Die Gegenwart mit den Mitteln der Kunst vergegenwärtigen

Cécile Wajsbrots „Eclipse“

Von Stephanie BungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste Kapitel ist Leonard Cohens wunderbarem Song Famous Blue Raincoat gewidmet. Zu Beginn des Romans werden wir jedoch zunächst mit den Eigenschaften eines Baumes vertraut gemacht, der sich inmitten einer zerstörten Landschaft aufrecht hält und bald schon wieder erste Blätter produzieren wird. Der Ginkgo – im weiteren Verlauf der Beschreibung zeigt sich, dass es nicht um einen konkreten Baum, sondern um den Ginkgo als Stellvertreter seiner Art handelt – ist Sinnbild für das Leben nach Katastrophen, mögen sie sich in Hiroshima ereignet haben oder an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit:

Aus der völligen Verwüstung erhob sich ein einziger Baum, trotz seiner kahlen Äste siegreich, weil aufrecht, während alles am Boden lag, weil unversehrt, während alles zersprang. […] die Ginkgos, seit langem geübt im Überleben, nachdem sie, wie es heißt, den Naturkatastrophen der Vorgeschichte standgehalten und Zeitalter durchlebt hatten, die kein Mensch je gekannt; die Ginkgos hielten stand, während alles rings umher starb, und sie waren die ersten, die sich im Frühling nach der Bombe wieder mit Laub bedeckten. Die ersten Bäume, die wieder lebten.

Cécile Wajsbrot wurde 2016 mit dem Prix de l’Académie de Berlin ausgezeichnet, der seit 2008 für außergewöhnliche Leistungen im Bereich deutsch-französischer Beziehungen verliehen wird. Aus dem umfangreichen Œuvre der Autorin wurden bislang sieben Bücher ins Deutsche übertragen. Einige ihrer Werke, wie Der Verrat (frz. La Trahison, 1997) oder Aus der Nacht (frz. Mémorial, 2005), beschäftigen sich mit dem Leben nach einer ganz bestimmten, nicht nur in der deutsch-französischen Erinnerung höchst gegenwärtigen Katastrophe, dem Holocaust. Andere, wie der Essay Für die Literatur (frz. Pour la littérature, 1999), sind dem Nachdenken über das Schreiben und die Kunst gewidmet. Eclipse (frz. Totale éclipse, 2014) nimmt in diesem Spektrum eine besondere Position ein. Nicht nur handelt es sich um den derzeit jüngsten fiktionalen Text der Autorin, er ist zudem auch der einzige ins Deutsche übersetzte Teil einer als Pentalogie angelegten Komposition, die in fünf aufeinanderfolgenden Romanen das künstlerische Schaffen zum Gegenstand des Erzählens macht. Dies zu wissen ist hilfreich, will man ein spezifisches Anliegen dieses Buches erfassen, das um ein Ineinandergreifen verschiedener Künste kreist und damit unmittelbar an die ihm vorausgehenden Werke Conversations avec le maître (2007), L’île aux musées (2008) und Sentinelles (2013) anschließt. Zusammen mit einem fünften, noch im Entstehen begriffenen Roman, in dem es um Literatur gehen wird, thematisieren sie die Bedeutung von Kunst für das Zusammenspiel von Dauer und Vergänglichkeit (menschlichen) Lebens. Denn was sich im Ginkgo bereits andeutet, der wie die Skulpturen in L’île aux musées zu den Leitmotiven des Fortbestehens gezählt werden darf, setzt sich im Verlauf von Eclipse fort: Es geht in diesem Roman in erster Linie um Zeit und um ihren Nachvollzug anhand von Musik und Fotografie, anhand von berühmten Popsongs – auf Famous Blue Raincoat folgen u.a. Diamonds and Rust von Joan Baez, Total Eclipse of the Heart von Bonnie Tyler, Rehab von Amy Winehouse – und deren im Internet abrufbaren Aufführungen auf den Konzertbühnen dieser Welt. Anders als in Conversations avec le maître, wo Vergänglichkeit und Zerstörung in der reinen, nicht mit Sprache verquickten Musik eines verstorbenen Komponisten verkörpert wurden, wird in Eclipse das Fortschreiten der Zeit also durch eine Musik zum Ausdruck gebracht, die in unserem medialen Alltag häufig und zudem im Verbund mit Bild und Wort auftritt, wodurch sie uns vertraut ist. Dies mag auch eine Rolle bei der Entscheidung des Verlages gespielt haben, diesen bislang letzten Roman der Pentalogie zuerst übersetzen zu lassen.

Die Handlung, wie in vielen Romanen von Cécile Wajsbrot, ist schnell zusammengefasst: Die Ich-Erzählerin, zu Beginn der Geschichte eine eher erfolglose Fotografin, verliebt sich in einen Mann, dem sie zufällig in einem Café begegnet und den sie – entweder aufgrund der trüben Jahreszeit oder in Anlehnung an Leonard Cohens Song – den „Regenmacher“ nennt. In ihm nimmt die Erinnerung an den „ungarischen Dichter“, einen früheren Geliebten, Gestalt an. Besessen von der Erscheinung des Regenmachers spielt die Fotografin stundenlang Platten ab, auf denen Lieder zu hören sind, die ihre Erinnerungen an den ungarischen Dichter noch verstärken. Sie sieht sich im Internet Aufzeichnungen von Konzerten an, informiert sich über Leben und Werk der Interpreten und vergleicht die verschiedenen, im Laufe der Zeit mal mehr und mal weniger voneinander abweichenden Darbietungen der ausgewählten Lieder. Außerdem entwickelt sie einen Plan, wie sie den Regenmacher wiedersehen und kennenlernen kann: Sie hinterlässt ihm in dem Café, in dem er offenbar nicht zum ersten Mal aufgetaucht war, eine Nachricht mit der Bitte, er möge sich von ihr für eine geplante Ausstellung fotografieren lassen; in den Straßen von Paris, während er sich immer weiter von der Kamera entfernt. Diese Rückenaufnahmen stoßen auf unerwartetes Interesse und alsbald nimmt die Karriere der Fotografin eine vielversprechende Wendung. Am Ende des Buches kehrt sie jedoch zu den Ginkgos zurück und beschließt, von nun an nur noch reine, von Worten unbeeinflusste Musik zu hören. Man könnte annehmen, dass es ihr gelungen sei, sich von der Vergangenheit zu lösen und ihren Obsessionen, denen sie durch die Lieder immer neue Nahrung zugeführt hatte, zu entkommen. Einerseits. Andererseits könnte man sich aber auch vorstellen, dass sie trotz des Erfolges und der Affäre mit dem Regenmacher immer einsamer wird, geradezu menschenscheu, zumal das letzte Kapitel Pink Floyds berühmten Song Another Brick in the Wall gewidmet ist.

Das eher unspektakuläre Handlungsgefüge lenkt die Aufmerksamkeit auf Fragen, die Cécile Wajsbrot in vielen ihrer Romane aufwirft: Wie verhält sich das individuelle Zeiterleben zu jener Zeit, die uns als geschichtliche Wesen in der Welt sein lässt und die wir mit anderen teilen? Was verbindet diese mit jenem und wie kommt man aus der alltäglichen Gegenwart jedes einzelnen zur Gegenwärtigkeit dessen, was war und uns verbindet? Auf der Handlungsebene deutet sich diese Problematik in der Konfrontation der Fotografin mit einem verständnislosen Kunsthändler an:

Wenn es in einer bestimmten Art und Weise gesprochen wird, bedeutet interessant genau das Gegenteil. Er blätterte zerstreut in der Mappe, huschte über die sorgsam zusammengestellten Bilder hinweg, zehn Jahre Arbeit, die Reihenfolge, die Anordnung waren genau durchdacht, ich hatte versucht, die Dinge auf originelle Weise zu präsentieren, die Monotonie der Aneinanderreihung zu durchbrechen, eine thematische und doch chronologische Ordnung zu finden, aber meine Mühe prallte bloß gegen sein gnadenloses Verdikt: interessant. „Vielleicht nicht genügend in der Gegenwart verankert“, sagte er, „ich rufe Sie wieder an, wenn ich weiter bin.“ Mit anderen Worten nie – ich kenne die Sprache der Ablehnung. „Danke für Ihr Kommen.“ Ich stand auf, meine Niederlage ohne ein Wort zementierend.

Liegt der Wert von Kunst etwa darin, möchte man den selbstgefälligen Galeristen fragen, irgendwen oder irgendwas in der Gegenwart zu verankern? Oder geht es nicht vielmehr darum, diese Gegenwart mit den unterschiedlichsten Mitteln der Kunst überhaupt erst zu vergegenwärtigen? Wie in den anderen Künstlerromanen der Pentalogie geht es in Eclipse um diesen Prozess und um die gewählten Mittel. Die unbewegten Bilder der Fotografie, in denen die Bewegung eines sich entfernenden Körpers sichtbar wird, treffen auf bewegte Bilder im Netz, die durch das Anklicken der immer gleichen Songs ein Beharrungsvermögen zum Ausdruck bringen, das wiederum mit der Überlebenskraft des Ginkgos korreliert. Die Musik, der Baum, die Bilder vermögen sowohl Vergänglichkeit als auch Kontinuität zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sie sich dabei immer auf derselben Bedeutungsebene befinden müssen. Hier lässt sich ein strukturelles Prinzip erkennen, das Wajsbrots Erzählen insgesamt kennzeichnet: Sie bewegt sich auf mehreren semantischen Ebenen, gestaltet bestimmte Motive – wie den Ginkgo oder die Schnee-Eule in Aus der Nacht –, um Übergänge zu markieren oder um die innere Dynamik ihrer Texte zu beeinflussen, arbeitet mit einem spezifischen Verhältnis von Erzähler- und Figurenstimme und benutzt Satzzeichen – insbesondere Spiegelstriche und Kommata –, um einen Wechsel des imaginierten Tonfalls oder der Stimmlage anzudeuten. Dabei wirken ihre Texte nicht überladen oder auch nur konstruiert, im Gegenteil, sie zeichnen sich durch eine Leichtigkeit, eine helle Melancholie aus, die sicherlich nicht zuletzt mit der musikalischen Qualität ihrer Sprache zusammenhängt. So auch in diesem Roman: Cécile Wajsbrot schreibt für das innere Ohr ihrer Leserschaft und lässt sie so teilhaben an ihrer ganz besonderen Arbeit mit und an der Zeit.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Cécile Wajsbrot: Eclipse.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
128 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572639

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