeur, written from Coppet, from the château of Broglie in Normandy, and from their town house in Paris, 76, rue de Bourbon. It was a family that kept open house for the haute volée, but one would hardly know it from these letters. (Paulin, S. 418)

Das Zurücktreten von gesellschaftlichen Themen im Briefwechsel zwischen Schlegel und der Herzogin von Broglie unterstreicht folglich die private, familiäre Ebene, auf der sich diese Korrespondenz bewegte. Es ist aber auch ein Indiz dafür, dass für Albertine andere Themen und Fragen viel wichtiger waren. Im Folgenden soll es um die genauere Kennzeichnung dieses Briefwechsels zwischen August Wilhelm Schlegel und Albertine de Staël gehen, die 1816 im Alter von 19 Jahren den französischen Staatsmann Victor de Broglie (1785–1870) heiratete und damit Herzogin von Broglie wurde. Zwei Aspekte stehen im Vordergrund: Zunächst wird es um die private Seite der Korrespondenz gehen, um sodann ein zentrales Thema herauszugreifen: Albertines großes Interesse für religiöse Fragen, das schließlich in zwei lange Briefe von Schlegel und Albertine mündet, mit denen dieser Briefwechsel zugleich beschlossen wird.

Vorab muss jedoch bemerkt werden, dass uns heute ein „Briefwechsel“ im strengen Sinne gar nicht vorliegt: Im Gegensatz zu Schlegels Korrespondenz mit Albertines Bruder Auguste (vgl. hierzu den Beitrag von Clara Stieglitz in dieser Ausgabe) fehlen die meisten Schreiben von ihm an die einzige Tochter der Madame de Staël (Germaine de Staëls erstgeborene Tochter Gustavine, geb. 1787, war im Alter von nur zwei Jahren gestorben). Es ist schwer zu sagen, ob Schlegel seine Briefe nach Albertines Tod im Jahr 1838 vernichten ließ, wie er es mit seiner gesamten Familienkorrespondenz handhabte, um sich als privaten Briefschreiber unsichtbar zu machen, oder ob die Briefe noch unentdeckt in den Familienarchiven der Broglies liegen. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich. Fest steht, dass uns 87 handschriftliche Briefe von Albertine an Schlegel überliefert sind, während von diesem an die Tochter der Madame de Staël nur zwei Schreiben handschriftlich und sechs im Druck vorliegen. Alle Originaldokumente liegen in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB); die meisten davon sind ungedruckt. Dieser Befund bezieht sich auf die rund 4.500 Handschriften, die im DFG-Projekt Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels bislang in der virtuellen Forschungsumgebung Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem (FuD) verzeichnet und auch auf www.august-wilhelm-schlegel.de einsehbar sind (Stand: 01.06.2017). Sie stammen aus insgesamt 50 Institutionen, darunter die SLUB Dresden, die 1998 bei Christie’s 585 Schreiben aus dem insgesamt rund 2.500 Briefe umfassenden Coppeter Nachlass Schlegels ersteigerte und damit ihre Schlegeliana auf 3.800 Stücke erweitert hat, die Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, die Jagiellonen-Bibliothek in Krakau, das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main und zahlreiche Schweizer Archive.

Die sechs gedruckten Briefe von Schlegel, zu denen bislang bis auf zwei Schreiben die Handschrift fehlt und die unter anderem von Josef Körner publiziert wurden, der 1929 den gesamten Coppeter Briefbestand Schlegels vor Ort eingesehen hat (rund 2.500 Schreiben), könnten ein Hinweis darauf sein, dass sich seine Briefe an Albertine erhalten haben, sie also nicht von Schlegel oder einer von ihm beauftragten Person verbrannt worden sind.

August Wilhelm Schlegel und Albertine de Staël

Schlegel bekundet in den überlieferten Dokumenten immer wieder seine große Sympathie für Albertine. Schon bei den ersten Begegnungen hatte das lebhafte und leidenschaftliche Mädchen, das während des Aufenthalts in Berlin im Frühjahr 1804 sogar den neunjährigen Kronprinzen, den späteren König von Preußen Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) geohrfeigt hatte, Schlegels väterliche Zuneigung geweckt. Ihm war schnell die Ähnlichkeit mit der verehrten Mutter aufgefallen, wie es im November 1804 in einem Brief an Caroline de la Motte-Fouqué heißt: Albertine habe „am meisten von dem Geist ihrer Mutter und auch ihre schönen Augen geerbt“; zu ihrer „Bildung“ werde er, „wenn sie erst empfänglicher dafür seyn wird, beyzutragen suchen […], was grade nicht durch andre Lehrer und selbst durch den Unterricht ihrer Mutter geleistet werden kann; doch dieß ist mehr eine Unterhaltung, als eine Arbeit zu nennen.“[3]. An Sophie Bernhardi hatte er schon am 15. Mai 1804 nach Berlin geschrieben:

Die Tochter habe ich jetzt erst recht kennen gelernt, Constant [Benjamin Constant; C.B.] hat eine große Zärtlichkeit für sie, so daß er den halben Tag mit ihr spielt, und sie erwiedert es ihm mit Leidenschaft. Ich habe nicht leicht ein empfänglicheres Kind gesehen, sie hört Geschichten und Mährchen auf eine Weise an, daß man sich todt erzählen möchte. Dabey hat sie wunderbar viel Ausdruck in ihrer kleinen Physiognomie, rechte Magdalenen-Augen, braun und mit langen dunkeln Wimpern neben ihrem goldnen Haar.[4]

Albertines „goldne[s] Haar“, das einen starken rötlichen Schimmer hatte – möglicherweise ein Hinweis auf die Vaterschaft Benjamin Constants, mit dem Germaine de Staël seit 1794 liiert war – wird 1808 auch Thema im Briefwechsel zwischen Schlegel und seiner in Dresden lebenden Schwester Charlotte (1759–1826); nun trägt man bei den De Staëls offensichtlich Sorge, dass es zu rot werde. Charlotte empfiehlt folgende Kur, die heute sehr befremdlich anmutet:

Wegen der kleinen Stael ihrer rothen Haare rieth ich doch noch folgendes Mittel zu gebrauchen, es hat es ein Kammerherr mit glücklichem Erfolge für seinen Knaben gebraucht. Doch sollen braune rothe Haare am schwersten zu tilgen seyn es käme auf einen Versuch an. Die Haare müßen ganz glatt abrasiret werden, daß der Kopf ganz kahl ist, und nun recht oft mit Chinatinktur, China in Wasser gekocht, gewaschen, die schwächer ist als die gewöhnliche, die man curiret und so wie sich Haare wieder zeigen mit einem bleyernen Kamm gekämmt. Ich würde rathen keine falschen Haare alsdann zu tragen, sondern wie ich es einmal mit Gustchen [Augusta Ernst, später verheiratete von Buttlar, der 1796 geborenen Tochter von Charlotte und Ludwig Emmanuel Ernst; C.B.] gemacht habe, kleine Muslinhäubchen mit einer Spitze, das der Kopf recht kühl bleibt. (Krisenjahre, Bd. 1, S. 574)

 Ob die Behandlung erfolgreich war, ist nicht überliefert.

Zu Albertines Hochzeit mit Victor de Broglie am 20. Februar 1816 in Pisa verfasste Schlegel ein fünfstrophiges Gedicht (An Fräulein Albertine de Staël bey ihrer Vermählung), das seine Verehrung für die nun junge Frau, die Tochter der für ihn als Mann und Liebhaber unerreichbaren Germaine de Staël, deutlich zum Ausdruck bringt (vgl. Paulin, S. 387f.):

Schon in des Kindes ahndendem Gemüthe
Gedieh, was irgend edel ist und zart.
Nun, prangend in der Jugend schœnster Blüthe,
Hast Du die fromme Kindlichkeit bewahrt,
Und sanfte Heiterkeit und reine Güte
Entzückt an Dir, mit aller Huld gepaart.
Die Gottheit, die Natur, die Mutter schmückten
Mit allen Gaben Dich für den Beglückten.[5]

Familienbande

Die Korrespondenz zwischen August Wilhelm Schlegel und Albertine de Staël setzt nach jetzigem Kenntnisstand um die Jahreswende 1811/12 ein. Allerdings handelt es sich vorerst nur um einen sehr kurzen Briefwechsel: Es ist bislang nur das Schreiben Schlegels – im Druck – bekannt, das auf ein (nicht bekanntes) Schreiben Albertines antwortet. Aus dem Frühsommer 1813 stammt sodann der erste uns zugängliche Brief von Albertine. Beide Briefe sind im Kontext der Fluchtbewegungen vor Napoleon geschrieben worden, ohne die sich Schlegel und die Familie de Staël wohl niemals getrennt hätten. So wird die Korrespondenz zwischen Schlegel und Albertine auch erst 1818, nach dem Tod Madame de Staëls – und nun regelmäßig – fortgeführt. Zuvor war das Briefeschreiben offenkundig nicht nötig, da Albertine ihre Mutter und Schlegel auf den meisten Reisen begleitete und die Korrespondenz zwischen letzteren während der räumlichen Trennungen sehr intensiv und engmaschig geführt wurde. In ihren ersten Ehejahren schrieb Albertine sicherlich immer für Schlegel mit, wenn sie mit der Mutter korrespondierte.

Schlegels erster erhaltener Brief an Albertine vom 3. Januar 1812, der vor allem von gesellschaftlichen Zerstreuungen erzählt, stammt aus Bern, wo er den Winter verbrachte, nachdem er von den Franzosen in Genf nicht gebilligt worden war und Madame de Staël seinen Aufenthalt in Bern gewünscht hatte. Diese verbrachte den Winter mit ihren Kindern und ihrem Geliebten, dem jungen französischen Offizier John Rocca (1788–1818), von dem sie ein Kind erwartete, in Genf. Der Winter war hart und sehr kalt; zudem litt Rocca an Tuberkulose. Aufgrund von Germaine de Staëls Schwangerschaft war eine weite Reise in den Süden jedoch zu riskant, zumal sie keinen Reisepass für Italien erhalten hatte.

Erst über ein Jahr später, im Frühsommer 1813, als es tatsächlich zur Flucht kam, entsteht wieder ein kurzer Briefwechsel zwischen Schlegel und Albertine, denn Schlegels und Germaine de Staëls Wege trennten sich vorübergehend erneut (vgl. Paulin, S. 366f.). Er hatte im Mai seinen Dienst als Privatsekretär des schwedischen Kronprinzen Bernadotte (1763–1844) angetreten, Madame de Staël war mit John Rocca, Albertine und Auguste auf dem Weg nach England. Sie alle hatten eine lange und aufreibende Flucht quer durch Europa hinter sich: Über Wien, Kiew, Moskau, St. Petersburg und Stockholm waren sie vor Napoleon geflohen. Am 5. Juni 1813, wenige Tage vor der Überfahrt von Göteborg nach England, schrieb Albertine an Schlegel, der sich mit Bernadotte gerade in Stralsund aufhielt. Der Brief ist nicht von ihr allein verfasst, denn ihre Mutter fügte dem Schreiben kurz vor der Überfahrt drei Tage später einige Zeilen bei. Er endet mit Sehnsuchtsbekundungen von beiden Frauen und legt die innige Verbindung Schlegels mit der Familie De Staël offen. So schreibt Albertine: „nous ne pouvons pas murmurer à présent de ce que vous etes tout entier à d’autres pensées mais quand tout sera fini vous nous reviendrez. Car si votre patrie est l’Allemagne vous n’êtes pourtant at home que chez nous.“ Und ihre Mutter, die sich laut Albertine vor der Überfahrt mit dem Schiff fürchtete, ergänzt wenige Zeilen später: „je vous écrirai cher ami au moment de m’embarquer […] enfin tout m’accable et vous n’ètes plus là pour me soutenir! God bless you.“[6]

Als der Briefwechsel zwischen Albertine und Schlegel im Jahr 1818 wieder aufgenommen wird, wird auch jetzt sofort deutlich, wie sehr Albertine an ihrem „zweiten Vater“ (Paulin) hängt. „Je suis fachée que vous ne m’ayez pas écrit cher ami“, beginnt sie ihren Brief aus Genf vom 26. April 1818 und bittet ihn: „Parlez moi de vos projets de vos affaires“ – den beruflichen und den privaten – „enfin ne séparez pas votre vie de la mienne tout à fait, instruisez moi de ce qui vous interesse. […] je compte aller dans ce triste Coppet le 5 May. croyez que votre chambre me serrera bien le coeur et que je n’abandonne pas l’espoir de vous y revoir.“[7] Albertine ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit über zwei Jahren Herzogin von Broglie und Mutter zweier Töchter: 1817 kam Pauline zur Welt, die nur 15 Jahre alt werden sollte, 1818 folgte Louise († 1882), die 1836 Joseph d’Haussonville (1809–1884) heiraten wird. 1821 werden Albert († 1901) und 1834 schließlich Paul († 1895) geboren. Darüber hinaus lebte Alphonse Rocca, Albertines Halbbruder, bei den Broglies, den Germaine de Staël am 7. April 1812 im Alter von knapp 46 Jahren zur Welt gebracht hatte und der aufgrund einer angeborenen Behinderung und eines schweren Fenstersturzes an Silvester 1821 der besonderen Pflege bedurfte. Alphons’ Vater John Rocca, den Madame de Staël 1816 geheiratet hatte, starb nur sieben Monate nach ihr an Tuberkolose. In Albertines Briefen an Schlegel ist Alphonse Rocca ein wichtiges Thema; regelmäßig muss Schlegel – wie es auch in seinen Briefen an Auguste der Fall ist – nach seinem Befinden gefragt haben.

Zunächst kreist der im Jahr 1818 wieder einsetzende Briefwechsel um Schlegels Ehe mit der jungen Sophie Paulus (1791–1847), Tochter des evangelischen Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851). Albertine nimmt großen Anteil an Schlegels zweitem – scheiternden – Versuch, eine glückliche und beständige Ehe einzugehen, und gibt ihm Ratschläge, die ihre praktische Lebensklugheit verraten. Hellsichtig in Bezug auf das Missverhältnis in der Liebeserfahrung bei Schlegel und seiner jungen Braut hatte sie ihn gleich, nachdem er sie von seinem Vorhaben unterrichtet hatte, die 26-jährige Sophie Paulus zu heiraten, geneckt: „Je préfère d’avance Mlle Paulus à tout les sentiments que je vous ai connu, mais chut nous ne parlerons pas de cela de peur de la rendre jalouse“ (Krisenjahre, Bd. 1, S. 330). Als sie dann von Sophies unwiderruflicher Weigerung kurz nach der Eheschließung erfährt, Schlegel nach Bonn zu folgen und die Ehe tatsächlich einzugehen, ist ihr Mitgefühl groß. Sie tröstet Schlegel und warnt ihn vor unbedachten Schritten, die seinen Ruf schädigen könnten, auch vor einer zweiten Scheidung, die denn auch nie ausgesprochen wird, obwohl Schlegel und Sophie zeitlebens getrennt bleiben. Zugleich ist Albertine überzeugt, « que ma mère avoit vécu elle vous auroit preservé de cette folie“[8]. Sie geht sogar noch weiter, indem sie ihm offen gesteht: „Si vous voulez que je vous dise vous nʼavez pas lʼair bien amoureux et la manière dont vous parlez dʼune séparation me donneroit lʼidée que vous êtiez déjà un peu dégouté dʼelle avant ses torts“ (Körner, Bd. 1, S. 355f.). Später wird sie selbst einmal mit Sophie in Kontakt treten: als sie nämlich die Briefe ihrer Mutter an Schlegel zurückfordert, die dieser in Heidelberg bei seiner Braut zurückgelassen hatte. Als sie bei ihr eintreffen, schreibt sie Schlegel: „J’ai recu le paquet de lettres de Mr Reinhardt. Elles seront brulées sans être regardées par personne“.[9]

Es zeigt sich, dass sich das Vater-Tochter-ähnliche Verhältnis verändert hat, denn nun ist die 21-jährige Albertine diejenige, die besonnen Rat gibt und Trost spendet, und Schlegel, ihr einstiger Erzieher, der von ihr – mit der ihr eigenen heiteren Bestimmtheit und wohl nicht zu Unrecht – einer unbedachten „folie“ bezichtigt wird, ist jetzt der Trost und Rat Empfangende. Überhaupt wandelt sich Schlegels tiefes Gefühl der väterlichen Zuneigung, zumindest äußerlich, in diesen Jahren und nimmt Formen der Verehrung einer verheirateten, adligen Frau an, mit der ihn zwar quasi-familiäre Bande verknüpfen, gegenüber der nun aber mehr Distanz erforderlich ist als in den Jahren davor.

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“

Schon während der Diskussionen um Schlegels Ehekatastrophe mit Sophie Paulus kommt Albertine in ihren Briefen an Schlegel immer wieder auf ein Thema zurück: die Religion. Bereits vor der Hochzeit hatte die protestantisch erzogene Albertine, die mit Victor de Broglie einen Katholiken geheiratet hatte, aber selbst protestantisch geblieben war, Schlegel geschrieben: „On dit que Mr Paulus [Sophies Vater; C.B.] est professeur en théologie cʼest precisément mon affaire à moi, si vous pouviez lʼengager à venir ici faire de la controverse. Jʼespère que Mlle Paulus vous otera toute envie du catholicisme et vous ne vous repentirez pas de ne pas vous être fait tondre“ (Krisenjahre, Bd. 1, S. 330).  In jenen Jahren ging das Gerücht um, August Wilhelm wolle wie sein Bruder Friedrich 1808 zum katholischen Glauben übertreten; August Wilhelm jedoch blieb seiner protestantischen Familientradition treu und reagierte jedes Mal erbost, wenn ein Familienmitglied den katholischen Glauben annahm. Als beispielsweise seine Nichte, die Portraitmalerin Augusta von Buttlar (1796–1857) nach dem Tod ihrer Eltern 1827, wohl durch den Einfluss ihres Onkels Friedrich und seiner Frau Dorothea, in Florenz zum katholischen Glauben übertrat, bekam sie von August Wilhelm Schlegel einen strengen, ja geradezu wütenden Brief (vgl. Körner 1930, Bd. 1, S. 460f.).

Obwohl Albertine viele Familienpflichten hatte, fand sie – wie es für die Tochter der Madame de Staël auch kaum anders vorstellbar ist – immer wieder Zeit für die Lektüre und für eigene Arbeiten, etwa für Übersetzungen. Vermutlich war dieses Bedürfnis einer der Gründe dafür, dass sie das ruhige und zurückgezogene Leben auf Schloss Coppet den gesellschaftlich umtriebigen Aufenthalten in Paris vorzog. Von ihrem einsamen Familienleben in Coppet erzählend, fragt sie einmal: „Mais ou vit-on gaïment? pas dans le beau monde non plus.“[10] Anders als ihre Mutter, die sich in ihrem Coppeter Exil immer nach Paris und der Pariser Gesellschaft gesehnt hatte, war Albertine froh, wenn sie sich am Genfer See aufhalten konnte. Sie hatte hier allerdings auch – anders als Germaine de Staël – ihre Kindheit verlebt.

In den ruhigen Stunden in Coppet oder auf Schloss Broglie in der Normandie widmete sie sich also oft ihren Studien. So übertrug sie, wie sie Schlegel am 13. Mai 1818 schreibt, ein paar Erzählungen Ludwig Tiecks ins Französische, darunter den Blonden Eckbert. Schlegel hatte sie schon, als er noch ihr Erzieher war, zu solchen Übersetzungen angeregt und ihr offensichtlich auch Deutschunterricht gegeben. Auch wenn sie ihm gegenüber wiederholt über die schwere deutsche Sprache und ihre mangelnden Fähigkeiten darin klagt, muss sie sie recht gut gekonnt haben. Sie übersetzte nicht nur deutsche Literatur und las deutsche Schriften – etwa die Schriften Johann Gottfried Herders –, sondern erteilte auch ihrer Tochter Pauline Unterricht in der deutschen Sprache.[11] Am 16. Juni 1831 schreibt die vierzehnjährige Pauline de Broglie Schlegel einen deutschen Brief, und sogar in Kurrentschrift.[12]

Wie aus Albertines Briefen an Schlegel deutlich wird, interessierte sie sich zunehmend für theologische und religiöse Themen. Bald sollte sie selbst schriftstellerisch tätig werden und religiös-moralische Schriften publizieren: So erschien etwa von ihr 1820 – anonym – ein „préface de l’éditeur“ in der Histoire de Quakers, 1824 veröffentlichte sie, gleichfalls anonym, einen Essay Sur les associations bibliques de femmes.

Es verwundert darum nicht, dass sie Schlegel immer wieder um Empfehlungen zu theologischer Literatur bat. Am 15. Mai 1819 schreibt sie beispielsweise:

Il y a à présent une autre chose que je vous demande cʼest de me procurer les meilleurs ouvrages allemands sur la réformation je voudrois lire lʼouvrage de Plank sur lʼ[Église] [Textverlust durch Tintenfleck, C. B.] réformée. Celle des conciles de Fuchs. Je voudrois que vous me fissiez ce choix avec impartialité et en mettant de coté votre gout catholique. Je voudrois quelques ouvrages savant comme les Allemands les peuvent faire et qui me donnoit aussi quelques notions historiques sur les premiers siecles Chrétiens. Quʼest ce que sʼest quʼun Almanach de la réformation?
Je ne voudrois pas non plus des ouvrages trop rationalistes comme ceux de votre beau père [Heinrich Eberhard Gottlob Paulus; C.B.]. Je veux de la controverse protestante mais très orthodoxement protestante. Sʼil y a quelque bon ouvrage aussi sur les preuves du Chirstianisme en général conseillez moi la.[13]

Im gleichen Jahr fragt sie ihn: „dites moi donc comment – faut-il faire pour bien mʼapprendre le latin toute seule je voudrois lire les Peres de lʼEglise dans lʼoriginal cʼest bien grave nʼest ce pas?“[14]

Es ist sehr bedauerlich, dass uns die Antworten Schlegels auf diese Briefe und damit seine Reaktionen auf solche Anfragen nicht vorliegen. Doch ist ein einziges, sehr langes Schreiben von ihm an Albertine überliefert, dass ihre Frömmigkeit und seine Haltung zur Religion ebenso ausführlich wie kritisch zum Thema machen. Es ist das letzte Schreiben Schlegels an Albertine, und ihre gleichfalls ausführliche Antwort darauf, die vielfach gedruckt worden ist, wird ihr letzter Brief an ihn sein, bevor sie drei Wochen später, am 22. September 1838, plötzlich mit nur 41 Jahren stirbt.

In seinem Brief vom 13. August 1838 kommt Schlegel direkt und sofort auf Albertines Frömmigkeit zu sprechen – „[à]pres beaucoup d’hésitations“, indessen handle es sich um „un sujet qui depuis longtemps m’a pesé sur le cœur“. Besorgt habe er aus ihren Briefen immer stärker ihre religiösen Überzeugungen „qui dominent de plus en plus votre esprit“ sowie ihre „exhortations indirectes“ herausgehört. So erzählt er ihr nun sehr offen und ausführlich von seinen mannigfaltigen Berührungen mit dem Christentum, seinen vielfältigen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und Strömungen der Kirche, seinen religiösen und quasi-religiösen Erfahrungen und Studien sowie von seiner gründlichen Beschäftigung mit christlichen Autoren (Dante, Calderón). Dabei betont er, dass diese Auseinandersetzungen als Vorlieben des Künstlers zu verstehen sind: „C’était une predilection d’artiste; ce rapport est encore plus clairement marqué dans mon poëme: l’Alliance de l’Église avec les beaux-arts“ – gemeint ist das Gedicht Der Bund der Kirche mit den Künsten, das im Kontext des Jenaer Romantikertreffens 1799 entstanden ist. Auch berichtet er ihr von seiner schmerzvollen „pélérinage“ an das Grab seiner Stieftochter Auguste Böhmer und der Konversion seines Bruders Friedrich, die ihn von diesem entfremdete und die zu den leidvollsten Erfahrungen seines Lebens gehörte. Schlegel warnt ausdrücklich vor religiösem Fanatismus und bekennt Albertine schließlich: „J’ai quelquefois pu me persuader que j’avais la foi chrétienne ; j’ai compris ensuite que c’était une illusion. […] J’ai donc résolu enfin d’être vrai vis-à-vis de moi-même. […] Vous verrez que je traverse les flots dans ma propre nacelle.“[15]

Albertine reagiert umgehend, und leider hat Schlegel nicht mehr darauf geantwortet; die Nachricht von ihrem Tod wird ihm zuvorgekommen sein. Albertine legt in ihrem Brief ein umfassendes Glaubensbekenntnis ab, und die tiefe und unerschütterliche Frömmigkeit, die daraus spricht, hat Schlegel sicherlich nicht behagt. Auch wenn diese Frömmigkeit pietistische Züge trug (vgl. auch Paulin, S. 387 u. S. 419) – es bei Albertine also nicht zu einer Konversion zum katholischen Glauben kam –, wird ihn dieser strenge Glaube erschüttert haben, zumal ihm selbst, wie auch ihrer verstorbenen Mutter, an die er sicherlich dachte, eine solche Religiosität fremd war.

Die Tochter der Madame de Staël unterdessen macht ihm klar, dass „cette imperfection de tous les cultes“, von der Schlegel spricht,

ne change rien à ma situation personelle: elle ne m’empêche pas de reconnaître que je dois chercher à m’éclairer sur mes rapports avec Dieu, sous peine de me lancer dans l’éternité sans guide et sans boussole. J’examine donc l’Évangile comme s’il était adressé à moi seule; car le débat, après tout, est entre Dieu et mon âme; les erreurs des autres hommes ne peuvent ni me sauver ni me perdre.

Daraus ergibt sich für sie auch:

[…] fussé-je seule au monde, n’y eût-il ni preuves historiques de l’Évangile, ni Église, ni prédicateur, cet Évangile n’en serait pas moins nécessaire à mon âme pour vivre et mourir. Je le prends pour moi sans m’inquiéter d’autrui. Si j’étais née Turque, Chinoise ou Indienne, et que l’Évangile ne m’eût pas été annoncé, sans doute Dieu m’ouvrirait une autre voie pour trouver la vérité.

Sie schließt mit den Worten: „Je n’ai parlé que subjectivement, et comme dit saint Paul, je n’ai fait que ‚vous rendre raison de mon espérance‘. Puisse-t-elle un jour devenir la vôtre, cher ami! Recevez l’expression d’une tendre et sincère amitié.“[16]

Es wäre spannend gewesen, hätten diese Gedanken im Briefwechsel zwischen Schlegel und Albertine eine Fortsetzung gefunden. Schlegel, der wohl noch immer eine väterliche Zuneigung zu der Tochter der Madame de Staël empfand und eine überaus große Sympathie für alle ihrer Kinder hegte, hätte sich mit dieser Antwort vermutlich nicht zufrieden gegeben. Wie auch immer: Die weitere Diskussion wäre zweifellos eine harte Bewährungsprobe für ihre Verbindung und ihren treu gepflegten Briefwechsel geworden – womit sich für Schlegel die Erfahrungen in der eigenen Familie auf vielleicht schmerzhafte Weise wiederholt hätten.

Hinweis: Der Text erschien in leicht abgewandelter Form bereits auf Französisch in: Cahiers staëliens 66 (2016), S. 141–156.

Anmerkungen:

[1] August Wilhelm Schlegel an Albertine de Broglie, 13.08.1838. In: Œuvres de M. Auguste-Guillaume de Schlegel écrites en français. Hg. v. Eduard Böcking. Bd. 1, Leipzig 1846, S. 191.

[2] Roger Paulin: The Life of August Wilhelm Schlegel. Cosmopolitan of Art and Poetry. Cambridge 2016, S. 145, S. 243 u. S. 415; im Folgenden im Text: Paulin.

[3] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [22.12.2015]; Schlegel, August Wilhelm von an Fouqué, Caroline de La Motte-; November 1804 bis März 1806; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/.

[4] Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Hrsg. v. Josef Körner. Bd. 1. Der Texte erste Hälfte. 1791‒1808. Bern u.a 29169; im Folgenden im Text: Krisenjahre, Bd. 1.

[5] August Wilhelm Schlegel: An Fräulein Albertina von Staël bei ihrer Vermählung, Pisa 20. Februar 1816. In: August Wilhelm von Schlegel’s Poetische Werke. Hg. v. Eduard Böcking. Dritte, sehr vermehrte Ausgabe. Bd. 1. Leipzig 1846, S. 155.

[6] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/4881?left=text&right=manuscript&query_id=5953b7ea74eac.

[7] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5123?left=manuscript&query_id=5953b8a03a18b.

[8] Briefe von und an August Wilhelm Schlegel, Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Zürich u.a. 1930, Bd. 1, S. 153. Im Folgenden im Text: Körner.

[9] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5180?left=text&right=manuscript&query_id=5953b8cc24a54.

[10] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5124?left=manuscript&query_id=5953b930da8cf.

[11] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5166?left=manuscript&query_id=5953b95a41d0a.

[12] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5247?left=text&right=manuscript&query_id=5953b9937c550.

[13] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5138?left=manuscript&query_id=5953b9bd422d7

[14] Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [05.04.2017]; URL: http://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/view/5145?left=manuscript&query_id=5953ba1e39c50.

[15] August Wilhelm Schlegel an Albertine de Broglie, 13.08.1808. In: Œuvres de M. Auguste-Guillaume de Schlegel écrites en français, a.a.O., Bd. 1, S. 189‒194.

[16] Ebd., S. 195–200.