Das schmerzlichste Jahr

Der sechste Band von Hedwig Pringsheims Tagebüchern bietet geradezu sensationelle Entdeckungen zum Lebensabend ihrer Mutter Hedwig Dohm

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jahr um Jahr legt Cristina Herbst einen weiteren Band der von ihr herausgegebenen Tagebücher von Hedwig Pringsheim vor. Eine wahrhaftig beeindruckende editorische Leistung. Nicht nur, weil sie jeden der Bände mit akribisch recherchierten Fußnoten zur zeitgenössischen Politik und zum Kriegsgeschehen wie auch zu im Tagebuch erwähnten Personen und Lektüren versieht und den Bänden ebenso umfang- wie kenntnisreiche Einleitungen voranstellt, sondern auch, weil die handschriftlich verfassten Tagebücher zunächst einmal transkribiert werden müssen.

Der vorliegende Band, der sechste in der Reihe, enthält Pringsheims Aufzeichnungen aus den Jahren 1917 bis 1922. Sein erster Eintrag klingt ebenso bedrückt wie der letzte des vorherigen, der mit Silvester 1916 endet. Der neue Band setzt mit der am 1. Januar 1917 niedergeschriebenen Klage ein, in „strömendem Regen“ beginne das neue Jahr „trostlos, hoffnungslos, grau von innen und außen“.

Die folgenden Monate und Jahre boten kaum einmal Anlass zu optimistischeren Bemerkungen, folgte doch für die Verfasserin eine in vielerlei Hinsicht besonders schwere Zeit. Zum einen aufgrund der zeitgeschichtlich bedingten Härten, die sie wie alle Deutschen zu tragen hatte. In den Jahren 1917 und 1918 sind sie natürlich insbesondere kriegsbedingt. Pringsheim betont während der letzten Kriegsjahre das Grauen und Leiden aller Beteiligten und hofft auf ein baldiges Ende der Kampfhandlungen, steht aber doch eindeutig auf Seiten der Deutschen, wie aus ihren relativ regelmäßigen, jedoch nur spärlich kommentierenden Einträgen zum Kriegsgeschehen hervorgeht. In den Monaten vor und nach der Niederlage im „Großen Krieg“, wie er später in der Zwischenkriegszeit genannt wurde, verschärfte sich die Versorgungslage der Menschen in Deutschland noch einmal gravierend. So musste auch Pringsheim wie alle anderen „auf’s Lebensmittelamt“. Hinzu kam von November 1918 an die unsichere und gefährliche Zeit revolutionärer Erhebungen, von denen Pringsheims Heimatstadt München schon vor der Ausrufung der Räterepublik 1919 besonders betroffen war. Einige Jahre später galt es schließlich, die zunehmend galoppierende Inflation zu bewältigen. Der vorliegende Tagebuchband endet in einer Zeit, in der sie ihrem Höhepunkt zustrebte.

Während der revolutionären Wirren des jungen Jahres 1919 lassen die nächtlichen Schießereien und Straßenschlachten Pringsheim des Öfteren „kein Auge zutun“. Einmal muss sie sogar um Leib und Leben fürchten, als sie im April „fast in eine Schießerei beim Wittelsbachpalais“ geriet.

Zugleich wird sie von der größten Sorge um ihre in Berlin lebende Mutter Hedwig Dohm gepeinigt. Denn in der deutschen Hauptstadt „herrscht blutige Anarchie“, wie sie Anfang des Jahres nicht ohne Grund notiert. In den Zeitungen muss sie beängstigende Nachrichten lesen, „die von blutiger Schlacht im Berliner Schloß u. Umgebung berichten – ganz schauderhaft“. Dohm wiederum sorgt sich ihrerseits nicht weniger um ihre Tochter, liest sie doch in den „Berliner Blättern“ von den besorgniserregenden Kämpfen in München, während die Briefe, die sie einander fast täglich schreiben, insbesondere im April 1919 nicht oder nur mit wochenlanger Verzögerung zugestellt werden.

Schon Mitte Januar hatte Pringsheim die Sorge um ihre Mutter nach Berlin getrieben, wo „strengster Belagerungszustand“ herrschte, „was je nachdem Befriedigung u. Empörung auslöste“. Sie selbst ist am 25. des Monats „durch die Straßen gebummelt, die wegen Liebknechts Begräbnis von Maschinengewehren, Kanonen u. Wachen starren“.

Doch überstehen Hedwig Prinsheim und die Ihren all das einigermaßen glimpflich. So zitiert Herbst in der Einleitung aus einem Brief Pringsheims an Maximilian Harden aus dem März 1919, in dem sie den Empfänger beruhigt, sie seien während der Kämpfe um die Münchner Räterepublik „nicht belästigt worden (wie viele), nicht geplündert, nicht nach Waffen durchsucht, und weder Alfred noch Tommy waren Geiseln“. Dabei hegt sie wenige Sympathien für die Revolutionäre: „Alle Welt hofft auf die Weiße Garde“, notiert sie am 29. April 1919 und freut sich zwei Tage später, dass auf der Residenz statt der roten wieder „die blauweiße Fane [sic] zwischen 2 weißen“ prangt. Es dauert jedoch keine Woche, da klagt sie, dass das Gebaren der neuen Herren „nach meinem Empfinden schon wieder allzu militärisch“ sei.

Ein wenig Hoffnung auf bessere Zeiten schöpft sie aus der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles am 29. Juni des Jahres. „‚Schmachfriede‘ oder nicht, hart u. grausam gewiß: aber es ist Friede! Und eine leichte Möglichkeit u. Hoffnung besserer Zeit dämmert doch herauf, trotz alledem.“

Persönlich erleidet Pringsheim in diesem „traurige[n] u. fürchterliche[n]“ Jahr 1919 den wohl tiefgreifendsten Verlust ihres Lebens überhaupt. Es ist der Tod ihrer am 1. Juni verstorbenen Mutter, der ihr das Jahr 1919 zum „schmerzlichste[n]“ werden lässt.

Es darf ohne Übertreibung gesagt werden, dass sie sich kaum jemandem derart innig verbunden fühlte wie ihrer liebevoll „Mimchen“ genannten Mutter. Wenn sie einander nicht besuchten, korrespondierten sie über die Jahrzehnte hinweg fast täglich. Dabei schrieb Pringsheim ihre Briefe keineswegs flüchtig herunter, sondern verfertigte am Vorabend nicht selten einen Entwurf. Ebenso regelmäßig besuchten sie einander in all den Jahren. In der letzten Zeit aber konnte Dohm die Besuche ihrer Tochter nicht mehr erwidern, die Strapazen der langen Reise von Berlin nach München wären für die zunehmend gebrechlicher werdende Dame doch zu groß gewesen, zumal in dieser unsicheren Zeit. So besuchte Pringsheim ihre Mutter in deren letzten Lebensjahren, wann immer es ihr möglich war, in Berlin, wo sie sie schon im Juni 1917 „schrecklich verändert“ vorfand, „ein klägliches Häuflein Jammer u. Leid, mit den Zügen einer Sterbenden“. Überhaupt waren Dohms letzte Jahre von körperlichem Leiden geprägt. Im Sommer 1917 etwa entzündete sich einer ihrer Finger derart stark, dass vorübergehend sogar eine Amputation erwogen wurde. Diese konnte zwar vermieden werden, doch bereitete Dohm die langwierige Versorgung der offenen und häufig zu reinigenden Wunde immer wieder große Qualen, sodass sie den Behandlungen sehr ängstlich entgegensah. Denn die „schmerzhaften Proceduren“ wurden oft zu „herz- u. nervenzerreissende[n] Schmerzensscene[n]“, die auch ihre mitfühlende Tochter kaum ertrug.

Pringsheim selbst war in dieser Zeit ebenfalls ernsthaft erkrankt, es ist sogar von einem eventuell operativ zu entfernenden Tumor die Rede, doch berichtet sie in den Tagebüchern weit ausführlicher über die Entwicklung des Gesundheitszustandes ihrer Mutter, den sie im Sommer 1917 fast täglich vermerkt.

Auch während der letzten Tage ihrer Mutter war Pringsheim zugegen. Über die Sterbestunde ihres geliebten „Mimchen“ notiert sie am 1. Juni 1919 im Tagebuch:

Nachts um 3 ist Mutter, nach schwerem Todeskampf, aber one das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, gestorben. Von 2 Ur an saß ich, da der keuchende Atem u. das Stöhnen zunahm, mit Aumann an ihrem Bett, um ¾ 3 sagte sie, es ginge zuende, ich rief Else u. Miez, als ich zurückkam hatte der Atem u. der Puls bereits ausgesetzt u. ganz schnell trat das Ende ein, um 3 Ur 10 war sie tot. Uns schien der Todeskampf schwer u. qualvoll, ob sie ihn gespürt, bleibt ewig Geheimnis, jedenfalls veränderte sich kein Zug ihres armen, rürenden Gesichts. Nachdem die Aumann die letzte Ordnung gemacht hatte, zogen wir uns zurück. Nun liegt sie wachsbleich u. tiefrürend auf ihrem Sterbelager.

Pringsheims Einträge der nächsten Tage bringen etwas Licht in das Dunkel um Dohms verschollenen handschriftlichen Nachlass. Wie das Tagebuch verrät, haben Pringsheim und ihre Schwester Maria Gagliardi die nachgelassenen Papiere ihrer Mutter über einige Tage hinweg „gesichtet und zerrissen“. Es sei „unglaublich, mit welchem Fleiß Mutter alles: Eindrücke, Gedanken, Citate, Beobachtungen notiert, in kleinen und großen Heften zusammengetragen hat!“, staunt Pringsheim am 4. Juni. Die Briefe, die ihre Eltern einander geschrieben haben, hat sie allerdings aufbewahrt; sie erwähnt im Tagebuch später noch gelegentlich, dass sie in ihnen liest. Die eigenen Briefe an ihre Mutter hat sie ebenfalls aufgehoben und „in 2 Körbe verpackt“.

Machen die Einblicke in die letzten Monate Hedwig Dohms den vorliegenden Band für die ihr geltende Forschung schon überaus wertvoll, so bietet sein Anhang sogar eine mittlere Sensation, enthält er doch Transkriptionen der letzten Briefe, die Dohm an ihre Tochter schrieb – es sind ihrer 16 an der Zahl, verfasst zwischen dem 9.4. und dem 17.5.1919 – sowie ein Faksimile ihres Letzten Willens. Beides, die Briefe wie auch der Letzte Wille, waren der Forschung bislang unbekannt. Sogar Pringsheims Erwähnung von Dohms offenbar letztem, bislang ebenfalls unbekanntem und wohl nicht publiziertem Manuskript mit dem Titel „Einsamkeit“ tritt demgegenüber in den Hintergrund.

Neben diesen Dokumenten enthält der Anhang, kaum weniger wichtig, einen drei Druckseiten umfassenden Text Pringsheims, in dem sie „Die letzten Tage“ ihrer Mutter schildert. Darüber hinaus bietet er diverse Nachrufe etwa von Lida Gustava Heymann sowie – auch das sei nicht vergessen – ein Dokument zu Hedwig Dohms Ehemann Ernst. Hinzu treten Hermann Rosenberg, Klaus Pringsheim, Heinrich und Thomas Mann betreffende Dokumente sowie auf politischem Feld einige zum Ende des Ersten Weltkrieges und zu den anschließenden Friedensverhandlungen.

Auch nach Dohms Tod befasst sich Pringsheim immer wieder einmal mit Werk und Wirken ihrer Mutter. So liest sie im Herbst etwa noch einmal den Roman Christa Ruhland. Im Oktober 1920 wiederum protestiert sie gegen eine „frech verlogene Notiz über Sibilla Dalmar“ des „Antiquar Grauße in Berlin“. Ein gutes Jahr darauf wird Pringsheim von „der unangenehmen Lise Müller“ besucht, „die auch zur Begrüßung Herrn Juel mitbrachte u. ‚Material‘ für ein Dohm-Buch von mir will“ – „ja Kuchen!“, kommentiert sie im Tagebuch mit einer heute so kaum noch bekannten Wendung. Frau Müller wird im Register nicht genannt und war von der Herausgeberin wohl auch nicht zu identifizieren.

Bei all den zeitgeschichtlichen Wirren und persönlichen Trauerfällen pflegt Pringsheim ihre umfangreichen Lektüren nicht weniger als in den Jahren zuvor. Ebenso regelmäßig besucht sie weiterhin Konzerte, Oper und Theater sowie gelegentlich einen politischen Vortrag. So etwa im Oktober 1920 einen der „pacifistischen Frauen-Liga“ oder 1922 eine „‚Nie wieder Krieg‘-Versammlung“. Zudem hält sich die nunmehr in ihren Sechzigern stehende Frau regelmäßig mit „Turnstunde[n]“ fit.

Und selbstverständlich macht sie Anfang 1919 von dem gerade errungenen Frauenwahlrecht Gebrauch und stimmt bei der Landtagswahl für den „Mehrheitsso[z]ialisten“. Ihr Mann wiederum nutzte das Frauenwahlrecht auf seine eigene Weise und wählte eine „Kandidatin der ‚Deutschen Volkspartei‘“.

Trotz ihres ‚sozialistischen‘ Votums stand Pringsheim mit ihren Bediensteten offenbar nicht auf allzu gutem Fuß. Jedenfalls ist ihr Verschleiß an Hausangestellten außergewöhnlich hoch. Als sie zwei Tage nach ihrem 65. Geburtstag ohne Köchin dasteht, vermerkt sie im Tagebuch, sie habe „zum erstenmal in meinem Leben gekocht, den ganzen Vormittag; was doch recht ermüdend“ sei.

Titelbild

Hedwig Pringsheim: Tagebücher. 1917-1922.
Herausgegeben und kommentiert von Cristina Herbst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
806 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319967

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