Neue Hinweise auf Goethes Geliebte in seinen Liebesgedichten

Mit einem Nachtrag und einer Aufforderung zum Dialog

Von Wilhelm SolmsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilhelm Solms

Vorbemerkung der Redaktion: Die Veröffentlichung des folgenden Beitrags verweist auf einige in ihrer Peinlichkeit wohl symptomatische Vorgänge in der organisierten Goethe-Forschung. Der Aufsatz ist die geringfügig veränderte Fassung eines Vortrags von Wilhelm Solms, Autor des in unserem Verlag 2014 erschienenen Buches „Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten“, auf der Tagung der „Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar“ am 27. August 2015. Obwohl Ettore Ghibellino, Vorsitzender der Akademie, nach Auskunft von Solms Ende 2016 den Beitrag zur Veröffentlichung in einem Tagungsband erbeten, den Band später einschließlich dieses Vortrags öffentlich angekündigt und auch das Herausgeberteam keinen Einwand geäußert hatte, ist der Band unlängst ohne den Beitrag erschienen (Geheimster Wohnsitz. Anna Amalia und Goethe Forschung. Tagungsband IV. Hg. von Ilse Nagelschmidt, Hubert Speidel, Antje J. Denkena. Weimar: Denkena Verlag 2017).

Auf die Anfrage von Wilhelm Solms nach den Gründen dafür, erhielt er die Antwort, man habe sich „gegen die Aufnahme Ihres Textes in den Tagungsband“ entschieden, „weil Ihr Beitrag eine größere Diskussion erfordert hätte“. Mit Recht fragt Wilhelm Solms nun in einer E-Mail an uns: „Will der ‚Anna Amalia und Goethe Freundeskreis‘ nur Beiträge veröffentlichen, die keine Diskussion erfordern, weil sie Ghibellinos These, dass Goethe ,einer Einzigen’ angehört habe und dass seine Liebeslyrik ‚ab 1775 von seiner verbotenen Liebe zu Anna Amalia‘ spreche, nicht in Zweifel ziehen?“ Es waren wohl vor allem drei Sätze in dem folgenden Beitrag, die dazu geführt haben, dass er von der Veröffentlichung in dem Tagungsband ausgeschlossen wurde. „Diese Sätze“, so erinnert sich Solms, „hatte ich in Weimar wörtlich vorgetragen, worauf das Publikum mit spontanem Beifall reagierte.“ Sie beziehen sich auf Ghibellinos zuerst 2003 und später in mehreren veränderten Auflagen erschienenes Buch „J. W. Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe?“ und lauten:

Ettore Ghibellino hat im Vorwort zur 4. Auflage seines Buchs Autoren und Autorinnen, die er als seine Anhänger betrachtet wie Carl Nedelmann, Hubert Speidel, Gabriele von Trauchburg, Jochanan Trilse-Finkelstein und auch mich gebührend, wenn nicht über Gebühr gelobt und uns wiederholt eine Plattform verschafft. Dagegen hat er Autoren wie Norbert Leithold, Dan Farrelly und Wolfgang Sorge, die seine Theorie aufgegriffen und verändert haben, nicht erwähnt. Auch von den Mitgliedern des „Freundeskreises“, denen Farrelly aufgrund seines Vortrags beim ersten Symposium und seiner englischen Übersetzung von Ghibellinos Buch bekannt sein muss, wurde ich nicht auf seine Untersuchung über Goethes Briefe an Frau von Stein hingewiesen.

Wo „eine größere Diskussion“ erforderlich wäre, wurde versucht, sie zu verhindern. Der zensurähnliche Ausschluss eines Beitrags wie der von Solms von der eigentlich vorgesehenen Veröffentlichung bestätigt die von ihm in diesen Sätzen kritisierten Praktiken. Sein Beitrag in Weimar ist wie dann auch die stark veränderte Neubearbeitung seines Buches über „Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten“ (2017) der Appell zu einem offenen Dialog in der Goethe-Forschung, der „bis heute nicht zustande gekommen ist“. Hinweise auf weitere Peinlichkeiten in dieser Angelegenheit möchten wir unseren Leserinnen und Lesern vorerst ersparen. Aber über inhaltliche Details der Auseinandersetzung gibt der hiermit zum ersten Mal veröffentlichte Aufsatz von Solms genauere Auskünfte.

T.A.

Zuerst der Nachtrag

„Wollen wir an einen Ort, / Nun, wir gehn zusammen“, sagt uns der Dichter des West-östlichen Divans. Was wir gemeinsam anstreben, ist die Aufklärung der „wahren Geschichte der ersten zehn Jahre meines Weimarer Lebens“, die Goethe als „mein eigenstes Geheimnis“ bezeichnet hat. Im März 2012 hatte ich die Goethe Gesellschaft zu einem Dialog aufgerufen, den ihr Präsident im Namen des gesamten Vorstands abgelehnt hatte. Anschließend hatte ich mehreren Goethe-Forschern und -Forscherinnen eine gemeinsame Tagung vorgeschlagen, was diese ebenfalls ablehnten. Dass dieser Dialog bis heute nicht zustande gekommen ist, hat den wissenschaftlichen Ruf aller, die sich daran beteiligen hätten müssen, mich selbst eingeschlossen, beschädigt. Wenn wissenschaftliche Forschung nicht als gemeinsamer Weg zur Erkenntnis, sondern als Mittel der Selbstprofilierung und der Konkurrenz verstanden wird, dann schlägt sich das an ihren Ergebnissen nieder.

Die Goethe-Gesellschaft hat seit dem Erscheinen von Ghibellinos Buch vor zwölf Jahren meines Wissens nichts dazu beigetragen, das Geheimnis von Goethes Liebesbeziehungen aufzudecken. Sie hat stattdessen im Goethe-Jahrbuch Rezensionen veröffentlicht, die nicht das vorliegende Werk beurteilen, sondern die Person des Autors zu diffamieren suchen. So Albert Meiers Rezension der Drittauflage von Ghibellinos Buch und so auch Reiner Wilds 2015 erschienene Rezension meines Buchs über Goethes Liebesgedichte. Es ist kein guter Stil, jemand für eine Rezension auszuwählen, dessen Kommentare von mir kritisiert worden sind und der nur literarische und nicht auch biographische Bezüge wichtig findet.

Die Klassik Stiftung Weimar ist in ihrer Stellungnahme zu Ghibellino auf Goethes Liebesdichtung, die seine Liebe offenbarend verbirgt, nicht eingegangen. In der im Auftrag der Stiftung erschienenen Ausgabe von Goethes Briefen aus den ersten Weimarer Jahren, in der von ihr finanzierten Monographie von Joachim Berger über Anna Amalia, in dem von ihr verbreiteten Buch Brigitte Seemanns über Anna Amalia und in der Ausstellung im Goethe-Haus, die ich 2011 gesehen habe, bleibt das Thema Goethe und Anna Amalia weitgehend ausgeklammert.

Ettore Ghibellino hat im Vorwort zur 4. Auflage seines Buchs Autoren und Autorinnen, die er als seine Anhänger betrachtet wie Carl Nedelmann, Hubert Speidel, Gabriele von Trauchburg, Jochanan Trilse-Finkelstein und auch mich gebührend, wenn nicht über Gebühr gelobt und uns wiederholt eine Plattform verschafft. Dagegen hat er Autoren wie Norbert Leithold, Dan Farrelly und Wolfgang Sorge, die seine Theorie aufgegriffen und verändert haben, nicht erwähnt. Auch von den Mitgliedern des „Freundeskreises“, denen Farrelly aufgrund seines Vortrags beim ersten Symposium und seiner englischen Übersetzung von Ghibellinos Buch bekannt sein muss, wurde ich nicht auf seine Untersuchung über Goethes Briefe an Frau von Stein hingewiesen, deren deutsche Übersetzung jetzt bei LiteraturWissenschaft.de erschienen ist.

Mitte August 2015, als ich den Probedruck der neuen Auflage meines Buchs über Goethes Liebesgedichte bereits in Händen hielt und vorhatte, es am 27. August auf der Tagung „Neue Zugänge zu Goethes Werk“ des Anna Amalia und Goethe Freundeskreises vorzustellen, erhielt ich von Farrelly, der das Tagungsprogramm gelesen hatte, sein bereits 2010 erschienenes Buch Between Myth and Reality. Goethe, Anna Amalia, Charlotte von Stein. Farrelly dürfte darin schlüssig nachgewiesen haben, dass Goethes an „Frau von Stein“ adressierte Briefe aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt tatsächlich an sie gerichtet sind. Sein Haupt-Kriterium sind die Aufenthaltsorte der personae dramatis, die Briefe geschickt oder erhalten haben. Farrelly hat auch glaubhaft gemacht, dass es schon 1776 eine „Liebe zu Dritt“ gegeben hat, was auch Norbert Leithold vertritt. Goethe hat in Weimar offenbar von Anfang an Charlotte von Stein geliebt. Da sie seine Avancen aber zurückwies, scheint er nachgegeben zu haben, als Anna Amalia ihn zu ihrem Favoriten erkor. Farrelly zufolge bestand zwischen Goethe und Charlotte von Herbst 1781 bis zu seiner Italienreise eine „leidenschaftliche Beziehung“ – in mehr als fünfzig Briefen bezeichnet er sie als seine „Einzige“ –, während seine Beziehung zur Herzoginmutter abkühlte und sich in eine „feste Freundschaft“ verwandelte. Farrelly stützt sich dabei neben Goethes Briefen an Frau von Stein auch auf die Briefe der Gräfin Görtz und der Gräfin Giannini, die er im Graf Rechberg’schen Archiv in Donzdorf studiert hat, sowie auf die mysteriösen Pluszeichen und Hexagramme in Goethes Tagebüchern, für die die Klassik Stiftung Weimar bisher keine Erklärung hat.

Ist dieses Ergebnis für die, die bisher überwiegend oder ausschließlich die Anna Amalia-These vertreten haben, niederschmetternd oder ermutigend? Wer wissenschaftliche Forschung als Weg zur Erkenntnis begreift, wird sich freuen, dass wir der Aufklärung über die „wahre Geschichte“ dieser Epoche wieder ein Stück näher gekommen sind. Ghibellino bleibt das Verdienst, dass er als erster die retuschierten Portraits von Anna Amalia sowie von Charlotte und vor allem von Goethe in Frage gestellt hat. Und Hubert Speidel hat durch seine Widerlegung von Kurt Eisslers These eines psychopathischen Defekts, der Goethe zur Enthaltsamkeit gezwungen hätte, den Weg frei gemacht, um nachzuforschen, ob Goethe zu Anna Amalia, aber auch, ob er zu Charlotte eine sexuelle Beziehung gehabt hat und ob er damals auch anderen Frauen, die er im Tagebuch als „Misels“ bezeichnet, nahegekommen ist wie Fiekchen von Kalb, Amalie von Kotzebue und Louise Waldner, deren Namen er im Tagebuch vom 9. Februar 1777 gleich zweimal bekreuzigt hat.

Und wie soll ich reagieren, nachdem große Teile meiner Arbeit durch Farrellys Ergebnisse in Frage gestellt oder widerlegt worden sind? Soll ich mich verstecken und die neue Auflage meines Buchs zurückziehen? Ich muss den Fehler eingestehen, dass ich Goethes Liebesgedichte nicht ohne Vorsatz betrachtet habe, wie ich selbst gefordert hatte, sondern, vermutlich in Reaktion auf die Ablehnung durch die Goethe-Gesellschaft, unbedingt zeigen wollte, dass sie Goethes „geheime Liebe“ zu Anna Amalia offenbaren würden. Ich kann aber auch auf einige neue Ergebnisse verweisen, die die Goetheforschung vielleicht beleben werden.

1. Doppelliebe

In dem Gedicht Rastlose Liebe ist die zweite Strophe bisher auf die gegenseitige Liebe eines Paars bezogen worden:

Lieber durch Leiden
Möcht‘ ich mich schlagen
Als soviel Freuden
Des Lebens ertragen.
Alle das Neigen
Von Herzen zu Herzen,
Ach wie so eigen
Schaffet das Schmerzen!

Warum möchte der Dichter lieber Leiden ertragen als so viele Freuden? Die Zuneigung zu einer Person, die erwidert wird, schafft an sich, ohne widrige Umstände, keine Schmerzen. Hätte der Dichter eine Beziehung gemeint, hätte er vermutlich den Singular verwendet: „All das Neigen von Herz zu Herz“ oder „vom Herzen zum Herzen“. Dies würde ebenfalls dem Rhythmus und dem Reim entsprechen, wäre grammatisch korrekt und semantisch eindeutig. Indem der Dichter die Pluralformen „Alle“ und „Herzen“ verwendet, gehorcht er nicht nur dem Zwang des Metrums und des Reims, sondern vernebelt zugleich seine Aussage. Bezieht man auch die mittlere Strophe auf das in der Schlussstrophe genannte „ich“, so erkennt man, dass seine Zuneigung gemeint ist, die nicht bei einem Herzen Rast und Ruhe findet, sondern „Von Herzen zu Herzen“ wechselt. Und dieses Hin- und Hergerissensein erzeugt naturgemäß Schmerzen. Goethe dürfte in diesem Gedicht seine Nerven kostende Doppelbeziehung zu Charlotte und Anna Amalia verarbeitet haben.

Ein weiteres Zeugnis für eine Doppelbeziehung ist das Dramolett Rino von Charlotte von Stein vom Frühjahr 1776. Außer Rino (= Goethe) treten vier Frauen auf, die dem Personenverzeichnis zufolge für die Herzoginmutter Anna Amalia, ihre Hofdame Fräulein von Göchhausen, die schöne Frau von Werthern und Frau von Stein stehen.

In der dritten Szene weist die Herzoginmutter die anderen drei Frauen mit den Worten zurecht:

Heut kommt der Freund zu mir,
Und ich laß ihn weder dir, dir, noch dir.
Will mich ganz allein an ihn laben
Und ihr sollt nur das Zusehn haben.

Charlotte, die Autorin dieses Pasquills, dürfte die Erfahrung gemacht haben, dass Anna Amalia damals auf ihrem Vorrecht auf Goethe bestanden hat.

2. An wen richten sich die „Verse an Lida“

Kopfzerbrechen bereitet das Rätsel, welche Geliebte der Dichter in den „Versen an Lida“ vom Herbst 1781 hinter den Namen „Psyche“ und „Lida“ verbirgt. Ist dieses Rätsel gelöst, so ist Goethes „eigenstes Geheimnis“ ein Stück weit aufgeklärt. Diese Gedichte offenbaren, dass der Verfasser in ihnen nicht „Wünsche“ oder „Träume“, wie in Kommentaren behauptet wird, sondern Selbsterlebtes verarbeitet hat.

In der Handschrift des später An Lida betitelten Gedichts lautet der erste Vers „Den einzigen Lotte welchen du lieben kannst“. Im Erstdruck von 1788 steht statt „Lotte“ der Name „Psyche“. Goethe hat Charlotte von Stein in zwei Briefen „Psyche“ genannt. „Psyche“ heißt aber auch die Geliebte von Amor in dem Märchen von Apuleus, das Anna Amalia damals übersetzt und im Tiefurter Journal veröffentlicht hat. In der handschriftlichen Vorlage für die Schriften von 1789 hat Goethe den Namen „Lotte“ durchgestrichen, durch „Lida“ ersetzt und dem Gedicht den Titel „An Lida“ gegeben. In dem Gedicht Der Becher dankt der Dichter dem Gott Amor, weil dieser ihm „Lida“ verliehen habe. Demzufolge sind beide Namen, Psyche und Lida, Decknamen für Charlotte.

In dem Gedicht Ferne, in dem Lida den Rang einer Fürstin hat, ist ebenso wie in Ungleiche Heirat die Mesalliance oder Missheirat Thema. Eine Heirat mit Anna Amalia wäre ein schwerer Bruch der Standesgesetze gewesen, eine Heirat mit Charlotte dagegen nicht. Deshalb möchte man an Anna Amalia denken.

Goethe hat die Gedichte An Lida, Ferne und Nachtgedanken Charlotte geschickt und Nachtgedanken sowie Der Becher in Anna Amalias Tiefurter Journal veröffentlicht. Er dürfte es darauf angelegt und sich über die Vorstellung gefreut haben, dass beide Frauen diese Liebeserklärungen auf sich beziehen.

3. „Gelegenheitsgedichte“ und „Bruchstücke einer großen Konfession“

Ist es möglich, dass Goethe auch in einigen der vielen um 1800 gedichteten Lieder, bei denen die Kommentatoren die Frage nach einem biographischen Anlass für „unangebracht“ halten, an seine „Einzige“, an Charlotte zurückdenkt, die sich nach seiner Rückkehr aus Italien von ihm getrennt hatte?

Zwei Aussagen von Goethe werden häufig zitiert: „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden“ (Eckermann). Und: „Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession“ (Dichtung und Wahrheit). Dass und wie Gelegenheitsdichtung und Konfession zusammenhängen, will ich an dem folgenden Beispiel zeigen:

Nähe des Geliebten

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
                           Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
                           In Quellen malt.

 Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
                           Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
                           Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
                           Die Welle steigt;
Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen,
                           Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
                           Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
                           O wärst du da!

Die Gelegenheit, durch die Goethe zu diesem Gedicht angeregt wurde, war ein Abend in der ersten Aprilhälfte 1795 bei der Familie Hufeland in Jena, an dem er Zelters Vertonung des Gedichts Ich denke dein von Friederike Brun hörte. Goethe schrieb darüber Friederike Helene Unger, die ihm Kompositionen seiner Gedichte von Zelter geschickt hatte: „Seine Melodie des Liedes: ich denke Dein hatte einen unglaublichen Reiz für mich, und ich konnte nicht unterlassen selbst das Lied dazu zu dichten, das in dem Schillerschen Musenalmanach steht.“ Das durch diese Melodie ausgelöste Bekenntnis „Ich denke dein“, das er der Geliebten in den Mund legt, kam aus seinem Innern.

Sie denkt an den Geliebten beim Schein der Sonne und des Mondes. Sie sieht ihn vor sich am Tag und in der Nacht. Sie hört ihn, wenn die Wellen rauschen und wenn alles schweigt. Durch die dichte Folge der Naturbilder und durch den Rhythmus – den Wechsel zwischen Langversen mit klingendem und Kurzversen mit stumpfem Endreim und den Refrain am Strophenanfang, die Goethe von seiner Vorlage übernommen hat – wird das Bekenntnis ihrer Sehnsucht verstärkt. Sie denkt so intensiv an ihn, dass sie seine Nähe fühlt, und sie wünscht, dass er wirklich da wäre, aber sie weiß, dass er nicht da ist.

Die letzte Strophe könnte ein Nachklang von An Lida sein. Dort leuchtet ihre Gestalt, seit er fern von ihr ist, wie „Ewige Sterne“, und hier sieht sie ihn, obwohl er fern ist, wenn ihr die Sonne strahlt und die Sterne leuchten. Dann hätte die Gelegenheit, der Vortrag des Liedes von Zelter, in ihm die Erinnerung an die einstige Geliebte geweckt. Hinter Lida verbirgt sich aber nicht Anna Amalia, wie auch ich vertreten hatte, sondern Charlotte. Denkt Goethe noch immer an Charlotte, die sechs Jahre vorher die Beziehung zu ihm abgebrochen hatte, oder spürt er, dass auch sie an ihn denkt?

4. Empfang durch die Geliebte im Paradies

Goethe hat die Elegie, den Mittelteil der Trilogie der Leidenschaften, die häufig als Marienbader Elegie bezeichnet wird, nicht in Marienbad, sondern erst auf der Rückreise von Karlsbad nach Thüringen gedichtet. Er sagte über sie zu Eckermann: „Sie sehen hier das Produkt eines leidenschaftlichen Zustands.“ Von diesen Worten hat sich die Forschung lange Zeit leiten lassen und das Gedicht als Bekenntnis von Goethes „letzter Liebe“ zu der jungen Ulrike von Levetzow gedeutet, von der Martin Walsers Roman Ein liebender Mann erzählt. Wenn der Dichter in der ersten Strophe festhält: „Sie tritt ans Himmels Tor / Und hebt zu ihren Armen dich empor“, dann weilt seine Geliebte nicht mehr unter den Lebenden. Diese Verse zeigen vielmehr seine Hoffnung, dass er die Geliebte im Jenseits wiedersehen werde, die jedoch im Verlauf des Gedichts in Verzweiflung umschlägt. Goethe könnte hier an die bereits vor 16 Jahren gestorbene Herzogin Anna Amalia gedacht haben, deren Bild in seiner Erinnerung allmählich verblasste.

Den Empfang an des Himmels Tor hat Goethe bereits vorher, in den im Frühjahr 1820 verfassten neuen Gedichten zum Buch des Paradieses im West-östlichen Divan, geschildert. Hier begegnet ihm eine Huri, eine Bewohnerin des muslimischen Paradieses. Hat er hinter dieser Figur wiederum eine irdische Geliebte versteckt?

Im Gedicht Anklang sagt ihm die Huri, dass die Töne seiner Lieder an Suleika bis zum Himmel geklungen hätten. Darauf antwortet der Dichter: „Ewig Geliebte! Wie zart / Erinnerst du dich deines Trauten!“ Und da sie sich an ihn erinnert, vermutet er: „Du hast einmal Suleika geheißen“, was die Huri mit den Worten „Wir steigen nie zu euch hernieder“ verneint. Während die muslimischen Gläubigen wollen, dass die Huris ihren irdischen Geliebten gleichen, freut sich diese Huri, dass sie dem Dichter „paradiesisch“ vorkommt, dass er sie als „Himmels-Wesen“ liebt, ob sie nun Suleika war oder nicht.

In Wirklichkeit, in Goethes Leben, hatte Marianne von Willemer im Herbst 1815 hinter der Figur der Suleika gestanden oder hatte zumindest die Suleika gespielt und sein erstes Lied an Suleika sogar „mit gleichem Wort und Klang“ erwidert. Die Huri gleicht zwar Suleika, aber sie ist mit ihr nicht identisch. Eher schon könnte Goethe hinter der Figur der Huri Anna Amalia versteckt haben, wie Carl Edelmann vermutet. Die Erklärung ewiger und vollkommener Liebe in den Paradies-Dialogen lässt aber auch an Goethes unzählige Liebesbeteuerungen in seinen Briefen an Charlotte denken. Die Huri mag den Dichter und seine Leser an irdische Wesen erinnern. Sie ist aber seit je ein Himmelswesen.

6. Goethes Hochschätzung der Ehe

Das „Geheimnis“ von Goethes Leben umfasst seine Liaison mit der verwitweten Herzogin Anna Amalia und seine Liebesbeziehung zu der verheirateten Charlotte von Stein. Warum hat er beides geheim gehalten?

Goethe hat die Institution der Ehe zeitlebens hochgeschätzt. Er hat schon mit 14 Jahren seine erste Liebe, das Frankfurter Gretchen, durch die „Schilderung von einer Gattin, wie ich sie wünschte“, beeindruckt. Er hat im Dezember 1767, im Alter von 17 in Leipzig über die eheliche Treue Verse gedichtet:

Laß nur für Eine dich entzünden,
Und ist ihr Herz von Liebe voll,
So laß die Zärtlichkeit dich binden,
Wenn dich die Pflicht nicht binden soll.

Er hat 1772 Friederike Brion höchstwahrscheinlich die Ehe versprochen und sich 1775 offiziell mit Lili Schönemann verlobt.

Er hat sich in Weimar auf eine Beziehung zu Anna Amalia eingelassen, obwohl diese den Standesgesetzen nicht entsprach, zu denen er sich in Werthers Leiden und in Wilhelm Meisters Lehrjahre zwar kritisch geäußert hat, die er aber als Weimarer Staatsminister befolgen musste. Als der Dichter im Wilhelm Meister den Satz schrieb: „so wechselte die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke über die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes hinüber“, hatte er vielleicht seine erste Begegnung mit Anna Amalia vor Augen. Goethe ging bald darauf mit Charlotte eine eheähnliche Beziehung ein, die von ihrem Ehemann Josias offenbar geduldet wurde. Beide Beziehungen sind Missverhältnisse, die er deshalb geheim halten musste.

Schließlich führte er mit Christiane Vulpius eine Ehe ohne Trauschein, die seiner Vorstellung von Ehe aber nicht entsprach. Anfang 1802 traf sich in seinem Haus das Mittwochskränzchen „cour d’ amour“, zu dem Christiane, die Hausfrau, nicht zugelassen war. Damals verfasste er das Gedicht Die glücklichen Gatten, in dem er die Ehe und die Familie preist, dabei aber weder seine Beziehung zu Christiane noch seine früheren Beziehungen zu Anna Amalia und Charlotte schildert. Das in diesem Gedicht gepriesene Eheglück blieb ihm versagt.

Damit sind die Geheimnisse in Goethes Liebesgedichten und seinen anderen Werken noch längst nicht geklärt. Deshalb heißt die Schlussfolgerung: Gemeinsam weiterforschen!