Durch Tiefenbohrungen zu den Ursprüngen
Ludger Honnefelder über zukunftsweisende Problemstellungen der mittelalterlichen Philosophie
Von Simone Loleit
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWo liegen die Ursprünge der europäisch-westlichen Moderne? Neben der antiken Philosophie und dem Zeitalter der Aufklärung wurde die neuzeitliche Philosophie und die kulturelle Identität der Moderne insbesondere auch von der mittelalterlichen Philosophie und Theologie wesentlich mitgeprägt. Ohne die „mittelalterlichen Rezeptionsvorgänge und Transformationsgestalten“ sei die neuzeitliche Philosophie in ihrer vorliegenden Gestalt nicht denkbar beziehungsweise hätte sie im direkten, ungefilterten Rückgriff auf die antiken Traditionen sicherlich einen anderen Verlauf genommen.
Ludger Honnefelder verortet den Ursprung von Vorstellungen wie Individuum, Freiheit und insbesondere Willensfreiheit, Kontingenz und daran anschließend den Raum des Möglichen und den Gedanken möglicher Welten sowie die neue Erfahrung einer sich in die Zukunft erstreckenden Geschichte im Hoch- und Spätmittelalter. Als entscheidenden Impuls für die mittelalterlich philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit der griechisch-antiken Philosophie benennt er die Wiederentdeckung der aristotelischen Philosophie und Wissenschaft im 12. und 13. Jahrhundert: In dieser ‚zweiten Begegnung‘ habe nicht mehr das Postulat der Theologie als ‚wahre Philosophie‘ (Justin) im Zentrum gestanden, sondern ein äußerst fruchtbarer Dialog zwischen Theologie und Philosophie begonnen.
In zwölf thematischen Kapiteln widmet sich Honnefelder unter anderem Fragen der Metaphysik, Ontologie, Ethik, Naturphilosophie, Naturrechtslehre und Geschichtsphilosophie, von denen im Folgenden einige herausgegriffen werden sollen:
Die Auseinandersetzung mit dem Aristotelischen Konzept einer ‚Ersten Philosophie‘ (Metaphysik) habe zum „zweiten Anfang der Metaphysik“ im Mittelalter und dabei von der Herausbildung einer Onto-Theologie (Albertus Magnus, Thomas von Aquin) zu dem Konzept einer Metaphysik als Transzendentalwissenschaft (Johannes Duns Scotus) beziehungsweise als Metaphysikkritik (Wilhelm von Ockham) geführt. Methodisch besonders einflussreich für die neuzeitliche Entwicklung der Disziplin sei Scotus’ formal-transzendentale und modale Betrachtungsweise der Metaphysik und die von ihm erstmals vorgenommene Strukturierung in einen analytischen und einen synthetischen Teil geworden, wohingegen Ockhams Metaphysik in Richtung einer universalen formalen Semantik tendiere.
Auch die aristotelische Modalitätenlehre sei im Mittelalter, ausgehend von Avicenna über Thomas von Aquin, Heinrich von Gent bis hin zu Scotus und Ockham, neu interpretiert worden, indem die Modalitäten Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz „in ihrem ontologischen Status nicht mehr in Bezug auf ein Vermögen (und sei es das Gottes) verstanden“ worden seien. Mit dem Wegfall des Prinzips, dass möglich nur das ist, was auch wirklich werden wird, steht dem Denken möglicher Welten nichts mehr im Wege. Der neue, ontologische Möglichkeitsbegriff sei ebenso wie die Entwicklung der Vorstellung, dass etwas zum gleichen Zeitpunkt sein und nicht (beziehungsweise anders) sein könnte (‚synchrone Kontingenz‘), grundlegend für das moderne Denken geworden.
Eine lange Nachwirkung bescheinigt Honnefelder auch dem Modell praktischer Ethik des Thomas von Aquin, das dieser im zweiten Teil seiner Summa Theologiae als Ethik des guten Lebens entwickelte. Für Thomas habe die Instanz des Gewissens (conscientia) und des Gewissensurteils hohen Stellenwert für das handlungsleitende Urteil; er definiere das Urgewissen (synderesis) als oberstes Prinzip der praktischen Vernunft. Honnefelder wertet den in Grund- und Menschenrechten verankerten Schutz der Gewissens- und Glaubensfreiheit als Folge der scholastischen Ausführungen zur Gewissensentscheidung.
Honnefelders Buch ist nicht nach Art einer systematischen Einführung aufgebaut, sondern besteht letztlich aus einzelnen Essays, die jedoch thematisch aneinander anschließen und zum Teil aufeinander aufbauen. Der Autor greift für die thematischen Kapitel, wie im Quellenverzeichnis dokumentiert, auf verschiedene Vorarbeiten (Vorträge, Aufsätze, Artikel) zurück und legt diese nun in überarbeiteter und erweiterter Form in einem größeren thematischen Zusammenhang vor. Vorteilhaft an dem Konzept des Bandes erscheint, dass die Kapitelfolge von einem Spannungsbogen getragen wird, in dem der Verfasser immer wieder an die Leitfrage („Woher kommen wir?“) anknüpft und diese anhand der eng miteinander verzahnten philosophischen Disziplinen und Themenfelder weiterverfolgt. Trotz aller Bemühungen um Allgemeinverständlichkeit setzt Honnefelder dabei jedoch gerade im Bereich der philosophischen Terminologie bei seinem Publikum einige Vorkenntnisse voraus. Wer eine etwas kleinschrittigere Einführung in das Thema oder aber eine noch einigermaßen leicht verständliche Lektüre erwartet, dürfte von dem Band daher womöglich enttäuscht werden. Hilfreich wäre es eventuell gewesen, dem Band ein Glossar zu zentralen philosophischen Termini hinzuzufügen.
Gleichwohl bietet das Buch gerade auch für philosophische Laien eine äußerst gewinnbringende Lektüre. Mittelalterliche Philosophie wird hier eben nicht im hölzernen Stil eines Lehrwerks abgehandelt, sondern als lebendige Gedankenwelt vorgeführt. Dies gelingt einerseits dadurch, dass mittelalterliche Philosophie als Dialog mit der ihr vorangehenden antiken Philosophie und der nachfolgenden neuzeitlich-modernen Philosophie dargestellt wird und dass als Ausgangspunkt oftmals ‚aktuelle‘ Fragen gewählt werden. Andererseits gelingt dies aber gerade durch die sehr vertiefte Beschäftigung mit der mittelalterlichen philosophischen Diskussion. So werden etwa akribisch die ‚Lösungswege‘ nachverfolgt, die die einzelnen Philosophen für dieselbe Problemlage finden, und aufgezeigt, wie es durch die philosophische Auseinandersetzung dann auch zur Weiterentwicklung und Verschiebung eines Problems kommt.
Wenn Honnefelder seine Vorgehensweise im Vorwort als „Abfolge von Tiefenbohrungen“ beschreibt, so bedient er sich einer Metapher aus dem Bereich der Geologie, welche der von Reinhart Koselleck geprägten Geschichtsmetapher ‚Zeitschichten‘ nahekommt. Laut Koselleck liegt die Leistungsfähigkeit dieser Metapher in der Verräumlichung der sich in der Zeit vollziehenden Bewegungen; wie er in der Einleitung zum gleichnamigen Band festhält, verweisen ‚Zeitschichten‘ „wie ihr geologisches Vorbild, auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft, die dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind.“ Damit bis zu einem gewissen Grad vergleichbar, versucht Honnefelder durch die Metapher der Tiefenbohrung zu veranschaulichen, dass, um ein tiefer gehendes Verständnis der für die europäisch-westliche Moderne grundlegenden Denkweisen, Voraussetzungen und Problemstellungen zu erlangen, diese auf ihre historischen Vorformen und Ursprünge zu befragen sind.
Etwas Unbehagen bereitet das Personalpronomen „wir“, das besonders in Titel und Vorwort, aber auch an anderen Stellen des Werks Verwendung findet. Honnefelder spricht von „unserer kulturellen Identität“ und identifiziert diese mit der „europäisch-westlichen Moderne“. Betrachtet man das „wir“ als rezeptionslenkende Leerstelle – denn die Leserschaft soll sich wohl mit diesem „wir“ identifizieren –, so wirkt dies implizit (und sicherlich ungewollt) exkludierend, denn eine nicht-westliche Leserschaft wäre dann in dieses „wir“ nicht eingebunden. Jedoch spielen, worauf Honnefelder auch an verschiedenen Stellen eingeht, gerade auch die „Vorarbeiten der Autoren aus dem islamischen und jüdischen Bereich“, wie etwa die Aristoteles-Kommentare eines Avicenna und Averroes, für die scholastische Aristoteles-Rezeption bekanntermaßen eine bedeutende Rolle. Die etwas plakativ gestellte Frage „Woher kommen wir?“ verstellt zudem den Blick auf die Alterität, die ‚Andersheit‘, des Mittelalters; Honnefelder betont nämlich, dass die von ihm erörterten Beziehungen zwischen mittelalterlichem und modernem Denken nicht „auf eine Konstruktion von Kontinuitäten“ hinauslaufe und mit Ursprüngen der Moderne nicht gemeint sei, dass bestimmte mittelalterliche Autoren ‚modern‘ gedacht hätten. Der besondere Reiz des Buches besteht denn auch gerade darin, dass es Honnefelder gelingt, die Modernität und Aktualität mittelalterlicher philosophisch-theologischer Problemstellungen sichtbar zu machen und dabei gleichzeitig die Alterität und die Besonderheiten des mittelalterlichen Denkens deutlich herauszuarbeiten.
Nachträgliche Anmerkungen der Rezensentin: Leider handelt es sich bei dem Werk von Herrn Honnefelder nicht, wie die Verlagswerbung und die Angabe „Erste Auflage“ im Buch es suggerieren und wie ich es naiverweise auch geglaubt habe, um eine Neuerscheinung, sondern um ein bereits 2008 in der Berlin University Press erschienenes Werk. Vielen Dank an Herrn Prof. Dr. Räkel, der in seinem Leserbrief (siehe unten!) auf diese Tatsache aufmerksam gemacht hat! Ein Abgleich mit der 2008 von der WBG veröffentlichten Lizenzausgabe (an die Originalausgabe der Berlin University Press konnte ich leider in der Kürze nicht kommen) hat ergeben, dass es sich bis in den Satzspiegel (Umbruch, Schriftsatz) hinein um einen Reprint der 1. Aufl. von 2008 handelt. Anscheinend hat sich weder der Autor noch der Verlag die Mühe gemacht, den Text wenigstens noch einmal auf Tippfehler durchzugehen. Zwar war bereits die 1. Aufl. 2008 gut lektoriert, Fehler sind jedoch bekanntermaßen im ersten Durchgang kaum ganz vermeidbar. Als Beispiel für einen nicht korrigierten Tippfehler sei S. 304 „dass die Naturrechtslehre der Neuscholastik den (!) 19./20. Jahrhunderts“ genannt. Auch wenn sich an meiner inhaltlichen Einschätzung des Werks durch diese ‚Wiederverwertung‘ nichts ändert, so empfinde ich es doch als starkes Stück, dass Autor und Verlag ein bereits erschienenes Werk wie eine Neuerscheinung behandeln. Es gehört m. E. zum wissenschaftlichen und verlegerischen Ethos, einen Reprint auch als solchen zu kennzeichnen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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