Mücken, Moose, Mandala

David Haskells Naturbeobachtungen in „Das verborgene Leben des Waldes“

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Können wir durch ein kleines, beschauliches Fenster aus Laub, Felsen und Wasser den ganzen Wald sehen?“ Der Biologe-Professor David George Haskell beantwortet genau diese Frage in seinem Buch Das verborgene Leben des Waldes: Natürlich können wir das, vorausgesetzt, wir haben einen so kundigen, geduldigen und sprachverliebten Führer an unserer Seite, wie Haskell. Mehr als 40 Mal innerhalb eines Jahres nimmt uns der Autor mit in ein einen Quadratmeter großes Waldareal, das innerhalb eines urwüchsigen Waldes in den Bergen von Tennessee liegt.

Liebevoll nennt Haskell seine Miniaturparzelle „Mandala“. Dieses Mandala zu betrachten bedeutet, sich auf die „Suche nach dem Universellen im unendlich Kleinen“ zu machen. Für Haskell (und seine Studenten) heißt das auch, am Mandala Geist und Beobachtungsgabe zu schärfen.

Die erste Exkursion, die man als Leser in Haskells Mandala unternimmt, findet am Neujahrstag statt, die letzte an Silvester. Haskell geht alle paar Tage zu seinem Waldstück, egal ob es schneit oder regnet, gleichgültig ob Mücken und Hitze ihn plagen. Er begibt sich auf den Boden des kleinen Areals und untersucht es mit allen Sinnen. Haskell beschreibt – neben dem was er sieht – auch Düfte, Geräusche und taktile Eindrücke. Seine Forschungsausrüstung besteht einzig und allein aus sensiblen Sinnesorganen, wobei er seine Augen hin und wieder mit einer einfachen Lupe und manchmal auch mit einer Taschenlampe unterstützt.

Die akribischen Beobachtungen werden zu behutsamen Beschreibungen verarbeitet, die in ihrer Anschaulichkeit kaum zu übertreffen sind. Das Buch kommt mit einigen wenigen Fotografien aus. Man würde sich die eine oder andere zusätzliche Abbildung zwar wünschen, man kommt aber auch ohne sie bestens zurecht. Dennoch ist es hilfreich, ein Bestimmungsbuch während der Lektüre parat zu haben, um die (in Mitteleuropa unbekannteren) Tiere und Pflanzen nachschlagen zu können.

Dass man das Buch – auch ohne große botanische und zoologische Kenntnisse aus dem Biologie-Unterricht ins Erwachsenenleben gerettet zu haben – mit großem Vergnügen und vor allem auch Erkenntnisgewinn lesen kann, liegt jedoch nicht allein an Haskells anschaulichem Schreibstil, sondern auch an der Schönheit seiner Sprache. Die Übersetzung aus dem Englischen nahm Christine Ammann vor.

Die 43 Naturbeobachtungen sind jeweils in sich geschlossene, kurze essayhafte Texte, die vom Mikrokosmos des Mandalas häufig weit hinausführen und in eine Betrachtung des ganzen Waldes und manchmal auch des gesamten Kosmos übergehen. So denkt Haskell in seinem Text „Spuren“ vom 2. Februar – ausgehend von einigen Trittsiegeln – über die jahrtausendalte Geschichte des Waldes nach und die Frage, was unser kulturelles (und wissenschaftliches) Gedächtnis als „normalen“ Wald akzeptiert und was nicht, wie viele Hirsche der Wald verträgt oder braucht. Haskells Fazit: „Ein Wald ohne große Pflanzenfresser ist wie ein Orchester ohne Geigen.“ Er fordert uns auf, den Blick zu weiten, damit wir „die komplette Symphonie“ anhören können.

Immer wieder verbindet Haskell seine Beobachtungen auch mit Plädoyers dafür, herkömmliche Perspektiven und Wertungen zu überdenken. Den fachsprachlichen Begriff „Totholz“ entlarvt er als grobe Fehlbenennung, ist ein umgestürzter Baum doch „das wichtigste Lebenselixier des Waldes“. Wuchtig und wirkungsvoll ist auch seine Schlussfolgerung: „Wenn wir die evolutionäre Kontinuität des Lebens akzeptieren, können wir anderen Tieren unsere Empathie nicht mehr verweigern.“

Die kleinen, tagebuchartigen Essays zeugen von großer Begeisterung für das Metier. Sie enthalten liebevolle Schilderungen des Paarungsverhaltens von Salamandern („heikle Beinarbeit“ und „zärtliches Wangenreiben“), Schnecken („ihr ausgedehntes Liebesspiel“ sieht nach „umsichtiger Diplomatie“ aus) und Pilzfäden („ein „raffinierter Pas de deux“ mit „chemischem Liebesgeflüster“). Ein frühes Vogelkonzert („Vogelerwachen“) ist mit so viel Bildkraft beschrieben, dass die Grenze von biologischem Sachbuch zur Naturpoesie vollends überschritten wird – da rattern „Kastagnetten“, werden Töne „gen Himmel geschleudert“, um den „Wald wie Wellen“ zu fluten um schließlich als „plätschernde Strudel“ auszuklingen.

Haskell sieht auch im unsympathischsten Tierchen noch das Schöne: So findet er einen „winzigen gezähnten Zierrand“, „gottesfürchtig“ zum Himmel gestreckte Beinpaare, „durchsichtige Füße, die die Sonne einfangen“ und „güldenen Glanz“, wenn er eine weibliche, adulte Amerikanische Zecke beschreibt. In jungem Dolchfarn – an sich gar nicht so spektakulär – erkennt er „Schlangenmäuler“, die „Trauben von goldenen Kugeln“ halten.

Der Wissenschaftler Haskell vermeidet die distanzierte Betrachtung seines winzigen Forschungsfeldchens, er degradiert die Natur nicht zum Forschungsobjekt und spielt sich nicht als Entdecker-Genie auf. Im Gegenteil: Seinen Beobachterstatus sieht er als Makel, er sieht sich „nicht als Vollmitglied“ der Waldgemeinschaft. Die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Natur setzt er ganz oben an: „Weil Pflanze und Tier in einen uralten biochemischen Kampf verstrickt sind, bin ich, über die Architektur meiner Moleküle, mit dem Wald verbunden.“

Auch wenn sein „zoologisches Ich“ davon peinlich berührt wird: Haskell traut es sich, von einem Trio junger Waschbären zu sagen: „Die Tiere waren einfach hinreißend.“ Der Biologe fordert Staunen und Bewunderung für die Natur ein, auch wenn viele Wunderdinge durch die Wissenschaften enträtselt sind. So wundert es nicht, dass das Buch mit Einsichten voller Demut zu Ende geht: Denn letztlich sind uns „der Blick auf die wahre Natur der Physiologie des Lebendigen“ verstellt, wir besitzen „höchstens eine vage Vorstellung“ von dessen Vielfalt.

Das verborgene Leben des Waldes öffnet die Sinne für eigene Naturbeobachtung und -wahrnehmung und vermittelt gleichzeitig eine Fülle aktuellen naturkundlichen Wissens. Es enthält Texte, in denen Schönheit, Zärtlichkeit und biologische Kenntnis auf Engste miteinander verwoben sind. David George Haskell beabsichtigt mit seinem Buch – wie er selbst schreibt – ein Hoheslied auf den Wald. Das ist ihm gelungen.

Titelbild

David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung.
Übersetzt aus dem Englischen von Christine Ammann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
325 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140617

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch