Gute Bedingungen für eine wechselseitige Erhellung der Künste

August Wilhelm Schlegels schriftlicher Nachlass in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)

Von Thomas BürgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Bürger

Als August Wilhelm Schlegel 1845 starb, übernahm der Jurist und Philologe Eduard Böcking (1802–1870), Freund, Kollege und Testamentsverwalter Schlegels, den schriftlichen Nachlass und veröffentliche 1846 bis 1847 dessen „Sämmtliche Werke“ bei Weidmann in Leipzig. Nach Böckings Tod trat die Königliche Öffentliche Bibliothek Dresden in Verhandlung mit den Erben und konnte die etwa vier laufenden Meter an Handschriften im Jahr 1873 für 2.000 Taler erwerben.

Die zahlreichen familiären und kulturellen Beziehungen nach Sachsen rechtfertigten diesen Ankauf. Der Vater Johann Adolf stammte aus Meißen und hatte in Leipzig studiert, die Mutter war Tochter eines Mathematikprofessors aus dem sächsischen Pforta. Schlegels Schwester Charlotte heiratete den sächsischen Hofbeamten Ludwig Emmanuel Ernst und lebte in Dresden und Pillnitz. Ihre Tochter, die Malerin Augusta von Buttlar, blieb ihrem Onkel eng verbunden; sie erbte unter anderem Schlegels indische Miniaturensammlung, die heute im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden aufbewahrt wird.

Die Gemäldegalerie am Neumarkt neben der Frauenkirche und die Königliche Öffentliche Bibliothek im Japanischen Palais – mit dem berühmten Canaletto-Blick über die Elbe auf Schloss, Kathedrale und Oper – waren Kreativorte der Romantik. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Novalis, Heinrich von Kleist und Wilhelm Müller, aber auch skandinavische Gelehrte wie Henrik Steffens und Pehr Daniel Atterbom oder der Spätromantiker Ludwig Uhland arbeiteten in der Königlichen Bibliothek. Der Nachlass August Wilhelm Schlegels gehörte also genau an diesen Ort, als Zeugnis und Quelle der europäischen Romantik.

Tatsächlich eröffnen die Nachlassteile der Forschung ein Eldorado: die Biographica, die literarischen Versuche, die Briefwechsel, Gedichte und Übersetzungen, darunter vor allem die grandiosen Manuskripte seiner bis heute imposanten Shakespeare-Übersetzungen, die akademischen Vorlesungen aus Jena, Berlin, Wien und Bonn, die wissenschaftlichen Forschungen, darunter die indologischen Studien. Der Wiener Literaturwissenschaftler Oskar Walzel (1864–1944) veröffentlichte 1890 aus dem Nachlass Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder und wechselte später von Bern nach Dresden, um zwischen 1907 und 1921 hier als Hochschullehrer und Romantikspezialist zu wirken. Walzel vermisste im Dresdner Nachlass die Korrespondenz der Jahre 1804 bis 1812, nach der auch der Prager Germanist Josef Körner (1888–1950) suchte. Körner wurde 1929 auf Schloss Coppet am Genfer See, dem Wohnsitz der Madame de Staël, fündig: In zwei versiegelten Kartons fand er die zwischen 1804 und 1812 an Schlegel gerichteten Briefe und veröffentlichte wichtige Auszüge 1936 und 1937 in seinem großen Standardwerk Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis.

Im Nationalsozialismus wurden Oskar Walzel in Bonn und Josef Körner in Prag die Lehrerlaubnis entzogen, die Sächsische Landesbibliothek Dresden, wie sie seit 1918 hieß, verbot zur gleichen Zeit Victor Klemperer, im Lesesaal zu arbeiten. Dresden war gewiss nicht die unschuldige Kunststadt, auch wenn die Opferrolle nach 1945 öfter als die Täterrolle hervorgehoben wurde. Klemperer war der erste, der die Bombardierung vom 13./14. Februar 1945 beklagte, obwohl er der Zerstörung der Stadt sein Leben verdankte, denn seine Verschleppung und Ermordung stand unmittelbar bevor. Auch die Landesbibliothek brannte und die im Tiefkeller des Japanischen Palais bombensicher verstauten Kostbarkeiten schwammen im Lösch- und Elbehochwasser, darunter der Schlegel-Nachlass. Die Handschriften wurden nach Schloss Weesenstein evakuiert, auf dem Schlosshof ausgelegt und getrocknet, und später zurück nach Dresden gebracht. Erst in den 1960er-Jahren konnte in einer Kaserne im Norden der Stadt, der neuen Unterkunft der Landesbibliothek, mit der Restaurierung begonnen werden. Seit den 1980er-Jahren stand der Nachlass wieder zur Nutzung zur Verfügung.

Nach der Wiedervereinigung 1989/90 wurden 1995 mit der Integration der Sächsischen Landesbibliothek und der Universitätsbibliothek die Weichen für einen großen Neubau der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) im Campus der Universität gestellt. 1998 konnte mit dem Neubau begonnen werden, im selben Jahr tauchte der zuletzt von Josef Körner auf Schloss Coppet benutzte Nachlassteil, den Schlegel bei seiner Flucht vor Napoleon in zwei Kartons verstaut hatte, bei Christie’s in London zur Versteigerung auf. Die SLUB Dresden konnte ihn glücklich erwerben: neben Manuskripten, Rechnungen und Notizen weitere 585 Briefe auf 2040 Seiten. Seit dem Einzug in den Neubau der SLUB 2002 liegt der Nachlass unter guten klimatischen Bedingungen im Handschriftenmagazin in Nachbarschaft zahlreicher Kostbarkeiten, darunter der große Briefnachlass des Gelehrten Karl August Böttiger (1760–1835) oder die Tagebücher Victor Klemperers.

Was lag näher, als die Forschung in die Bibliothek einzuladen, mit dem restaurierten Nachlass und den neu erworbenen Teilen intensiv zu arbeiten? Es folgten internationale Tagungen 2004 und 2008, eine Ausstellung des Nachlasses 2004 und schließlich die Verwirklichung einer digitalen Edition der Korrespondenz, die von mehr als 100 Institutionen und Verlagen unterstützt und seit 2012 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Schlegels Nachlass verdeutlicht die Gefährdung des kulturellen Erbes durch Krieg und Zerstörung, aber auch die Chancen der Restaurierung, Digitalisierung und Wiederentdeckung. Gute Bedingungen also für eine Renaissance der europäischen Romantikforschung und die – von Oskar Walzel so genannte – wechselseitige Erhellung der Künste.

Literaturhinweise:

Helmut Deckert: Rekonstruierter Spezialkatalog des Nachlasses von August Wilhelm von Schlegel. Übersicht über die 78 Nachlassgruppen. Dresden 1981. URL: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/13973/1/.  

Hans Jürgen Sarfert: Die Kurfürstliche Königliche Bibliothek und die Romantiker. In: Dresden und die Anfänge der Romantik. Dresdner Hefte 17 (1999), H. 58, S. 42–52.

Papièrs a Mr. Schlegel. Ausstellung im Buchmuseum der SLUB Dresden. Hrsg. von Cornelia Bögel und Thomas Bürger. Dresden: SLUB 2004. URL: http://fotothek.slub-dresden.de/schlegel/index.htm.

Perk Loesch: Der Nachlass August Wilhelm Schlegels in der Handschriftensammlung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. In: Dichternachlässe. Literarische Sammlungen und Archive in den Regionalbibliotheken von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Ludge Syré. Frankfurt a.M. 2009 (= ZfBB Sonderband; 98), S. 183–194.

Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels 2014ff. URL: http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/.