Herr Lohmer und wie er die Welt sieht

In „Alles Lüge“ schickt Joachim Lottmann sein literarisches Ich ins Jahr der Flüchtlingskrise

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johannes Lohmer heißt das literarische Ich des Schriftstellers Joachim Lottmann seit geraumer Zeit. Mit ihrem Erfinder teilt diese Figur ein paar Lebensdaten und Meinungen – anderes eher weniger. Immerhin ist der gelegentlich auch kurz „Onkel Jolo“ genannte Romanheld hervorragend dazu geeignet, seinem Schöpfer Ärger vom Hals zu halten. Denn bei keinem anderen deutschsprachigen Schriftsteller unserer Tage taucht so viel Personal mit realem, lebensweltlichem Hintergrund auf wie bei Lottmann. Und der eine oder die andere von denen, die in seinen Büchern nicht immer in der Heldenrolle posieren – ob sie diesmal Navid Kermani oder Joachim Meyerhoff, Ronja von Rönne oder Jan Küveler, Mavie Hörbiger oder Frauke Petry heißen, von Maxim Biller ganz zu schweigen, der immer vorkommt –, könnte ja, wenn ihm oder ihr ganz und gar nicht gefallen sollte, was die Figur, die unter ihrem Namen auftritt, so alles denkt, tut und in die Welt hinaustönt, auf die Idee kommen, auch einmal etwas unwirsch zu reagieren.

Braucht er oder sie freilich gar nicht. Denn es ist ja, wie schon der Buchtitel vermeldet, Alles Lüge. Wenn auch eine, die man an der Wirklichkeit überprüfen kann. Diesmal jedenfalls geht es bei Lottmann um das Jahr zwischen Willkommenskultur und Terrorschock, Münchner Hauptbahnhof und der Strandpromenade von Nizza, mittendrin die Kölner Silvesternacht und der Brexit, also etwa um die Zeit zwischen Sommer 2015 und Sommer 2016. Und es geht natürlich um jene große Herausforderung, die die Flüchtlingskrise für Deutschland, Europa und die Welt darstellt. Sollte man all jene ihren Weg zu Mutter Merkel Suchenden nun freudig winkend und Hilfe anbietend begrüßen, sie mit harschen Worten von der Schwelle weisen oder – auch häufig praktiziert – den Mund halten und der Dinge harren, die da kommen würden?

Bei Lohmers jedenfalls geht der Riss mitten durch die Familie. Während Ehefrau Harriet – eine linksliberale, von feministischen Ideen durchdrungene Wiener Journalistin – sich für die Fremden engagiert und niemandes Einwände – auch nicht die des eigenen Ehemanns –unwidersprochen lässt, macht Johannes Lohmer das, was er immer tut: Er beobachtet, was vor sich geht, achtet auf Ungereimtheiten, deckt Widersprüche auf und nimmt kein Blatt vor den Mund. Das klingt dann zum Beispiel so: „Der sogenannte Islamische Staat interesssiert mich doch gar nicht. Ich rede über die Integration. Und ich verstehe jeden der Flüchtlinge, die jetzt aus Syrien kommen, daß sie lieber ein neues Syrien aufbauen wollen in Deutschland, als daß sie so werden wollen wie die tote Population im Alten Europa, in Flensburg, Husum oder Hallstatt.“

Zwischen Wien und Berlin, Athen und Nizza, Burgtheater und Berghain, Sanary sur Mer und Pinkafeld im Burgenland geht es ruhelos hin und her in Lottmanns Roman. Nicht alles, was von seinem Helden dabei getan und gedacht wird, ist politisch korrekt. Aber Political Correctness ist sowieso ein Reizwort für einen Autor, der auf seine eigenen Meinungen hält, auch wenn die nicht jedermann zu teilen vermag. Denn da, wo ihm andere ihre Sicht der Dinge aufdrängen wollen, wird er misstrauisch und stellt sich quer.

„Um meine schöne Frau zu behalten, war ich anscheinend zum ewigen Lügen gezwungen […] Wenn ich dann später in meinen Romanen all die Lügen in einem Selbstreinigungs-Exzess wieder aufhob und die Wahrheit schrieb, bekam ich erst recht ein Problem.“ Das mag für Johannes Lohmer eine private Zwickmühle darstellen – dem Leser aber beschert Lottmanns neuer Roman ein unterhaltsames Gemisch aus brennend aktuellen Fragen und kleinen Szenesticheleien, Indiskretionen und geschickt platzierten Halbwahrheiten, Plaudereien an Wiener wie Berliner Kaminen und durchaus ernst gemeinten politischen Kommentaren.

Gewidmet ist das Ganze im Übrigen dem großen Provokateur und unangepassten Denker Michel Houellebecq, dessen letzter Roman Unterwerfung (2015) als eine Art weltliterarisches Echo bei Lottmann immer mitzuhören ist. Und nicht nur das darf als ein deutliches Indiz dafür angesehen werden, wie ernst es dem Autor diesmal mit seiner Kritik an einer Gesellschaft ist, die auf gefährliche Weise auseinanderzudriften scheint in jenem Jahr, das die Gemütsruhe von Lottmanns/Lohmers Landsleuten auf die härteste Bewährungsprobe seit Langem stellte. Gibt es doch dafür, was aus Politikverdrossenheit und Elitenhass Fatales resultieren kann, seit Neuestem ein abschreckendes und in Alles Lüge selbstverständlich Erwähnung findendes Beispiel: „Lieber wählten die Leute inzwischen einen extrem häßlichen, schwitzenden, unsympathischen Kerl mit idiotischer Frisur als Leute, die sie bis zum Jüngsten Tag anlogen.“     

Mag manchen Lottmanns aktueller Roman auch ein bisschen zu geschwätzig daherkommen. Mögen andere das Namedropping, das der Autor hier wie immer in größter Ausführlichkeit betreibt, wenn er den Leser mitnimmt auf die Partys der Kulturprominenz, auch langsam ein bisschen ermüdend finden. Politischer jedenfalls als in diesem Roman war Joachim Lottmann lange nicht. Und er hat sich auf unerschrockene und provokante Art und Weise eines Themas angenommen, das die deutsche Wirklichkeit seit anderthalb Jahren bestimmt, während sich die deutsche Literatur nur langsam dazu entscheiden kann, es ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stellen.

Titelbild

Joachim Lottmann: Alles Lüge. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
351 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049640

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