Ein Treppenhaus als wissenschaftlicher Beweis?

Wie Michel Cymes versucht, die Gräueltaten der KZ-Ärzte zu erklären

Von Sarah NagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Nagel und Jan-Luka KlindworthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Luka Klindworth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp 70 Jahre nach Ende des nationalsozialistischen Regimes reiht sich die französische Originalausgabe des Werks (2015) in die zahlreichen, die Täterforschung betreffenden Publikationen ein. Es versteht sich als Mahnmal, dass Mediziner nie wieder in eine derartig abscheuliche Lage kommen dürfen. Michel Cymes, Arzt/Medizinjournalist, schreibt sein erstes Werk zur medizinischen Forschung in KZs fernab der Fachsprache für eine breite Leserschaft, leider ohne ausreichenden Rückgriff auf den hochdifferenzierten Forschungsstand.

Vorrangige Intention des Werkes ist die Vermittlung, warum KZ-Ärzte den Hippokratischen Eid brachen (Prolog). In 15 Kapiteln mit je einer plakativen Überschrift versucht der Autor ohne Anspruch auf Vollständigkeit dieser Frage nachzugehen. Immer dem gleichen Schema folgend werden dabei in neun Kapiteln ein ausgewählter Arzt, dessen im KZ durchgeführten Experimente sowie sein Werdegang nach 1945 erläutert. Seine emotional geleiteten Thesen untermauert er mit überlangen, hinsichtlich ihrer Herkunft nicht immer überprüfbaren Zitaten der Opfer sowie Arztberichten. Exemplarisch hierfür kann das 12. Kapitel skizziert werden: Zunächst wird auf anderthalb Seiten Claubergs „abstoßende[s] Äußere[s]“ beschrieben, laut Cymes „sieht er wie ein vorgealterter Säugling aus“. Nachfolgend schließt der Medizinjournalist mit dessen Forschung zur Sterilisierung an. Abschließend porträtiert der Autor das Leben des Arztes nach dem Krieg und spekuliert am Ende heftig, ob sein Tod nicht sogar ein Vertuschungsversuch der Pharmaindustrie gewesen sei.

Auf gleiche Weise behandelt Cymes Wilhelm Beiglböck, Aribert Heim, August Hirt, Herta Oberheuser und Erwin Ding Wie bei Sigmund Rascher werden auch Josef Mengele gleich zwei Kapitel gewidmet (Kapitel 10 und 11). Während Kapitel 10 dessen Zwillingsforschung thematisiert, stellt Cymes nachfolgend das Leben des Arztes nach dem Dritten Reich dar und bemüht sich um eine Charakterisierung Mengeles. Dass er hier von einer Affäre Mengeles mit der Frau seines verstorbenen Bruders auf dessen charakterliche Schwäche schließt, kann der Leser nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen und lässt an der Sinnhaftigkeit in Bezug auf das Werk zweifeln.

Die verblieben sechs Kapitel wirken im Kontext seines benannten Forschungsanliegens partiell überflüssig: Das Resümee des Nürnberger Ärzteprozesses im ersten Kapitel mag als thematische Einleitung sinnvoll erscheinen. Die exemplarische Erörterung von Himmlers Vorstellung von Wissenschaft im fünften indes hätte sachdienlicher und als Teil eines möglichen Fazits ausfallen können. Denn leider wird der Fokus hier so gesetzt, dass der Leser kaum mehr mitnehmen kann als die Information, dass Himmler die Ärzte aufforderte zu experimentieren. Cymes niedergeschriebener Ausflug nach Straßburg als Nachtrag zur ursprünglichen Ausgabe ist an dieser Stelle deplatziert. Hier beschäftigt er sich mit der Skelettsammlung der Universität Straßburg und verurteilt subtil, dass dort noch Exponate aus der NS-Zeit vorhanden sind. Besonders abstrus wirkt in diesem Zusammenhang seine immer wiederkehrende Bezugnahme zur schwarz-roten Gestaltung des Treppenhauses. Der Leser könnte vermuten, er unterstelle der Universität eine andauernde Identifizierung mit nationalsozialistischem Gedankengut. Die Behandlung der Thematik endet mit Kapitel 15, in welchem darauf aufmerksam gemacht wird, dass einige der nationalsozialistischen Forscher von den Alliierten rekrutiert wurden und der Forschung somit weiterhin nachgehen konnten.

Kontrastiert wird das Buch in der Mitte durch 21 Abbildungen auf qualitativ hochwertigem Papier. Diese zeigen hauptsächlich Porträts der Ärzte, während wenige andere experimentelle Aufstellungen oder Betroffene abbilden. Im anschließenden, kurzen Fazit resümiert Cymes, dass er keine Antwort auf die Eingangsfragen finden konnte, was bei seiner spekulativen und willkürlichen Vorgehensweise den Leser auch nicht verwundern mag. Lediglich kann er darauf hinweisen, dass durch die Experimente kein wissenschaftlicher Fortschritt erzielt wurde – eine These, die vor dem beruflichen Hintergrund des Autors glaubhaft erscheint. Durch den journalistisch geprägten Schreibstil gelingt es ihm einerseits, den Leser zu fesseln. Andererseits befördern die unsachlich-wertenden, spekulativen Beschreibungen, welche Cymes emotionaler Involvierung in das Thema geschuldet sein mögen, wenig die sachlich-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser sensiblen Thematik.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michel Cymes: Hippokrates in der Hölle. Die Verbrechen der KZ-Ärzte.
Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfe.
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2016.
208 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783806232851

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